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Medea Mendez, über siebzig, verwitwet und kinderlos ist Mittelpunkt einer weitverzweigten Sippe. Ihr Haus auf der Krim wird alljährlich zum Treffpunkt zahlreicher Familienmitglieder, die von überall her angereist kommen, um dem Alltag zu entfliehen. Medea ist weise genug, um auf die wilden Abenteuer ihrer Nichten und Neffen mit Nachsicht zu reagieren. Als sich die Nichten Nika und Mascha in denselben Mann verlieben, fühlt sich Medea an die Wunden des eigenen Lebens erinnert. Die Moskauer Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja erzählt eine kurzweilige Sommergeschichte. Es gelingt ihr, eine Brücke…mehr

Produktbeschreibung
Medea Mendez, über siebzig, verwitwet und kinderlos ist Mittelpunkt einer weitverzweigten Sippe. Ihr Haus auf der Krim wird alljährlich zum Treffpunkt zahlreicher Familienmitglieder, die von überall her angereist kommen, um dem Alltag zu entfliehen. Medea ist weise genug, um auf die wilden Abenteuer ihrer Nichten und Neffen mit Nachsicht zu reagieren. Als sich die Nichten Nika und Mascha in denselben Mann verlieben, fühlt sich Medea an die Wunden des eigenen Lebens erinnert. Die Moskauer Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja erzählt eine kurzweilige Sommergeschichte. Es gelingt ihr, eine Brücke zu schlagen zwischen den großen Ereignissen des Jahrhunderts und den einfachen Dingen, die das Dasein der "kleinen Leute" bestimmen.
Autorenporträt
Ljudmila Ulitzkaja, geboren 1943 bei Jekaterinburg, wuchs in Moskau auf. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. 1996 erhielt sie in Frankreich für ihre Erzählung 'Sonetschka' den Prix Medicis, 2001 den Booker Prize Rußland und im Jahr 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.1997

Radikal rote Köpfe
Ljudmila Ulitzkaja fördert die Großfamilie Von Karl-Markus Gauß

Nationale Konflikte, ethnisch motivierte Bürgerkriege, brachiale Feindschaft der Nationalitäten, Religionsgemeinschaften, Sprachgruppen - so lauten die politischen Nachrichten aus dem Osten Europas. Zumal im riesigen Reich der untergegangenen Sowjetunion scheint der permanente Kampf der Volksgruppen verheerende Realität zu werden; nicht der Zerfall einer staatlichen Zwangsordnung allein, vielmehr das Ende der Zivilisation selber zeichnet sich da in blutigen Stammeskriegen ab. Im Roman der 1943 geborenen Ljudmila Ulitzkaja aber ist alles anders. Die nationale Vielfalt, ja Unübersichtlichkeit eines Gebietes - Ulitzkajas bezwingende Familiensaga zeigt, was sie bedeuten könnten und oft bedeutet haben: Reichtum, Schönheit und Fülle.

Die in Moskau lebende Erzählerin hat einen russischen Roman geschrieben, aber bevölkert wird er von Griechen, Armeniern, Litauern, Juden, Krimtataren, Ukrainern, und die Zweige der Familie hängen über die Staatsgrenzen hinweg bis ins Italienische und Koreanische. "Medea und ihre Kinder" handelt von der alten, kinderlosen Medea, die gleichwohl zur Clanmutter wird und in deren Haus auf der Halbinsel Krim ihre dreißig Nichten und Neffen Jahr für Jahr zusammentreffen. Sie kommen mit Ehepartnern aus immer neuen Völkern und einer wachsenden Schar von Kindeskindern, deren nationale Identität fragwürdig ist. Nur eines haben sie alle gemein: die roten, nein, die "radikal roten Haare", sichtbares Erbteil ihres gemeinsamen griechischen Stammvaters Charlampi Sinopli.

Der hatte es als Angehöriger der auf der Krim siedelnden taurischen Bevölkerungsgruppe und getreuer Untertan des Zaren zu Reichtum, aber trotz fleißigen Bemühens nur auf ein einziges Kind gebracht. Dieser Sohn wiederum erwies sich zwar als weniger tüchtig, was das Geschäft betraf, doch hinterließ er, ehe er im Ersten Weltkrieg mitsamt seinem Schiff versank, der Revolution immerhin vierzehn störrische Rotschöpfe. Einer davon war Medea, die, selber noch ein halbes Kind, nach dem bald folgenden Tod der Mutter für den Zusammenhalt der Familie sorgen mußte.

Ulitzkajas Familienroman bietet wie nebenbei eine bittere Bilanz sowjetischer Geschichte. Nicht nur vom revolutionären Enthusiasmus der zwanziger Jahre wird erzählt, auch vom Terror der dreißiger und von den zermürbenden Schikanen, mit denen in den fünfziger und sechziger Jahren das Regime die Jugend zu brechen sucht. Und da sind noch die Krimtataren, denen sich Ulitzkaja mit besonderer Sympathie zuwendet. Die hatten einst dafür gesorgt, daß die Schwarzmeer-Halbinsel als riesiger Garten blühte, was nicht verhinderte, sondern eher verursachte, daß sie unter Stalin umgesiedelt und Tausende Kilometer ostwärts verfrachtet wurden. Der Roman endet 1976, da Medea eine alte Frau ist. Doch aus einem Epilog zwanzig Jahre später, in dem sich die Erzählerin als angeheiratetes Mitglied der Familie Sinopli zu erkennen gibt, erfahren wir von der Enttäuschung, die die tote Medea ihren Nichten und Neffen bereiten sollte. In ihrem Testament hatte sie das Haus nicht der Familie, sondern einem jungen Krimtataren vermacht.

Die Krim ist heute Teil der staatlich souverän gewordenen Ukraine. Bewohnt wird sie indes vornehmlich von Russen - und von einer Minderheit von 200 000 Krimtataren, die sich nur als Vorhut einer Bewegung empfinden, die die Tataren dereinst wieder in den Besitz ihrer alten Heimat bringen soll. Um nationalen Konflikten vorzubeugen, hat die Ukraine für die Krim die Formel geprägt, sie sei zugleich eine "Autonome Republik und integraler Bestandteil der Ukraine", aber dieser Status wird von den Tataren, die die Häuser der deportierten Väter von den Kindern russischer Zuwanderer bewohnt finden, nicht anerkannt.

Das alles bildet nur den historischen Hintergrund für einen bewegenden, komischen, melancholischen Roman, der nicht den politischen Zeitfragen, sondern den existentiellen Konstanten der Menschen gewidmet ist: wie sie geboren werden und sterben, lieben und einander verraten, Größe zeigen und sich in Kleinmut ducken. In der Geschichte der verzweifelt liebebedürftigen und empfindsamen Mascha sind alle diese Möglichkeiten der Menschen enthalten und verdichtet, und so gewinnt der Roman mit ihr eine tragische Dimension, geht sie doch nach einem rauschhaften Liebessommer in Medeas Haus in den Tod, weil sie ihre Liebe verraten findet.

Illusorisches Unterfangen, im Gewirr der Kindeskinder und Anverwandten noch die Übersicht bewahren zu wollen, die allein bei Medea ist. Der Epilog aber weiß zu berichten, daß Medeas Kinder auch nach dem Tod der mythischen Clanmutter tun, was ihnen von Charlampi Sinopli als Auftrag mitgegeben wurde: Sie ziehen in die Welt, zeugen radikal rothaarige Kinder und leben, da mit Medea die letzte Griechin der Familie gestorben ist, als Litauer, Georgier, Amerikaner, Italiener, Russen, Armenier, Koreaner fort - Angehörige jener Familie, die Menschheit heißt.

Ljudmila Ulitzkaja: "Medea und ihre Kinder". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Verlag Volk & Welt, Berlin 1997. 380 S., geb., 38,- DM.

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