Mittendrin im London von 1910
Das Cover lässt einen schön ahnen, dass der Roman düster sein dürfte.
Was er großteils auch ist- kein Wunder, denn er spielt in den übelsten Vierteln Londons 1910, wo Arbeitslosigkeit, Gaunereien, Schmuggel, Verbrechen und Hoffnungslosigkeit herrschen.
Für den
frisch zum Divisionsinspektor beförderten Polizisten Joseph Maybrick beginnt sein erster Tag mit dem…mehrMittendrin im London von 1910
Das Cover lässt einen schön ahnen, dass der Roman düster sein dürfte.
Was er großteils auch ist- kein Wunder, denn er spielt in den übelsten Vierteln Londons 1910, wo Arbeitslosigkeit, Gaunereien, Schmuggel, Verbrechen und Hoffnungslosigkeit herrschen.
Für den frisch zum Divisionsinspektor beförderten Polizisten Joseph Maybrick beginnt sein erster Tag mit dem Fund einer Kinderleiche und damit eine schwierige und zähe Jagd nach dem Mörder.
Nicht nur das Viertel an sich, sondern auch die Umstände machen es ihm nicht leicht- es gibt mehrere organisierte Gaunerbanden, die untereinander rivalisieren und sich nichts schenken und obwohl Maybrick im East End aufgewachsen ist und die Konstellationen kennt, findet er sich bald in einem undurchdringlichen Dschungel aus Lügen und Intrigen wieder.
Unterstützung leistet ihm sein Freund Dr. Roberts, ein heimlich homosexueller Arzt und Leichenbeschauer mit für die damalige Zeit modernen Methoden (z.B. nimmt er bereits Fingerabdrücke) und bald auch mehr oder weniger unfreiwillig das Gaunerpärchen Heath und Hester, deren eigene Geschichte im Verlauf des Buches für Spannung sorgt.
Durch häufige Perspektivwechsel erlebt man die Jagd nach dem Täter aus verschiedenen Blickwinkeln und manchmal fand ich es etwas schwierig, mich ohne Vorwissen in dem Dickicht der verschiedenen Banden zurechtzufinden.
Manche Plots verlaufen sich ohne Aufklärung oder waren so in die Länge gezogen, dass sie für mich die Geschichte nicht weitergebracht haben- hier hätte ein bisschen weniger etwas mehr sein können.
Generell ist der Roman aber atmosphärisch sehr dicht und ich fühlte mich unmittelbar dabei- in den dreckigen Gassen, in denen sich Menschen aller Couleur drängen und es nicht immer ehrlich miteinander meinen, die fragwürdigen Etablissements und die Hafengegend, die nichts für zarte Gemüter ist.
Dass hier Grace, ein Kind aus gutem Hause, öfters auf ihren Vater warten muss, hat mir kein gutes Gefühl gegeben, aber das Mädchen erweist sich im Verlauf der Geschichte als sehr clever.
Überhaupt sind die Kinder in diesem Buch alle extrem abgeklärt und erwachsen, nehmen auch schlechte Behandlung auf eine stoische Weise hin, die man sich heute schwer vorstellen kann. Ich fürchte aber, dass es damals genau so war, denn keiner hatte Zeit und Geld, um sich der vielen Straßenkinder, die großteils in Banden organisiert waren, anzunehmen. Stattdessen dienten sie als billige Arbeitskräfte und flinke Diebe.
Es spricht für Maybrick, dass er sich inmitten all der Gewalt und der vielen täglichen Verbrechen um ihn herum so viel Mühe um die Aufklärung eines Kindermordes macht- warum er das tut, wird im Verlauf des Buches klar.
Ich hätte gern mehr über ihn und seine Frau Sue erfahren, weil hier vieles offenbar Schwerwiegende aus der Vergangenheit nur angedeutet wird, aber ich hoffe auf einen zweiten Teil.
Die Auflösung des Falles setzt sich am Ende aus vielen Puzzleteilen zusammen und ist für Maybrick nur schwer zu ertragen. Ich hatte bis zum Ende nicht gedacht, dass der Täter in der Ecke zu suchen wäre!
Spannend fand ich auch, dass Maybrick und Roberts für die damalige Zeit recht fortgeschrittene psychologische Täterprofile erstellten.
Beide sind sehr sympathische Protagonisten und lernen im Verlauf ihrer Ermittlungen auch das Gaunerpaar Heath und Hester näher kennen und schätzen. Dass hier im Elendsviertel nicht nur schwarz und weiß existiert, wird im Buch sehr gut herausgearbeitet und es gibt durchaus gute Seiten an nach außen hin schlecht wirkenden Menschen.
Das einzige, was mir im sprachlich bildhaften und angenehm zu lesenden Buch auffiel und störte, war die Häufigkeit des Wortes "schnaufen". Anfangs fiel es mir nicht so sehr auf, aber im Lauf der Handlung wurde "schnaufend geantwortet", "schnaufend aufgeblickt" und alle paar Seiten generell viel geschnauft.
Vielleicht bin es nur ich, aber dieses immer wieder und oft unpassend benutzte Wort hat mich beim Lesen gestört und mich manches Mal aus der Handlung herausgerissen.
Ansonsten war der Roman für mich ein spannendes Debüt in einem nicht alltäglichen Setting, mit dem ich mich bisher so gut wie gar nicht auseinandergesetzt hatte und das mir die Autorin durch ihre akkurate Recherche nahegebracht hat.