Geistreiche Polemik
Seiner Nachwelt ist der adelige Politiker und Militär François de La Rochefoucauld vor allem als Autor der «Maximen und Reflexionen» bekannt, ein Buch, das heutzutage - noch vor seinen viel beachteten Memoiren - als sein Hauptwerk gilt. Er war ein prominenter Vertreter der
französischen Moralisten, zu denen unter anderen auch de Montaigne und Pascal zählen, deren…mehrGeistreiche Polemik
Seiner Nachwelt ist der adelige Politiker und Militär François de La Rochefoucauld vor allem als Autor der «Maximen und Reflexionen» bekannt, ein Buch, das heutzutage - noch vor seinen viel beachteten Memoiren - als sein Hauptwerk gilt. Er war ein prominenter Vertreter der französischen Moralisten, zu denen unter anderen auch de Montaigne und Pascal zählen, deren literarisches Wirken später dann auch Lichtenberg, Nietzsche, Goethe und Andere beeinflusste. Der erstmals 1664 unautorisiert in Holland erschienenen Textsammlung war ein rascher Erfolg beschieden, Voltaire schrieb dazu: «Man liest die Memoiren des Herzogs von La Rochefoucauld, und man weiß seine Maximen auswendig». Es folgten mehrere jeweils ergänzte Auflagen, die fünfte und letzte zu Lebzeiten des Autors war 1678 auf 504 Aphorismen angewachsen, sie liegt der deutschen Übersetzung des vorliegenden Reclam-Bands zugrunde, ergänzt um ein informatives Nachwort. Können Moralvorstellungen aus jener Zeit uns Heutigen noch etwas sagen, lohnt sich die Lektüre auch mehr als dreihundert Jahre später noch?
Aber sicher doch! Die Natur des Menschen, die Triebfedern seines Handelns, seine typischen Verhaltensweisen haben sich seither nämlich kaum verändert. Das merkt man schon beim Lesen von einigen wenigen dieser klugen Sentenzen, die Beweggründe menschlichen Handelns scheinen immanent zu sein. Wobei La Rochefoucauld seine lehrreichen Aphorismen mit feiner Ironie würzt, die sich oft bis ins Sarkastische steigert. Immer aber ist auch feiner Humor im Spiel bei seinen pointiert auf allzu menschliche Schwächen zielenden Sinnsprüchen. Deren Stimmung jedoch eher pessimistisch ist, aus seiner rigiden Zustandsanalyse ergeben sich jedenfalls keinerlei optimistisch stimmende Perspektiven. Moral ist demzufolge ein anzustrebendes, aber kaum je realisierbares Handlungsgerüst für eine allzu leicht verführbare Menschheit. Natürlich schimmert zuweilen der Einfluss der christlichen Lehre von der Erbsünde in diesen Texten durch. Prompt hat sich der Autor denn auch gegen aufkommende Anfeindungen gewehrt, indem er im Vorwort einer frühen Ausgabe klarstellte, «dass sein Buch nichts anderes enthalte als den Abriss einer Moral, die mit den Gedanken mehrere Kirchenväter übereinstimmt». Eine Schutzbehauptung, denn La Rochefoucaulds Sinnsprüche sind allesamt dezidiert innerweltlich, hier geht es um handfest Menschliches, nicht um idealisiert Metaphysisches, das den kirchlichen Dogmen verpflichtet wäre.
«Die Philosophie triumphiert leicht über vergangene und zukünftige Übel, aber gegenwärtige triumphieren über sie». Die 504 Aphorismen des Büchleins sind so weit es möglich ist thematisch zusammen gefasst, da ist die Rede von Eigenliebe, Leidenschaft, Liebe, Eifersucht, Hochmut, Stolz, Glück, Geltungsdrang, Lüge, Wahrheit, Freundschaft, Ehrgeiz, Verrat, Betrug und vieles mehr. Man kann dem Autor bei den philosophischen Exkursen seinen polemischen Duktus vorwerfen, so wenn er zum Beispiel schreibt: «Es gibt gute Ehen, aber keine wundervollen». Oder, ebenso skeptisch: «Oft tut man Gutes, um ungestraft Böses tun zu können». Zur Klugheit: «Der Wunsch, klug zu erscheinen, hindert uns oft, es zu werde». Und mehr: «Es beweist große Klugheit, seine Klugheit zu verbergen».
Mit einer Fülle trefflicher Sentenzen und tiefsinniger Reflexionen gehört dieses kleine Buch zum Kanon berühmter Sammlungen von Aphorismen, es hat, das sei hier wiederholt, auch dem heutigen Leser viel zu sagen. Brillant formuliert sind diese Sinnsprüche allerdings leider nicht, was am zeitlichen Abstand zur Entstehungszeit liegen mag oder an einer wenig eleganten Übersetzung. Den Gehalt des Gesagten beeinträchtigt dieses sprachliche Manko natürlich nicht. Man wird sich unwillkürlich das eine oder andere Zitat zu Eigen machen beim Lesen, und dieser literarische Fundus wächst dann stetig, wenn man wie ich seinen La Rochefoucauld als praktisches Reclam-Bändchen stets dabei hat - und zum Beispiel irgendwo warten muss.