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Auszug aus der Reportage "Es fährt ein Zug nach Morgenrot" von Randolph Braumann:
"Verehrte Fahrgäste, in Schwanheide, Kirch Jesar und Zachun können Sie nur aus den ersten drei Wagen aussteigen, weil die Bahnsteige zu kurz sind." (Durchsage im RegionalExpress Hamburg-Schwerin)
Um 19.19 Uhr fährt der Zug bei durchdringender Kälte in Boizenburg ein. Die Hoffnung, vom Bahnhof zur Altstadt noch einen Bus zu bekommen, erfüllt sich nicht. Ach ja, es ist Samstag, und Abendbusse verkehren nur montags bis freitags. Taxis? Doch nicht hier!
Also mache ich mich missgelaunt auf die Socken. Es sind
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Produktbeschreibung
Auszug aus der Reportage "Es fährt ein Zug nach Morgenrot" von Randolph Braumann:

"Verehrte Fahrgäste, in Schwanheide, Kirch Jesar und Zachun können Sie nur aus den ersten drei Wagen aussteigen, weil die Bahnsteige zu kurz sind." (Durchsage im RegionalExpress Hamburg-Schwerin)

Um 19.19 Uhr fährt der Zug bei durchdringender Kälte in Boizenburg ein. Die Hoffnung, vom Bahnhof zur Altstadt noch einen Bus zu bekommen, erfüllt sich nicht. Ach ja, es ist Samstag, und Abendbusse verkehren nur montags bis freitags. Taxis? Doch nicht hier!

Also mache ich mich missgelaunt auf die Socken. Es sind nur knapp zwei Kilometer vom Bahnhof zum Kirchplatz, wo ich wohne, aber die Hälfte des Wegs verläuft im Dunkeln, ein Stück unterhalb der alten B 5, entlang der Kleingartenanlage Möwenhorst. Es gibt heute Abend keinen Regen, keinen Hagel, keinen Schnee, keinen Sturm; ich könnte also ganz zufrieden sein, doch da ist sie wieder, die Frage! Warum tust du dir das an? Warum bist du von Hamburg aufs Land gezogen und dann auch noch nach Meckpomm?

Auf der Bahnhofstraße verziehen sich die düsteren Gedanken. Bei diesem Angebot muss man einfach locker werden: Spielothek; Mannesmann Mobilfunk; Blumenladen mit Computer-Service; California Athletic, Die Welt des (!) Fitness; Kareen's (!) Kosmetik-Studio; Apollo Taverna Bierpub Cafe; Ali Baba Döner Kebab. Ich konstatiere, dass die Ross-Schlachterei J. Steffen nach Geesthacht umgezogen ist und dass das Kulti wieder mal einen Gag plant: "Ossi-Party zu DDR-Preisen".

Am Kulti, dem alten Kulturzentrum, sind einige Menschen unterwegs. Sie beachten mich nicht. In Mecklenburg grüßt man nicht einfach so, es sei denn, man kennt sich 20 Jahre. An den Möwenhorst-Gärten bin ich allein. Dort haben sie im letzten Sommer wieder Kartoffelknollen von 520 Gramm Gewicht gezüchtet, Sorte Coretta, ferner Fleischtomaten von 900 Gramm das Stück (47 Zentimeter Umfang), 58 Zentimeter lange Gurken, eine Hortensie mit 172 Blütendolden. Einer hat auf einem vier mal vier Meter großen Beet anderthalb Zentner Kartoffeln geerntet, einer zählte 631 Zwiebelknollen und teilte es der Lokalzeitung mit. Der Erntewettbewerb der Schweriner Volkszeitung ("Himmelsstürmer und Schwergewichte") ist hier Volkssport.

Ich weiß, dass es im Möwenhorst Hühnergehege gibt. Ein Stall gefällt mir besonders, weil mich tagsüber immer ein offensichtlich homosexueller Hahn begeistert ankräht. Die Ställe liegen jetzt in totaler Stille. Auch mein Freund, der Homo, schläft. Der Spruch aus meiner Dorf-Kindheit fällt mir ein: "Mit den Hühnern zu Bett gehen ..." Wer wollte das schon, als er klein war? Heute wäre ich froh, wenn ich schon drin läge, in meinem Eichenholzbett im 1. Stock des 300 Jahre alten, schiefen Fachwerkhauses.

Dies ist ein Land, in dem man gern zu Hause ist. Die Wirte klagen, dass nur Auswärtige kommen und nicht die Einheimischen. Die grummeln entschuldigend, Schnitzel mit Pommes für 15 Mark sei ihnen zu teuer. In Wirklichkeit aber wollen sie zu Hause sitzen, im Sommer in ihrem Garten, im Winter in der historischen Altstadt oder in der Plattensiedlung, ein Lübzer Pils in der einen und einen Rostocker Korn in der anderen Hand.

Es hat ja auch was, denke ich so in der Höhe des nachtschlafenen Hühnerstalls. Im Sommer beantwortet sich die Sinnfrage ("Warum Meckpomm?") von selbst: wenn ich so an die Apfelbäume in der Datsche meiner Freunde denke, Kleingartenanlage Morgenrot, an die Johannisbeeren, die Stachelbeeren, die Himbeeren, aber auch an den wunderschönen, alten Nussbaum, an den Geruch der Grillfeuer, an die Friedfertigkeit der Menschen - hier kennen sie sich alle von Kindesbeinen an, Fremde gibt es kaum. Fast wundert es mich, dass sie mich in ihren Kreis aufgenommen haben, ein Jahr hat es gedauert, was im Rheinland oder in Bayern einen Tag dauert.

Morgenrot liegt (logisch) ganz im Osten, nahe an der Bahn. Von Zeit zu Zeit rauscht ein ICE vorbei oder ein Güterzug, dann dauert das Rauschen länger. So weit weg von der Globalisierung wir uns hier unter Apfelbäumen auch fühlen mögen: Geografisch sind wir ganz dicht dran. Die Schienen verbinden uns mit der Welt, nach Osten wie nach Westen, und auf den Containern steht "Seaworld", "Hyundai", "ADtranz" oder "DB Cargo".

Jeder hier in Morgenrot weiß, dass einer der wichtigsten und traditionsreichsten Schienenstränge Deutschlands durch die Bahnhofsvorstadt führt. Ab 1932 verkehrte zwischen Hamburg und Berlin mit dieselelektrischem Antrieb der Fliegende Hamburger, seinerzeit der schnellste Zug der Welt (Hamburg-Berlin in 2 Stunden 18 Minuten). In der Zeit nach 1945 ratterte der Interzonenzug dann wesentlich langsamer vorbei.

Büchen war der Grenzbahnhof West. Die BRD-Lok wurde abgekoppelt, die DDR-Lok übernahm die Arbeit, zog die Waggons über den Elbe-Lübeck-Kanal, dann über die Grenze und stoppte in Schwanheide, Grenzbahnhof Ost. Dort stiegen DDR-Grenzer zu und Damen vom Wechselkontor.

Heute: Der RegionalExpress Hamburg -Schwerin verlässt Gleis 5 oder 8 in Hamburg Hbf alle zwei Stunden, von 4.34 Uhr bis 22.34 Uhr. Jeweils 33 Minuten später trifft er in Büchen (Schleswig-Holstein) ein, weitere vier Minuten später in Schwanheide (Mecklenburg-Vorpommern). Während dieser vier Minuten fährt man nicht nur von einem Bundesland in ein anderes, sondern auch von einer Welt in eine andere.

Büchen ist eine dieser übermäßig geordneten norddeutschen Kleinstädte, in denen jeder Quadratmeter asphaltiert, kunstgepflastert und zwangsbegrünt ist. Überall stehen Waschbetonkübel mit Austauschblumen. Der Bahnhof hätte in einem Architektur-Wettbewerb keine Chance (was für ein düsterer Eingangstunnel!), aber er funktioniert ganz normal mit Reise-Center, Wartesaal, Imbissbude.

In Schwanheide ist das Bahnhofsgebäude mit Brettern vernagelt. Die Fenster des gegenüberliegenden, dreistöckigen Grenzpolizei-Hauptquartiers konnten nicht vernagelt werden. Ein Wessi kaufte nach der Wende Haus und Grundstück - und ward nicht mehr gesehen. Etliche Fensterscheiben sind kaputt, alte, graue und gelbe Vorhänge hängen regenschwer nach draußen. Auf den Wiesen ringsumher stehen Gras und Gestrüpp meterhoch. Es war nach einem Tag in Schwanheide, als ich meinem Freund Nick Barkow schrieb: "Ich fühle mich hier wie im Kongo." Wobei er weiß, dass ich ein Faible für den chaotischen Kongo habe. ...