Die neunzehnjährige Maya ist auf der Flucht. Vor ihrem trostlosen Leben in Las Vegas, der Prostitution, den Drogen, der Polizei, einer brutalen Verbrecherbande. Mit Hilfe ihrer geliebten Großmutter gelangt sie auf eine abgelegene Insel im Süden Chiles. An diesem einfachen Ort mit seinen bodenständigen Bewohnern nimmt sie Quartier bei Manuel, einem kauzigen alten Anthropologen und Freund der Familie. Nach und nach kommt sie Manuel und den verstörenden Geheimnissen ihrer Familie auf die Spur, die mit der jüngeren Geschichte des Landes eng verbunden sind. Dabei begibt Maya sich auf ihr bislang größtes Abenteuer: die Entdeckung ihrer eigenen Seele. Doch als plötzlich Gestalten aus ihrem früheren Leben auftauchen, gerät alles ins Wanken. »Mayas Tagebuch« erzählt von einer gezeichneten jungen Frau, die die unermesslichen Schönheiten des Lebens neu entdeckt und wieder zu verlieren droht. Ein unverwechselbarer Allende-Roman: bewegend, spannend und mit warmherzigem Humor geschrieben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2012Angst vor Flecken in Las Vegas
Vom magischen zum schmutzigen Realismus: Zu ihrem siebzigsten Geburtstag schlüpft Isabel Allende in die literarische Rolle der jugendlichen Ausreißerin.
Als Isabel Allende 1982 ihren ersten Roman "Das Geisterhaus" veröffentlichte, wurde die chilenische Exiljournalistin mit einem Schlag als Erzählerin weltberühmt. Das autobiographisch geprägte Werk, ursprünglich als Brief am Sterbebett ihres Großvaters begonnen, faszinierte Leser in mehr als zwanzig Sprachen durch seine sprichwörtliche lateinamerikanische Erzählfreude. Für ihr Einweben phantastischer Elemente kürte man Allende zur Königin des damals so beliebten "magischen Realismus". Doch der oft angeführte Vergleich mit Gabriel García Márquez brachte der Autorin nicht nur Ruhm ein. Gerade in Lateinamerika wurde sie vielmehr als Epigonin geschmäht. Roberto Bolaño sollte von ihr sagen, sie sei "keine Schriftstellerin, sondern eine Schreibstellerin" - und zwar "ohne jegliche Scham vor dem Plagiat".
Dergleichen naserümpfende Kritik tat ihrem Schaffen eines umfassenden Romanoeuvres keinerlei Abbruch. Weniger noch ihrem Erfolg bei der Leserschaft. Wenn nun pünktlich zum heutigen siebzigsten Geburtstag Isabel Allendes jüngster Roman "Mayas Tagebuch" in deutscher Sprache erscheint, erweisen sich dergleichen Polemiken auf den ersten Blick als überholt. Kein mythisches Macondo, sondern eine fiebrige nordamerikanische Großstadtrealität prägt den Puls des Buches. Obgleich seine Ich-Erzählerin Maya Vidal die Enkelin einer chilenischen Exilantin ist, die, wie die Autorin einst, auf der Flucht vor Pinochet das Land verließ, nimmt die Handlung ihren Ausgang in Kalifornien, der Wahlheimat Isabel Allendes. In einer kunterbunten Villa in Berkeley wird die praktisch elternlose Maya verhätschelt aufgezogen durch ihre chilenische Großmutter, von der Erzählerin stets mit den Kosenamen "meine Nini" benannt, und ihren "Pop", einen afroamerikanischen Astrophysiker, Ninis Mann in zweiter Ehe.
Als der geliebte "Pop" unerwartet stirbt, bricht für die Teenagerin die fragile heile Welt der Kindheit zusammen. Noch auf der Highschool verwickelt sie sich in kriminelle Machenschaften, in Alkohol- und Drogenexzesse, kommt durch einen Unfall im Vollrausch fast ums Leben, wird durch richterliche Verfügung in ein Resozialisierungsinternat in den Wäldern Oregons eingewiesen. Von dort gelingt ihr die Flucht. Auf dem Heimweg bleibt sie in Las Vegas hängen. Als Nobel-Drogenkurierin erlebt sie einen kurzen Aufstieg in der Welt der Dealer und Fixer und landet schließlich selbst als Crack- und Heroinjunkie in der Gosse. Bei alledem wird sie unwissende Komplizin eines Falschgeldrings. So gerät Maya gleichzeitig auf die Fahndungslisten des FBI wie ins Visier der Unterweltkiller.
Von magischem Realismus kann hier offenkundig kaum die Rede sein. Eher von schmutzigem Realismus. Erkennbar sind Anleihen bei der Las-Vegas-Drogenprosa Hunter S. Thompsons und dem grausamen Verismus eines Cormac McCarthy, und die finstersten Figuren des Romans scheinen ausgerechnet dem Kosmos von Allendes harschestem Kritiker Bolaño entsprungen zu sein. Etwa der Fernfahrer Roy Fedgewick, ein evangelikaler Fanatiker, dessen wenig bibelfestes Hobby darin besteht, Ausreißerinnen wie Maya mit Waffengewalt zu entführen und dann als "Bezahlung" für die Mitfahrgelegenheit nach ein paar Nasen Koks zu vergewaltigen.
Doch ein bloßer Wechsel des Paradigmas vertreibt nicht den Beigeschmack versatzstückhafter Imitation - und die geschieht ohne Collagebewusstsein oder die provokative Genre-Piraterie eines Boris Vian. Zudem fasst Allende Angst und Schrecken in Las Vegas quasi mit spitzen Fingern an, trotz aller bemühten Drastik. Der menschenverschlingende Sündenpfuhl, zusammengeklaubt aus diversen Las-Vegas-Klischees, wirkt wie eine Studiokulisse, die vor allem eine Aufgabe zu erfüllen hat: einen schwindelerregenden Blick in den Abgrund zu gewähren, ohne sich und den Leser damit allzu sehr zu beschmutzen. Angst vor Flecken in Las Vegas, stets ist klar, dass die fehlgeleitete Sünderin daraus gerettet werden soll - durch die protestantische Frauen-Power des Bibelkreises "Witwen für Jesus", die Maya aus dem verdorbenen amerikanischen Moloch der unverdorbenen Natur Chiles zuführen sollen. Denn darin besteht die Grundverabredung des Buches: Wie der Titel schon besagt, handelt es sich um ein fiktives Tagebuch, das die Heldin als Therapiemaßnahme auf der Flucht vor Verfolgern aller Couleur auf der regnerischen Insel Chiloé schreibt.
Dort taucht Maya bei Manuel unter, einem alten Freund ihrer Nini und ihres verstorbenen ersten Mannes. Zurück zu den Wurzeln ihrer Familie; hin zu einer urwüchsigen Kultur und ihrer bis heute intakten heidnischen Mythologie. Diese Konfrontation zweier konträrer Szenarien gibt den Rhythmus des Romans vor. Naturmagie und versteckte Alltagsdramen der Inselbevölkerung treten in Kontrast zu Drogenleichen und Entzugskliniken, und wenn Maya in Vollmondnächten bei einem "Hexensabbat" zu Ehren der andinen Erdgöttin Pachamama gemeinsam mit anderen nackten Frauen aller Altersklassen ihr spirituelles Erweckungserlebnis feiert, ist es plötzlich gar nicht mehr so weit zu Telekinese und prophetischen Vorahnungen aus Allendes erstem Roman. "Das Haus schloss sich wie in einer Umarmung um uns und die Tiere", schreibt Maya erlöst in ihr Tagebuch.
Woran die Konfrontation von Großstadtdschungel und vormoderner Welt allerdings krankt, ist nicht nur die Kitschgefahr, sondern vor allem die Konstruiertheit: das routinierte Kalkül, mit dem beide Szenarien zu einer Parallelmontage verstrickt werden. Kaum glaubhaft wird je das Spiel mit der Illusion, hier handele es sich um spontane Tagebuchnotizen einer Neunzehnjährigen, zumal wohl keine Autorin dieses Alters einen ähnlich professionellen Blick auf ihre Zielgruppe besitzt. Zum Verständnis einer nichtchilenischen Leserschaft werden kleine Exkurse über Kultur, Politik, Volkscharakter sowie den Militärputsch von 1973 eingestreut. Und dass ausgerechnet eine Jugendliche ihrem Tagebuch erklären muss, was Facebook ist - "von den sozialen Netzwerken das angesagteste" -, macht klar, dass Mayas eigene Altersstufe kaum die angestrebte Käuferschaft bildet.
Wenn dem Roman auf halber Strecke schließlich eine Liebesgeschichte aufgezwungen wird, verliert er sich in den Untiefen des Arztromans. "Wo soll ich hin mit so viel Glück? Mir läuft das Herz über!", seufzt Maya berückt. "Mein Magen krampft sich erschrocken zusammen", "in meinem Kopf schwirrt es wie Kolibris". Doch Teenagerliebe ist nicht nur abgedroschen, sondern auch reaktionär. An der Brust ihres Liebhabers Daniel erkennt Maya: "Man kann sich in der Weite der Schultern verlieren, die so gut dafür geeignet sind, Lasten und Kummer zu tragen, und in den harten Muskel der Arme, die die Welt halten sollen." Der Mann trägt als Atlas die Welt, die Frau sülzt sie mit Schnulzenprosa voll: Dass dies Geschlechterbild so undistanziert - Rollenspiel hin oder her - von der einstigen Begründerin der ersten feministischen Zeitschrift Chiles in die Welt gesetzt wird, ist eine kuriose Ironie.
Allerdings ist sie symptomatisch für die biedere Ideologie von "Mayas Tagebuch". Selbst wenn darin hundert Jahre alte Chilotinnen heimlich in ihrem Kräutergarten Marihuanabäume anbauen, die Figuren aus idyllisch bisexuellen und bikulturellen Patchworkfamilien stammen, Maya den Pakt des Schweigens über die Verbrechen der Militärdiktatur an ihren Angehörigen bricht, der Roman also angestrengt aufklärerischen Geist unter Beweis zu stellen sucht, verströmt er einen muffig moralinsauren Geruch. Und den vermag auch der reichlich versprühte Veilchenduft nicht zu übertönen.
FLORIAN BORCHMEYER
Isabel Allende: "Mayas Tagebuch". Roman.
Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 447 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom magischen zum schmutzigen Realismus: Zu ihrem siebzigsten Geburtstag schlüpft Isabel Allende in die literarische Rolle der jugendlichen Ausreißerin.
Als Isabel Allende 1982 ihren ersten Roman "Das Geisterhaus" veröffentlichte, wurde die chilenische Exiljournalistin mit einem Schlag als Erzählerin weltberühmt. Das autobiographisch geprägte Werk, ursprünglich als Brief am Sterbebett ihres Großvaters begonnen, faszinierte Leser in mehr als zwanzig Sprachen durch seine sprichwörtliche lateinamerikanische Erzählfreude. Für ihr Einweben phantastischer Elemente kürte man Allende zur Königin des damals so beliebten "magischen Realismus". Doch der oft angeführte Vergleich mit Gabriel García Márquez brachte der Autorin nicht nur Ruhm ein. Gerade in Lateinamerika wurde sie vielmehr als Epigonin geschmäht. Roberto Bolaño sollte von ihr sagen, sie sei "keine Schriftstellerin, sondern eine Schreibstellerin" - und zwar "ohne jegliche Scham vor dem Plagiat".
Dergleichen naserümpfende Kritik tat ihrem Schaffen eines umfassenden Romanoeuvres keinerlei Abbruch. Weniger noch ihrem Erfolg bei der Leserschaft. Wenn nun pünktlich zum heutigen siebzigsten Geburtstag Isabel Allendes jüngster Roman "Mayas Tagebuch" in deutscher Sprache erscheint, erweisen sich dergleichen Polemiken auf den ersten Blick als überholt. Kein mythisches Macondo, sondern eine fiebrige nordamerikanische Großstadtrealität prägt den Puls des Buches. Obgleich seine Ich-Erzählerin Maya Vidal die Enkelin einer chilenischen Exilantin ist, die, wie die Autorin einst, auf der Flucht vor Pinochet das Land verließ, nimmt die Handlung ihren Ausgang in Kalifornien, der Wahlheimat Isabel Allendes. In einer kunterbunten Villa in Berkeley wird die praktisch elternlose Maya verhätschelt aufgezogen durch ihre chilenische Großmutter, von der Erzählerin stets mit den Kosenamen "meine Nini" benannt, und ihren "Pop", einen afroamerikanischen Astrophysiker, Ninis Mann in zweiter Ehe.
Als der geliebte "Pop" unerwartet stirbt, bricht für die Teenagerin die fragile heile Welt der Kindheit zusammen. Noch auf der Highschool verwickelt sie sich in kriminelle Machenschaften, in Alkohol- und Drogenexzesse, kommt durch einen Unfall im Vollrausch fast ums Leben, wird durch richterliche Verfügung in ein Resozialisierungsinternat in den Wäldern Oregons eingewiesen. Von dort gelingt ihr die Flucht. Auf dem Heimweg bleibt sie in Las Vegas hängen. Als Nobel-Drogenkurierin erlebt sie einen kurzen Aufstieg in der Welt der Dealer und Fixer und landet schließlich selbst als Crack- und Heroinjunkie in der Gosse. Bei alledem wird sie unwissende Komplizin eines Falschgeldrings. So gerät Maya gleichzeitig auf die Fahndungslisten des FBI wie ins Visier der Unterweltkiller.
Von magischem Realismus kann hier offenkundig kaum die Rede sein. Eher von schmutzigem Realismus. Erkennbar sind Anleihen bei der Las-Vegas-Drogenprosa Hunter S. Thompsons und dem grausamen Verismus eines Cormac McCarthy, und die finstersten Figuren des Romans scheinen ausgerechnet dem Kosmos von Allendes harschestem Kritiker Bolaño entsprungen zu sein. Etwa der Fernfahrer Roy Fedgewick, ein evangelikaler Fanatiker, dessen wenig bibelfestes Hobby darin besteht, Ausreißerinnen wie Maya mit Waffengewalt zu entführen und dann als "Bezahlung" für die Mitfahrgelegenheit nach ein paar Nasen Koks zu vergewaltigen.
Doch ein bloßer Wechsel des Paradigmas vertreibt nicht den Beigeschmack versatzstückhafter Imitation - und die geschieht ohne Collagebewusstsein oder die provokative Genre-Piraterie eines Boris Vian. Zudem fasst Allende Angst und Schrecken in Las Vegas quasi mit spitzen Fingern an, trotz aller bemühten Drastik. Der menschenverschlingende Sündenpfuhl, zusammengeklaubt aus diversen Las-Vegas-Klischees, wirkt wie eine Studiokulisse, die vor allem eine Aufgabe zu erfüllen hat: einen schwindelerregenden Blick in den Abgrund zu gewähren, ohne sich und den Leser damit allzu sehr zu beschmutzen. Angst vor Flecken in Las Vegas, stets ist klar, dass die fehlgeleitete Sünderin daraus gerettet werden soll - durch die protestantische Frauen-Power des Bibelkreises "Witwen für Jesus", die Maya aus dem verdorbenen amerikanischen Moloch der unverdorbenen Natur Chiles zuführen sollen. Denn darin besteht die Grundverabredung des Buches: Wie der Titel schon besagt, handelt es sich um ein fiktives Tagebuch, das die Heldin als Therapiemaßnahme auf der Flucht vor Verfolgern aller Couleur auf der regnerischen Insel Chiloé schreibt.
Dort taucht Maya bei Manuel unter, einem alten Freund ihrer Nini und ihres verstorbenen ersten Mannes. Zurück zu den Wurzeln ihrer Familie; hin zu einer urwüchsigen Kultur und ihrer bis heute intakten heidnischen Mythologie. Diese Konfrontation zweier konträrer Szenarien gibt den Rhythmus des Romans vor. Naturmagie und versteckte Alltagsdramen der Inselbevölkerung treten in Kontrast zu Drogenleichen und Entzugskliniken, und wenn Maya in Vollmondnächten bei einem "Hexensabbat" zu Ehren der andinen Erdgöttin Pachamama gemeinsam mit anderen nackten Frauen aller Altersklassen ihr spirituelles Erweckungserlebnis feiert, ist es plötzlich gar nicht mehr so weit zu Telekinese und prophetischen Vorahnungen aus Allendes erstem Roman. "Das Haus schloss sich wie in einer Umarmung um uns und die Tiere", schreibt Maya erlöst in ihr Tagebuch.
Woran die Konfrontation von Großstadtdschungel und vormoderner Welt allerdings krankt, ist nicht nur die Kitschgefahr, sondern vor allem die Konstruiertheit: das routinierte Kalkül, mit dem beide Szenarien zu einer Parallelmontage verstrickt werden. Kaum glaubhaft wird je das Spiel mit der Illusion, hier handele es sich um spontane Tagebuchnotizen einer Neunzehnjährigen, zumal wohl keine Autorin dieses Alters einen ähnlich professionellen Blick auf ihre Zielgruppe besitzt. Zum Verständnis einer nichtchilenischen Leserschaft werden kleine Exkurse über Kultur, Politik, Volkscharakter sowie den Militärputsch von 1973 eingestreut. Und dass ausgerechnet eine Jugendliche ihrem Tagebuch erklären muss, was Facebook ist - "von den sozialen Netzwerken das angesagteste" -, macht klar, dass Mayas eigene Altersstufe kaum die angestrebte Käuferschaft bildet.
Wenn dem Roman auf halber Strecke schließlich eine Liebesgeschichte aufgezwungen wird, verliert er sich in den Untiefen des Arztromans. "Wo soll ich hin mit so viel Glück? Mir läuft das Herz über!", seufzt Maya berückt. "Mein Magen krampft sich erschrocken zusammen", "in meinem Kopf schwirrt es wie Kolibris". Doch Teenagerliebe ist nicht nur abgedroschen, sondern auch reaktionär. An der Brust ihres Liebhabers Daniel erkennt Maya: "Man kann sich in der Weite der Schultern verlieren, die so gut dafür geeignet sind, Lasten und Kummer zu tragen, und in den harten Muskel der Arme, die die Welt halten sollen." Der Mann trägt als Atlas die Welt, die Frau sülzt sie mit Schnulzenprosa voll: Dass dies Geschlechterbild so undistanziert - Rollenspiel hin oder her - von der einstigen Begründerin der ersten feministischen Zeitschrift Chiles in die Welt gesetzt wird, ist eine kuriose Ironie.
Allerdings ist sie symptomatisch für die biedere Ideologie von "Mayas Tagebuch". Selbst wenn darin hundert Jahre alte Chilotinnen heimlich in ihrem Kräutergarten Marihuanabäume anbauen, die Figuren aus idyllisch bisexuellen und bikulturellen Patchworkfamilien stammen, Maya den Pakt des Schweigens über die Verbrechen der Militärdiktatur an ihren Angehörigen bricht, der Roman also angestrengt aufklärerischen Geist unter Beweis zu stellen sucht, verströmt er einen muffig moralinsauren Geruch. Und den vermag auch der reichlich versprühte Veilchenduft nicht zu übertönen.
FLORIAN BORCHMEYER
Isabel Allende: "Mayas Tagebuch". Roman.
Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 447 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Suhrkamp Verlag versuche wohl, die "idealtypische Allende-Leserin" nicht zu verschecken, erklärt sich Ralph Hammerthaler die Aufmachung von Isabel Allendes neuem Roman "Mayas Tagebuch" und macht sich über die "Gefühle mit Ausrufezeichen" auf dem Cover lustig. In dem Buch schlüpfe Allende in die Rolle einer Neunzehnjährigen, die schon auf der Highschool in Berkeley in die Kriminalität abrutscht: zunächst nur mit leichten Drogen und Alkohol, später indem sie Pädophile ködert und ausraubt. Nach der Flucht aus dem Internat trampt Maya nach Las Vegas - nicht ohne auf dem Weg brutal vergewaltigt zu werden. Der Rezensent beschreibt kurz, wie sie dort als Kurier für ein paar Gangster Karriere macht, aber erneut fliehen muss, diesmal verfolgt von Polizei und FBI. Vermischt werde ihre Laufbahn als Kriminelle mit Sequenzen auf den Inseln Chiloés, wo Maya dank ihrer Großmutter schließlich landet, um auf den rechten Weg zu kommen. Dort schreibe sie dann auch das Tagebuch, gewissermaßen um das Erlebte zu verarbeiten. Hammerthaler bedauert, dass Allende sich nicht von dem von ihr erwarteten magischen Beiwerk lösen möchte und schimpft über den quasi-therapeutischen Diskurs, der plötzlich eingeführt wird, als Maya ihren wahren Großvater trifft und ihm über sein Trauma der Pinochet-Zeit hinweghelfen möchte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.08.2012Flucht aus Las Vegas
Isabel Allende versucht sich in „Mayas Tagebuch“ an einer Detektivgeschichte nach amerikanischem Vorbild. Doch so ganz ohne Magisches geht es auch diesmal nicht ab
Wenige Tage vor seinem Tod 2003 gab Roberto Bolaño dem mexikanischen Playboy ein scharfsinniges Interview. Zum Beispiel wurde er gefragt, ob er, wenn er mit Isabel Allende und Angeles Mastretta ein paar Gläser getrunken hätte, womöglich anderer Meinung über ihre Bücher wäre. Bolaño sagte: „Nein. Erstens, weil es beide Damen vermeiden, mit jemandem wie mir zu trinken. Zweitens, weil ich nicht mehr trinke. Drittens, weil ich mir noch in meinen allerschlimmsten Räuschen einen Rest von Klarheit bewahrt habe, ein Gefühl für Rhythmus und Wortwahl, einen Widerwillen gegen Plagiat, Mittelmäßigkeit, Unvermögen.“
Es wird also nicht leicht, den neuen Roman von Isabel Allende, „Mayas Tagebuch“, vorbehaltlos anzugehen. Egal, ob nüchtern oder im allerschlimmsten Rausch. Es wird auch deshalb nicht leicht, weil der Suhrkamp Verlag in der deutschsprachigen Aufmachung alles Beunruhigende getilgt hat. Im Original heißt der Titel „El cuaderno de Maya“, „Mayas Heft“, genau so übersetzt von Svenja Becker, wenn das Wort im Text fällt. Denn Maya führt kein Tagebuch. Dazu wäre sie, die nervöse, gebeutelte Neunzehnjährige, auch nicht imstande. Grob gliedert sie ihr Heft nach Sommer, Herbst, Winter und Frühling. Und weil sie sich, zurückgezogen und versteckt auf einer kleinen Insel in Chile, auf der südlichen Halbkugel befindet, enthält der Sommer die Monate Januar, Februar, März. Eher schweifend erzählt Maya aus ihrem offenbar unkaputtbaren Leben. Sie springt vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Ein Datum für ihre Einträge gibt es nicht.
Hinzu kommt, dass die deutsche Ausgabe mit einer sagenhaft schönen Frau geschmückt ist, niedergeschlagene Lider, sehr melancholisch. Das spanische Original dagegen, erschienen bei Plaza & Janés in Barcelona, zeigt eine liegende Frau, die sich mit dem Ellbogen aufstützt, das Gesicht eine verstörende Maske. Auch diese Maya ist einem Bestsellerpublikum zumutbar. Zu guter Letzt wirbt Suhrkamp auf dem Einband mit einem Ausruf von El Mundo: „Isabel Allende ist die Königin der Gefühle!“ Danke, das hat gerade noch gefehlt.
Es sieht so aus, als wollte der deutsche Verlag mit der sanften, gefälligen Aufmachung die idealtypisch zu denkende Allende-Leserin nicht verschrecken. Darum Tagebuch, schöne Melancholie und Gefühle mit Ausrufezeichen. Zwar leistet sich Isabel Allende auch in diesem Buch etliche sanfte, gefällige Sätzlein, aber weil sie eine Figur wie Maya erfunden hat, kommt sie damit nicht durch. Mit Blick auf US-Krimis wird ihre Sprache streckenweise rau und kantig, gut zu lesen. Eine Detektivgeschichte, sagt sie im Promo-Video, habe ihr vorgeschwebt. Das wird insofern eingelöst, als Maya sich vom FBI, von Interpol und einer Verbrecherbande aus Las Vegas verfolgt sieht. Nur weiß der Leser immer, wo die Gesuchte, nämlich Maya, steckt. Also eher keine Detektivgeschichte.
Allende schreibt einen Satz, der kein Sätzlein sein will und mehr über ihre Literaturwerkstatt verrät als beabsichtigt: „Glück hat etwas Seifiges, es glitscht einem durch die Finger, an Problemen dagegen kann man sich festklammern, sie sind rau und hart und geben Halt.“
Maya ist ein Problemkind. Obwohl sie behütet und verhätschelt aufwächst in Berkeley bei ihrer flippigen Großmutter, einer Chilenin, rutscht sie nach dem Tod des geliebten Wunschgroßvaters langsam, aber sicher ins Elend. Es fängt an mit leichten Drogen und Alkohol auf der Highschool, es geht weiter mit Lockangeboten für Pädophile, um sie, kaum dass sie angebissen haben, auszurauben, und es endet damit, dass Maya aus dem Internat flieht und, bei einem Zwischenstopp brutal vergewaltigt, nach Las Vegas trampt. Dort gerät sie in die Fänge von Gangstern, die ihr Geld mit Drogen und Dollarblüten machen. Sie dient ihnen als Kurierin.
Die Las-Vegas-Story hebt sich tapfer ab von den teils folkloristisch kolorierten Anekdoten auf den Inseln Chiloés. Für Maya wird es eng, mittlerweile braucht sie harte Drogen. Sie stürzt sich in die miesesten Ecken der Stadt, beklaut eine Obdachlose, die gut zu ihr war, prostituiert sich. Maya verliert ihr Gesicht. Erst mit Hilfe einer Jesus-närrischen Schwarzen, einer „sanften Riesin“, und deren Mann, einem „echten Engel“, entgeht sie der Hölle – einem kriminellen Geflecht, in das sie sich ebenso naiv wie gefügig verstrickt hat. Ihre Großmutter fährt sie im Auto zurück nach Berkeley. Klar ist, dass Maya für eine Weile verschwinden muss. Darum schickt die Großmutter sie zu einem Freund ans Ende der Welt, auf eine kleine, südchilenische Insel.
Großmutters Freund aus vergangenen Tagen heißt Manuel, Anthropologe, ein alter, liebenswerter Kauz. Wie er mit Maya (und sie mit ihm) umgeht, wird feinsinnig und angenehm kitschfrei beschrieben. Aber dann entpuppt sich Manuel, wie um die idealtypisch zu denkende Allende-Leserin zufriedenzustellen, als Mayas wahrer, leiblicher Großvater. Er leidet unter Albträumen, die auf die Zeit nach dem Militärputsch durch Pinochet zurückgehen. Maya will ihn davon befreien. Und so infiziert der therapeutische Diskurs, über den sich Allende gerade noch lustig gemacht hat, jäh den erzählerischen, sodass man aufschreien will wie Manuel vor seinen allerschlimmsten Heimsuchungen. Umständlich wird rekonstruiert, wie der Großvater als junger Mann in einer Villa gefoltert wurde.
Dass es auch anders geht, hat Roberto Bolaño in seinem kurzen Roman „Chilenisches Nachtstück“ vorgemacht. Hier schält sich aus dem lockeren Selbstge-spräch eines Priesters das pure Grauen heraus. In einer Villa, wo eine Schriftstellerin literarische Salons veranstaltet, wüten im Keller Pinochets Folterknechte.
Isabel Allende weiß, welche Erwartungen sie zu bedienen hat. Und so streut sie, wann immer möglich, Magisches ein. Vor allem der verstorbene Wunschgroßvater erscheint ein ums andere Mal seiner umherirrenden Wunschenkelin Maya, er tröstet sie und macht ihr Mut. – Tja, das ist schön.
RALPH HAMMERTHALER
Die gefällige Aufmachung
der deutschen Ausgabe schielt
auf die idealtypische Leserin
Isabel Allende: Mayas
Tagebuch. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja
Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 447 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Isabel Allende versucht sich in „Mayas Tagebuch“ an einer Detektivgeschichte nach amerikanischem Vorbild. Doch so ganz ohne Magisches geht es auch diesmal nicht ab
Wenige Tage vor seinem Tod 2003 gab Roberto Bolaño dem mexikanischen Playboy ein scharfsinniges Interview. Zum Beispiel wurde er gefragt, ob er, wenn er mit Isabel Allende und Angeles Mastretta ein paar Gläser getrunken hätte, womöglich anderer Meinung über ihre Bücher wäre. Bolaño sagte: „Nein. Erstens, weil es beide Damen vermeiden, mit jemandem wie mir zu trinken. Zweitens, weil ich nicht mehr trinke. Drittens, weil ich mir noch in meinen allerschlimmsten Räuschen einen Rest von Klarheit bewahrt habe, ein Gefühl für Rhythmus und Wortwahl, einen Widerwillen gegen Plagiat, Mittelmäßigkeit, Unvermögen.“
Es wird also nicht leicht, den neuen Roman von Isabel Allende, „Mayas Tagebuch“, vorbehaltlos anzugehen. Egal, ob nüchtern oder im allerschlimmsten Rausch. Es wird auch deshalb nicht leicht, weil der Suhrkamp Verlag in der deutschsprachigen Aufmachung alles Beunruhigende getilgt hat. Im Original heißt der Titel „El cuaderno de Maya“, „Mayas Heft“, genau so übersetzt von Svenja Becker, wenn das Wort im Text fällt. Denn Maya führt kein Tagebuch. Dazu wäre sie, die nervöse, gebeutelte Neunzehnjährige, auch nicht imstande. Grob gliedert sie ihr Heft nach Sommer, Herbst, Winter und Frühling. Und weil sie sich, zurückgezogen und versteckt auf einer kleinen Insel in Chile, auf der südlichen Halbkugel befindet, enthält der Sommer die Monate Januar, Februar, März. Eher schweifend erzählt Maya aus ihrem offenbar unkaputtbaren Leben. Sie springt vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Ein Datum für ihre Einträge gibt es nicht.
Hinzu kommt, dass die deutsche Ausgabe mit einer sagenhaft schönen Frau geschmückt ist, niedergeschlagene Lider, sehr melancholisch. Das spanische Original dagegen, erschienen bei Plaza & Janés in Barcelona, zeigt eine liegende Frau, die sich mit dem Ellbogen aufstützt, das Gesicht eine verstörende Maske. Auch diese Maya ist einem Bestsellerpublikum zumutbar. Zu guter Letzt wirbt Suhrkamp auf dem Einband mit einem Ausruf von El Mundo: „Isabel Allende ist die Königin der Gefühle!“ Danke, das hat gerade noch gefehlt.
Es sieht so aus, als wollte der deutsche Verlag mit der sanften, gefälligen Aufmachung die idealtypisch zu denkende Allende-Leserin nicht verschrecken. Darum Tagebuch, schöne Melancholie und Gefühle mit Ausrufezeichen. Zwar leistet sich Isabel Allende auch in diesem Buch etliche sanfte, gefällige Sätzlein, aber weil sie eine Figur wie Maya erfunden hat, kommt sie damit nicht durch. Mit Blick auf US-Krimis wird ihre Sprache streckenweise rau und kantig, gut zu lesen. Eine Detektivgeschichte, sagt sie im Promo-Video, habe ihr vorgeschwebt. Das wird insofern eingelöst, als Maya sich vom FBI, von Interpol und einer Verbrecherbande aus Las Vegas verfolgt sieht. Nur weiß der Leser immer, wo die Gesuchte, nämlich Maya, steckt. Also eher keine Detektivgeschichte.
Allende schreibt einen Satz, der kein Sätzlein sein will und mehr über ihre Literaturwerkstatt verrät als beabsichtigt: „Glück hat etwas Seifiges, es glitscht einem durch die Finger, an Problemen dagegen kann man sich festklammern, sie sind rau und hart und geben Halt.“
Maya ist ein Problemkind. Obwohl sie behütet und verhätschelt aufwächst in Berkeley bei ihrer flippigen Großmutter, einer Chilenin, rutscht sie nach dem Tod des geliebten Wunschgroßvaters langsam, aber sicher ins Elend. Es fängt an mit leichten Drogen und Alkohol auf der Highschool, es geht weiter mit Lockangeboten für Pädophile, um sie, kaum dass sie angebissen haben, auszurauben, und es endet damit, dass Maya aus dem Internat flieht und, bei einem Zwischenstopp brutal vergewaltigt, nach Las Vegas trampt. Dort gerät sie in die Fänge von Gangstern, die ihr Geld mit Drogen und Dollarblüten machen. Sie dient ihnen als Kurierin.
Die Las-Vegas-Story hebt sich tapfer ab von den teils folkloristisch kolorierten Anekdoten auf den Inseln Chiloés. Für Maya wird es eng, mittlerweile braucht sie harte Drogen. Sie stürzt sich in die miesesten Ecken der Stadt, beklaut eine Obdachlose, die gut zu ihr war, prostituiert sich. Maya verliert ihr Gesicht. Erst mit Hilfe einer Jesus-närrischen Schwarzen, einer „sanften Riesin“, und deren Mann, einem „echten Engel“, entgeht sie der Hölle – einem kriminellen Geflecht, in das sie sich ebenso naiv wie gefügig verstrickt hat. Ihre Großmutter fährt sie im Auto zurück nach Berkeley. Klar ist, dass Maya für eine Weile verschwinden muss. Darum schickt die Großmutter sie zu einem Freund ans Ende der Welt, auf eine kleine, südchilenische Insel.
Großmutters Freund aus vergangenen Tagen heißt Manuel, Anthropologe, ein alter, liebenswerter Kauz. Wie er mit Maya (und sie mit ihm) umgeht, wird feinsinnig und angenehm kitschfrei beschrieben. Aber dann entpuppt sich Manuel, wie um die idealtypisch zu denkende Allende-Leserin zufriedenzustellen, als Mayas wahrer, leiblicher Großvater. Er leidet unter Albträumen, die auf die Zeit nach dem Militärputsch durch Pinochet zurückgehen. Maya will ihn davon befreien. Und so infiziert der therapeutische Diskurs, über den sich Allende gerade noch lustig gemacht hat, jäh den erzählerischen, sodass man aufschreien will wie Manuel vor seinen allerschlimmsten Heimsuchungen. Umständlich wird rekonstruiert, wie der Großvater als junger Mann in einer Villa gefoltert wurde.
Dass es auch anders geht, hat Roberto Bolaño in seinem kurzen Roman „Chilenisches Nachtstück“ vorgemacht. Hier schält sich aus dem lockeren Selbstge-spräch eines Priesters das pure Grauen heraus. In einer Villa, wo eine Schriftstellerin literarische Salons veranstaltet, wüten im Keller Pinochets Folterknechte.
Isabel Allende weiß, welche Erwartungen sie zu bedienen hat. Und so streut sie, wann immer möglich, Magisches ein. Vor allem der verstorbene Wunschgroßvater erscheint ein ums andere Mal seiner umherirrenden Wunschenkelin Maya, er tröstet sie und macht ihr Mut. – Tja, das ist schön.
RALPH HAMMERTHALER
Die gefällige Aufmachung
der deutschen Ausgabe schielt
auf die idealtypische Leserin
Isabel Allende: Mayas
Tagebuch. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja
Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 447 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Isabel Allende ist die Königin der Gefühle!"
El Mundo
El Mundo
»Mayas Tagebuch ist womöglich Allendes bester Roman seit langem, schafft sie es doch, eine schöne Balance zwischen Literarizität und Gefühligkeit zu halten und dabei unterschiedlichste Lebenswelten auszuleuchten.«