Recht wird gesprochen. Es gilt das Prinzip der Mündlichkeit. Die Rechtsprechung operiert indes auch mit Medien, die nicht der Stimme zugehören. Eine Fotografie zu Beweiszwecken oder eine Kamera zur Übertragung einer Gerichtsverhandlung zählen ebenfalls zu den Medien der Rechtsprechung. Weit davon entfernt, bloße Hilfsmittel der Wahrheitsfindung zu sein, greifen sie in das Verfahren ein. Und dort, wo unter der Macht technischer Medien die justitiellen Formen verwildern, wird das Gericht zum Tribunal.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2011Wie Gerichte mit Foto
und Kamera verwildern
Die Szene wird zum Tribunal: Cornelia Vismanns
erhellendes Buch über die „Medien der Rechtsprechung“
In jedem Gerichtssaal ist der Richtertisch an seiner Frontseite abgedeckt, sodass nichts als die Oberkörper des Vorsitzenden und der Schöffen zu sehen sind; die Tische davor aber, für Zeugen und Angeklagte, bestehen nur aus Platte und Beinen und geben den ganzen Körper des Verhörten frei. Was sich in diesem Unterschied ausdrückt, ist ein Gefälle der Blicke und Beziehungen: Diejenigen, über die verhandelt wird, haben sich ungeschützt zu präsentieren; die Geschlossenheit des Richtertisches dagegen vereint die Urteilenden zu einem souveränen Emblem der Macht.
Cornelia Vismann, die 2010 verstorbene Juristin und Medientheoretikerin, widmet dem Richtertisch einen Abschnitt in ihrer nachgelassenen Studie über „Medien der Rechtsprechung“. Dieser Tisch ist das grundlegende Zeichen der Differenz im Raum; er trennt die Verkünder des Rechts von den Delinquenten vor Gericht. Vismanns Überlegungen zum Mobiliar der Verhandlungssäle bilden nur einen kurzen Exkurs in diesem eindrucksvollen Buch, das sich mit Fragen auseinandersetzt, die im Umgang mit Strafprozessen gewöhnlich ausgespart werden. Es geht um die „Materialität“ der Gerichtsverhandlung, um die historisch wandelbaren Architekturen und Medien der Justiz. Diese Rahmenbedingungen kommen vermutlich deshalb so selten zur Sprache, weil der verhandelte Inhalt der Prozesse – die elementaren Fragen von Wahrheit und Schuld, Leben und Tod – bereits alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vismanns Buch jedoch macht Seite für Seite deutlicher, dass es gerade die technischen Bedingungen sind, welche die Fragen von Wahrheit und Schuld steuern und damit gewissermaßen erst hervorbringen.
Schon im Begriff des „Rechtsprechens“ ist die bestimmende Medialität aktueller Verhandlungspraxis enthalten. Das Primat des Mündlichen wirkt heute so selbstverständlich, dass es längst als natürliche Form der juristischen Auseinandersetzung wahrgenommen wird. Als unhintergehbare Instanz soll die Stimme der Beteiligten für die Wahrheit der Äußerungen bürgen. In der Geschichte des Strafjustiz hat sich die mündliche Verhandlung aber erst seit etwa zweihundert Jahren wieder etablieren können, nach einer lang anhaltenden Dominanz der Schrift über das Wort. Der „Aktenversendungsprozess“, wie er sich im fünfzehnten Jahrhundert, mit der zunehmenden Anwendung des römischen Rechts, auch in den deutschen Staaten durchsetzte, verlieh der Rechtsprechung einen „Sog ins Schriftliche“, wie Vismann schreibt. Was der Fall war, wurde allein von den Akten vorgegeben, die zwischen den Anklägern und juristischen Sachverständigen an den Universitäten zirkulierten.
Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts – zweifellos als Effekt jener Feier der Aufrichtigkeit, wie sie das Zeitalter Rousseaus zelebriert hat – kehrt die unmittelbare Befragung in die Gerichtssäle zurück. Das schriftliche Verfahren wird als zu behäbig empfunden, das Aktenstudium hinter verschlossenen Türen als korruptionsfördernd. Von 1806 an schreibt das neue Strafgesetzbuch Napoleons in Frankreich die grundsätzliche Mündlichkeit jeder Verhandlung vor; in den annektierten Gebieten wird die Reform kurz darauf auch in Deutschland eingeführt. Seitdem gelten Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit als die Aufklärungsideale der Justiz; es gibt zwar weiterhin Anklageschriften und Protokolle, aber sie haben nur noch sekundäre, überprüfende Funktion.
Man kann die Wirksamkeit dieser Hierarchie noch heute in jedem Gerichtsprozess nachverfolgen, wenn etwa Zeugen, die nach der Tat sofort ihre frischen Eindrücke zu Protokoll gegeben haben, Monate später zur Hauptverhandlung erscheinen und in einem mühsamen Verhör ihre lückenhaften Erinnerungen rekonstruieren müssen, obwohl es doch bereits eine zuverlässige schriftliche Fassung gibt. Doch die mündliche, von den Anwesenden verkörperte Rekonstruktion der Ereignisse ist für die Wahrheitsproduktion der Justiz unerlässlich. Wie religiöse Beichten dürfen Aussagen vor Gericht nicht medial vermittelt sein.
Cornelia Vismann rückt in ihrer Analyse der juristischen Formen zwei Begriffe in den Vordergrund: die „agonale“ und die „theatrale“ Anordnung des Gerichts. Dass ein Prozess wie ein Wettkampf auf eine Entscheidung zusteuern muss, ergibt sich aus der Logik des rechtlichen Widerstreits. Die Inszenierung des Verfahrens als Theaterstück jedoch ist weniger naheliegend. Woher rührt diese Bezugnahme? Überzeugend stellt Vismann heraus, dass die standardisierte Dramaturgie vor Gericht nichts weniger als bloßes Beiwerk ist. Vielmehr weist die strenge Ordnung der Reden auf die innerste Bedeutung des Rechtsprechens. Denn wenn man das Verbrechen als ein Ereignis begreift, das einen Riss zwischen Tat und Wort herbeiführt, das die Erzählbarkeit der Welt für einen Moment unterbricht, dann kommen dem Gericht zwei Aufgaben zu: Natürlich muss es die Tat einem Urheber zuordnen; aber zunächst hat es den Riss in der symbolischen Ordnung zu kitten, das verstörende Geschehen erzählbar zu machen. Das tut die Rechtsprechung, indem sie für alle Verbrechen – und noch für die wüstesten, unvorstellbaren unter ihnen – einen formalisierten Rahmen errichtet.
Die Arbeit des Gerichts, sagt Vismann, ist ein „Zeremoniell der Sprachwerdung“. Und genau aus diesem Grund muss die letzte Beratung der Richter und Schöffen, zwischen den Plädoyers und dem Urteilsspruch, jenseits dieses Zeremoniells stattfinden, hinter verschlossenen Türen, vom Protokollzwang ausgeklammert. Denn diese Beratung markiert den einzigen Moment, in dem sich so etwas wie ein Zaudern des Gerichts zeigen darf, ein Element von Willkür und Improvisation, das nötig ist, um den Sprung vom Zusammentragen der Fakten zum finalen Urteil zu riskieren. Diese prekäre Phase darf vom theatralen Prinzip des Gerichts niemals erfasst werden (und deshalb wird der berühmte Film, der genau dies versucht hat – Sidney Lumets „Die zwölf Geschworenen“ – von Vismann als misslungen abgekanzelt).
Als Sonderform der Rechtsprechung erscheint das „Tribunal“, im Unterschied zum ordentlichen Gericht. Es gibt für diesen Verfahrenstyp keine rechtliche Definition, wie Vismann schreibt; unbestritten ist nur, dass es hier weniger um das Ermitteln einer noch unsicheren Wahrheit geht als vielmehr um die möglichst sichtbare Präsentation der bereits gefundenen. Tribunale, in denen Richter und Ankläger identisch sind, stellen sich als Gründungsstätten kollektiver Erinnerung dar (wie es die Aufarbeitung der NS-Gräuel in Nürnberg, des RAF-Terrorismus in Stammheim oder des Jugoslawienkriegs in Den Haag belegen).
Am anschaulichsten wird die Differenz von Gericht und Tribunal, wenn man ihr jeweiliges Verhältnis zu technischen Medien im Prozessverlauf beobachtet. Das ordentliche Gericht, in einem geschlossenen, oft fensterlosen Raum, stellt eine hermetische Sphäre her, weil es sich in seiner sprachlichen Rekonstruktion der Ereignisse genügt. Öffentlichkeit begrenzt sich auf die Gemeinschaft anwesender Zuschauer. Seit dem Aufkommen der Fotografie hat das Gericht jede neue Medientechnologie als Konkurrenz empfunden, denn zur theatralen Anordnung des Prozesses gehört es, dass allein den Worten des Richters die Diskurshoheit im Saal zukommt. Das Fernsehen, das in seiner unmittelbaren Abbildung des Geschehens diese Hoheit in Frage stellen würde, ist deshalb bis heute aus dem Gerichtssaal ausgeschlossen. Nur jene trägen Medien, die eine nachträgliche Übersetzung des Prozessablaufs leisten müssen, sind zugelassen: die Presse und der so anachronistisch wirkende Gerichtszeichner.
Das Tribunal dagegen, das ein Gerichtsverfahren mit einer gültigen Geschichtsversion verbinden will, kann an jedem denkbaren Ort errichtet werden. Sein Hauptanliegen besteht in der Optimierung der öffentlichen Reichweite. Tribunale sind daher seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts immer auch Erprobungsforen für avancierte Technologie gewesen (zuletzt die kontinuierliche Online-Übertragung des Milosevic-Prozesses). In Nürnberg 1945 feierte das Medium Film doppelte Premiere im Gerichtssaal; es war das erste Mal, dass Filmbilder als Beweismittel vorgeführt wurden und Kameras einen Prozess aufnahmen. Zudem wurde die neue Konferenz-Technik der Simultanübersetzung verwendet. Vismanns Überlegungen zum Status der Medien in den Nürnberger Prozessen, zur schockhaften Evidenz der Filme aus den Konzentrationslagern und zur Herrschaft der Übersetzungsanlage, die sogar den Richter zum Befehlsempfänger degradierte, sind ein atemberaubendes Glanzstück des Buches.
Wie durchlässig die Schicht zwischen Gerichtsprozess und Tribunal ist, hat man in den letzten Monaten im Verfahren gegen Jörg Kachelmann erkennen können. Nach der Lektüre dieses Buches sieht man das Wuchern der Berichterstattung rund um den Fall noch einmal unter neuen Gesichtspunkten. Wie gerne hätte man Cornelia Vismann als Beobachterin dieses Prozesses erlebt! Sie hätte einen Gegenpol gebildet zu all jenen Gerichtsreportern, die ihre Aufgabe inzwischen darin erkennen, möglichst pointiert Partei zu ergreifen, sich an ihrem allenfalls marginalen Anteil an der Urteilsfindung selbst zu berauschen. Vismanns Blick auf die mediale Fabrikation der juristischen Wahrheit wäre in diesem Prozess besonders notwendig gewesen. Doch als die Verhandlung im Juli 2010 begann, hatte die bloß neunundvierzig Jahre alt gewordene Professorin an der Universität Weimar nur noch einige Wochen zu leben. Ihr Vermächtnis ist dieses Buch, das allen, die sich praktisch oder wissenschaftlich in der Sphäre der Rechtspflege bewegen, ein Paar neue Augen verleiht.
ANDREAS BERNARD
CORNELIA VISMANN: Medien der Rechtsprechung. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011, 464 S., 22,95 Euro.
Jeder ordentliche Prozess ist
ein Wettkampf und folgt einer
standardisierten Dramaturgie
Die Arbeit des Gerichts ist
ein „Zeremoniell
der Sprachwerdung“
Fernsehbilder stellen die
Diskurshoheit in Frage, die allein
den Worten des Richters gebührt
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Kamera verwildern
Die Szene wird zum Tribunal: Cornelia Vismanns
erhellendes Buch über die „Medien der Rechtsprechung“
In jedem Gerichtssaal ist der Richtertisch an seiner Frontseite abgedeckt, sodass nichts als die Oberkörper des Vorsitzenden und der Schöffen zu sehen sind; die Tische davor aber, für Zeugen und Angeklagte, bestehen nur aus Platte und Beinen und geben den ganzen Körper des Verhörten frei. Was sich in diesem Unterschied ausdrückt, ist ein Gefälle der Blicke und Beziehungen: Diejenigen, über die verhandelt wird, haben sich ungeschützt zu präsentieren; die Geschlossenheit des Richtertisches dagegen vereint die Urteilenden zu einem souveränen Emblem der Macht.
Cornelia Vismann, die 2010 verstorbene Juristin und Medientheoretikerin, widmet dem Richtertisch einen Abschnitt in ihrer nachgelassenen Studie über „Medien der Rechtsprechung“. Dieser Tisch ist das grundlegende Zeichen der Differenz im Raum; er trennt die Verkünder des Rechts von den Delinquenten vor Gericht. Vismanns Überlegungen zum Mobiliar der Verhandlungssäle bilden nur einen kurzen Exkurs in diesem eindrucksvollen Buch, das sich mit Fragen auseinandersetzt, die im Umgang mit Strafprozessen gewöhnlich ausgespart werden. Es geht um die „Materialität“ der Gerichtsverhandlung, um die historisch wandelbaren Architekturen und Medien der Justiz. Diese Rahmenbedingungen kommen vermutlich deshalb so selten zur Sprache, weil der verhandelte Inhalt der Prozesse – die elementaren Fragen von Wahrheit und Schuld, Leben und Tod – bereits alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vismanns Buch jedoch macht Seite für Seite deutlicher, dass es gerade die technischen Bedingungen sind, welche die Fragen von Wahrheit und Schuld steuern und damit gewissermaßen erst hervorbringen.
Schon im Begriff des „Rechtsprechens“ ist die bestimmende Medialität aktueller Verhandlungspraxis enthalten. Das Primat des Mündlichen wirkt heute so selbstverständlich, dass es längst als natürliche Form der juristischen Auseinandersetzung wahrgenommen wird. Als unhintergehbare Instanz soll die Stimme der Beteiligten für die Wahrheit der Äußerungen bürgen. In der Geschichte des Strafjustiz hat sich die mündliche Verhandlung aber erst seit etwa zweihundert Jahren wieder etablieren können, nach einer lang anhaltenden Dominanz der Schrift über das Wort. Der „Aktenversendungsprozess“, wie er sich im fünfzehnten Jahrhundert, mit der zunehmenden Anwendung des römischen Rechts, auch in den deutschen Staaten durchsetzte, verlieh der Rechtsprechung einen „Sog ins Schriftliche“, wie Vismann schreibt. Was der Fall war, wurde allein von den Akten vorgegeben, die zwischen den Anklägern und juristischen Sachverständigen an den Universitäten zirkulierten.
Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts – zweifellos als Effekt jener Feier der Aufrichtigkeit, wie sie das Zeitalter Rousseaus zelebriert hat – kehrt die unmittelbare Befragung in die Gerichtssäle zurück. Das schriftliche Verfahren wird als zu behäbig empfunden, das Aktenstudium hinter verschlossenen Türen als korruptionsfördernd. Von 1806 an schreibt das neue Strafgesetzbuch Napoleons in Frankreich die grundsätzliche Mündlichkeit jeder Verhandlung vor; in den annektierten Gebieten wird die Reform kurz darauf auch in Deutschland eingeführt. Seitdem gelten Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit als die Aufklärungsideale der Justiz; es gibt zwar weiterhin Anklageschriften und Protokolle, aber sie haben nur noch sekundäre, überprüfende Funktion.
Man kann die Wirksamkeit dieser Hierarchie noch heute in jedem Gerichtsprozess nachverfolgen, wenn etwa Zeugen, die nach der Tat sofort ihre frischen Eindrücke zu Protokoll gegeben haben, Monate später zur Hauptverhandlung erscheinen und in einem mühsamen Verhör ihre lückenhaften Erinnerungen rekonstruieren müssen, obwohl es doch bereits eine zuverlässige schriftliche Fassung gibt. Doch die mündliche, von den Anwesenden verkörperte Rekonstruktion der Ereignisse ist für die Wahrheitsproduktion der Justiz unerlässlich. Wie religiöse Beichten dürfen Aussagen vor Gericht nicht medial vermittelt sein.
Cornelia Vismann rückt in ihrer Analyse der juristischen Formen zwei Begriffe in den Vordergrund: die „agonale“ und die „theatrale“ Anordnung des Gerichts. Dass ein Prozess wie ein Wettkampf auf eine Entscheidung zusteuern muss, ergibt sich aus der Logik des rechtlichen Widerstreits. Die Inszenierung des Verfahrens als Theaterstück jedoch ist weniger naheliegend. Woher rührt diese Bezugnahme? Überzeugend stellt Vismann heraus, dass die standardisierte Dramaturgie vor Gericht nichts weniger als bloßes Beiwerk ist. Vielmehr weist die strenge Ordnung der Reden auf die innerste Bedeutung des Rechtsprechens. Denn wenn man das Verbrechen als ein Ereignis begreift, das einen Riss zwischen Tat und Wort herbeiführt, das die Erzählbarkeit der Welt für einen Moment unterbricht, dann kommen dem Gericht zwei Aufgaben zu: Natürlich muss es die Tat einem Urheber zuordnen; aber zunächst hat es den Riss in der symbolischen Ordnung zu kitten, das verstörende Geschehen erzählbar zu machen. Das tut die Rechtsprechung, indem sie für alle Verbrechen – und noch für die wüstesten, unvorstellbaren unter ihnen – einen formalisierten Rahmen errichtet.
Die Arbeit des Gerichts, sagt Vismann, ist ein „Zeremoniell der Sprachwerdung“. Und genau aus diesem Grund muss die letzte Beratung der Richter und Schöffen, zwischen den Plädoyers und dem Urteilsspruch, jenseits dieses Zeremoniells stattfinden, hinter verschlossenen Türen, vom Protokollzwang ausgeklammert. Denn diese Beratung markiert den einzigen Moment, in dem sich so etwas wie ein Zaudern des Gerichts zeigen darf, ein Element von Willkür und Improvisation, das nötig ist, um den Sprung vom Zusammentragen der Fakten zum finalen Urteil zu riskieren. Diese prekäre Phase darf vom theatralen Prinzip des Gerichts niemals erfasst werden (und deshalb wird der berühmte Film, der genau dies versucht hat – Sidney Lumets „Die zwölf Geschworenen“ – von Vismann als misslungen abgekanzelt).
Als Sonderform der Rechtsprechung erscheint das „Tribunal“, im Unterschied zum ordentlichen Gericht. Es gibt für diesen Verfahrenstyp keine rechtliche Definition, wie Vismann schreibt; unbestritten ist nur, dass es hier weniger um das Ermitteln einer noch unsicheren Wahrheit geht als vielmehr um die möglichst sichtbare Präsentation der bereits gefundenen. Tribunale, in denen Richter und Ankläger identisch sind, stellen sich als Gründungsstätten kollektiver Erinnerung dar (wie es die Aufarbeitung der NS-Gräuel in Nürnberg, des RAF-Terrorismus in Stammheim oder des Jugoslawienkriegs in Den Haag belegen).
Am anschaulichsten wird die Differenz von Gericht und Tribunal, wenn man ihr jeweiliges Verhältnis zu technischen Medien im Prozessverlauf beobachtet. Das ordentliche Gericht, in einem geschlossenen, oft fensterlosen Raum, stellt eine hermetische Sphäre her, weil es sich in seiner sprachlichen Rekonstruktion der Ereignisse genügt. Öffentlichkeit begrenzt sich auf die Gemeinschaft anwesender Zuschauer. Seit dem Aufkommen der Fotografie hat das Gericht jede neue Medientechnologie als Konkurrenz empfunden, denn zur theatralen Anordnung des Prozesses gehört es, dass allein den Worten des Richters die Diskurshoheit im Saal zukommt. Das Fernsehen, das in seiner unmittelbaren Abbildung des Geschehens diese Hoheit in Frage stellen würde, ist deshalb bis heute aus dem Gerichtssaal ausgeschlossen. Nur jene trägen Medien, die eine nachträgliche Übersetzung des Prozessablaufs leisten müssen, sind zugelassen: die Presse und der so anachronistisch wirkende Gerichtszeichner.
Das Tribunal dagegen, das ein Gerichtsverfahren mit einer gültigen Geschichtsversion verbinden will, kann an jedem denkbaren Ort errichtet werden. Sein Hauptanliegen besteht in der Optimierung der öffentlichen Reichweite. Tribunale sind daher seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts immer auch Erprobungsforen für avancierte Technologie gewesen (zuletzt die kontinuierliche Online-Übertragung des Milosevic-Prozesses). In Nürnberg 1945 feierte das Medium Film doppelte Premiere im Gerichtssaal; es war das erste Mal, dass Filmbilder als Beweismittel vorgeführt wurden und Kameras einen Prozess aufnahmen. Zudem wurde die neue Konferenz-Technik der Simultanübersetzung verwendet. Vismanns Überlegungen zum Status der Medien in den Nürnberger Prozessen, zur schockhaften Evidenz der Filme aus den Konzentrationslagern und zur Herrschaft der Übersetzungsanlage, die sogar den Richter zum Befehlsempfänger degradierte, sind ein atemberaubendes Glanzstück des Buches.
Wie durchlässig die Schicht zwischen Gerichtsprozess und Tribunal ist, hat man in den letzten Monaten im Verfahren gegen Jörg Kachelmann erkennen können. Nach der Lektüre dieses Buches sieht man das Wuchern der Berichterstattung rund um den Fall noch einmal unter neuen Gesichtspunkten. Wie gerne hätte man Cornelia Vismann als Beobachterin dieses Prozesses erlebt! Sie hätte einen Gegenpol gebildet zu all jenen Gerichtsreportern, die ihre Aufgabe inzwischen darin erkennen, möglichst pointiert Partei zu ergreifen, sich an ihrem allenfalls marginalen Anteil an der Urteilsfindung selbst zu berauschen. Vismanns Blick auf die mediale Fabrikation der juristischen Wahrheit wäre in diesem Prozess besonders notwendig gewesen. Doch als die Verhandlung im Juli 2010 begann, hatte die bloß neunundvierzig Jahre alt gewordene Professorin an der Universität Weimar nur noch einige Wochen zu leben. Ihr Vermächtnis ist dieses Buch, das allen, die sich praktisch oder wissenschaftlich in der Sphäre der Rechtspflege bewegen, ein Paar neue Augen verleiht.
ANDREAS BERNARD
CORNELIA VISMANN: Medien der Rechtsprechung. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011, 464 S., 22,95 Euro.
Jeder ordentliche Prozess ist
ein Wettkampf und folgt einer
standardisierten Dramaturgie
Die Arbeit des Gerichts ist
ein „Zeremoniell
der Sprachwerdung“
Fernsehbilder stellen die
Diskurshoheit in Frage, die allein
den Worten des Richters gebührt
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Das große Theater des Rechts
Von Aktenversendung, alten Gottesurteilen und der Stimme vor Gericht: Cornelia Vismanns groß angelegter Versuch, die ganze Jurisprudenz von den Medien her verständlich zu machen.
Von Winfried Hassemer
Ich weiß nicht, wie weit verbreitet die ehrwürdige Sottise noch ist, die Jurisprudenz und Rechtsprechung mit dem Adjektiv "trocken" verknüpft und damit Schlüsse auf das Beschaffensein derer gestattet, die sich das zum Beruf gemacht haben. Ich weiß aber, wie arm Juristen dran sind und wie schlecht sie im professionellen Alltag zurechtkommen, wenn sie keine Phantasie für Verknüpfungen haben, keinen Sinn für Proportionen oder kein Gefühl für Verletzungen anderer Menschen. Und ich sehe mit Freude und Zustimmung, dass die am weitesten verbreitete juristische Zeitschrift, die "Neue Juristische Wochenschrift", die ein ungemein offenes Ohr für die "Bedürfnisse der Praxis hat", es sich immer noch angelegen sein lässt, von Zeit zu Zeit ein ganzes Heft dem Verhältnis von Jus und Kunst zu widmen, wo dann die üblichen Verdächtigen, aber auch frische Pensionäre über Stücke schreiben, deren Nähe zur Jurisprudenz sie entdeckt haben, oder über den (durchaus verbreiteten) Kunstsinn berühmter Juristen.
Und ich erinnere mich auch an die Dankbarkeit aufmerksamer Richter oder Anwälte angesichts von Forschungen aus Philosophie, Sozialwissenschaften oder Wissenschaftstheorie: von Forschungen, die Rechtsprechung und Jurisprudenz für sich entdeckt haben und an ihnen Denkweisen, Systeme oder auch nur Settings verallgemeinern oder exemplifizieren: Dankbarkeit, weil an solchen Forschungen kenntlich wird, dass, wie und in welch weitem Umfang das Recht unser Leben bestimmt; dass die Juristen nicht auf einer exotischen Insel siedeln und dass es sich für andere Wissenschaften lohnen kann, der Juristerei auf den Grund zu gehen.
Auf diese Dankbarkeit kann auch die Studie von Cornelia Vismann rechnen. Sie beschenkt die Juristen - nicht nur, wie der Titel das allzu bescheiden ankündigt, aus der Rechtsprechung, sondern auch aus der Wissenschaft: eben die gesamte Jurisprudenz - mit der tief begründeten und weit ausgeführten Verallgemeinerung ihres Tuns. Und sie beschenkt die Medienleute - Buch, Hörfunk, Film, Fernsehen, Internet - mit einer Fülle klug ausgewählter und sorgsam geordneter Beispiele aus ihrer Profession.
Die Autorin hat den Überblick in Theorie und Praxis, ohne den eine solche Zusammenführung in Naivität oder Verkürzung enden muss. Sie war bis zu ihrem frühen Tod vor etwa einem Jahr Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken in Weimar, hatte Recht und Philosophie studiert, als Rechtsanwältin gearbeitet und im Bereich von Medien und Recht vielfältig publiziert. Die Herausgeber, mit kultur- und rechtswissenschaftlicher Kompetenz, berichten in ihrem Vorwort von ihrer ersten Arbeitss'itzung mit Cornelia Vismann und der letzten wenige Tage vor dem Tod der Autorin; da war das Buch praktisch fertig.
In diesem Werk findet nicht bloß irgendeine Zusammenführung von "Recht und Medien" statt, es beschränkt sich auch nicht auf eine Parallelisierung oder Nachzeichnung von Differenzen und Gemeinsamkeiten, wie wir das so kennen. Das Buch nimmt sich nicht weniger als die wissenschaftliche Entwicklung des einen am anderen vor, es verfolgt das Ziel beileibe nicht nur die Rechtsprechung, sondern die Jurisprudenz in Theorie, Praxis und Politik von ihren Medien her zu begreifen, ihre Entwicklung zu verstehen, zu beurteilen und vorherzusagen. Und es will in der Verwendung von Medien im Recht einen Grund und einen Sinn entdecken, der zugleich dieses Recht erklären kann. Hier werden nicht Holzstückchen artig zu einem Bild zusammengefügt; hier wird ein dickes Brett gebohrt.
In einem ersten Teil ("Dispositive") werden die theoretischen Grundlagen gelegt, wird der Sprachgebrauch, so gut es geht, klargestellt und wird jeweils ein Beispiel ausführlich besprochen: ein theatrales Dispositiv, das eher in der wohlgeordneten Rechtspflege beheimatet ist (Gerichtstheater: Kleists "Der zerbrochne Krug") und ein agonales Dispositiv, das mit Tribunal, mit Drama, mit Überraschung, mit Kampf assoziiert und an Aischylos' "Eumeniden" vorgeführt wird. Die Autorin bezieht ihre Vorstellung von "Dispositiven" aus dem begrifflichen Haushalt von Michel Foucault - sie umfassen also Anlagen, Strategien, aber auch Redeweisen und Techniken. Für Vismann beschreiben die theatrale und die agonale Dimension das Gericht und sein Tun ziemlich vollständig. Sie arbeitet von Anfang bis Ende mit dieser Unterscheidung, beispielsweise in einer ausführlichen Analyse der Kleistschen Erzählung "Der Zweikampf", wo Theater und Agon, Gericht und Tribunal, Untersuchung und Zweikampf, Wahrheit und Obsiegen gegeneinander gesetzt, mit Konturen und mit Farben versehen werden.
In einem zweiten Teil ("Medien") machen wir uns, so ausgerüstet, auf ins Gelände. Hier begegnen uns alsbald Akten, die schillernden Garanten des Gewesenen. Wir sehen sie aber nur von ferne; das Buch ist vielmehr von der Praxis und der Theorie der Aktenversendung - von den Richtern an externe Gutachter und zurück - fasziniert. An deren Auf und Ab im Lauf der Jahrhunderte lassen sich nämlich Typen von "Fernrechtsprechung", die Rollen von fremden Gutachtern oder die Bedeutung von Schriftlichkeit studieren.
Das Medium der "Stimme vor Gericht" (Mündlichkeit) und das Prinzip der Öffentlichkeit rufen die Träume der Aufklärung herauf, Durchsichtigkeit und Kontrollierbarkeit der Rechtsprechung zu erreichen und für immer zu sichern. Fotografien und Gerichtszeichnungen, das Kino im Gericht und in seiner Nacherzählung von gerichtlichen Verfahren sowie das Fernsehen werden dabei beobachtet, wie sie die Dispositive verschieben, die Rollen neu zuschneiden, die Erwartungen steigern und damit unerfüllbar machen und die Verfahrensautonomie faktisch an sich ziehen. In den neuesten Entwicklungen einer "Transitional Justice" wie etwa dem International Tribunal for the Former Yugoslawia (ICTY) sieht die Autorin "Rechtsprechungs-Technologie auf dem neusten Stand", nämlich ein Tribunal, das keines sein will, und ein Gericht, das keines ist, mit einem Verfahren unbestimmter Art, das sich in der "Serialität ihrer jeweiligen Verfahren" mit dem kommerziellen Gerichtsfernsehen trifft - auf der heimischen Couch.
Das ist starker Tobak, bei dem nicht wenige ins Hüsteln geraten werden. Auch die Sprache, in der dieses Buch daherkommt, wird nicht allen passen; sie funkelt und tanzt bisweilen bis zur Grenze der semantischen Seriosität. Frau Vismann ist auch in dieser Hinsicht bei den französischen Historikern und Sozialwissenschaftlern in die Lehre gegangen und stützt sich, was die deutschen Traditionen angeht, vor allem auf den Luhmann von "Legitimation durch Verfahren", also auf eine Schrift in einer Sprache, die sich - den französischen Bezugsfiguren nicht ganz unähnlich - durch Wagemut, Erfindungsreichtum und Verknüpfungsgabe auszeichnet.
Die Faszination durch Luhmann mag auch bewirkt haben, dass das Konzept von Wahrheit und Gerechtigkeit, dem das Buch folgt, entschieden prozedural und damit einseitig geprägt ist: Das Verfahren ist es, das - auch beim theatralen Dispositiv - das Ergebnis generiert und trägt. Aber eben nicht begründet. Die Chancen und Vorgaben des materiellen Rechts als Hoffnungsträger eines gerechten Ergebnisses sind also unterbelichtet. Der Beckmesser wird notieren, bisweilen sei der Gaul der Erzählfreude mit der Autorin durchgegangen; ihm leuchte beispielsweise nicht ein, was über Seiten hinweg ausgebreitete technische und physische Kniffligkeiten beim Simultandolmetschen mit der Rechtsprechung zu tun haben sollten.
Vor allem aber wird man einwenden, der Blick dieser Konzeption reiche nicht bis zu "der" Rechtsprechung: Er sehe nicht deren Alltag hinter Aktenbergen und Routinen, er registriere nicht die abgekürzten Verfahren, die Zeitnot der Tatrichter, die generelle Rückführung des Mündlichkeitsprinzips, die verheerende Ausdünnung der Kollegialgerichte, die jeweils spezifischen Methoden, Pragmatiken und Settings der spezifischen Rechtsgebiete. Stattdessen sei der Fokus auf spektakuläre Teile des Strafrechts und auf das Verfassungsrecht verengt; das aber seien Felder, auf denen anderes gesät und geerntet werde als etwa im Arbeitsrecht oder im Recht des Verbraucherschutzes.
So oder so wird man das alles mit Gründen vortragen können. Solche Einwände aber mindern den Reichtum dieses mutigen und gelehrten Textes nicht und trüben nicht seinen Glanz. Da Buch schlägt eine Schneise. Von seiner Autorin hätte ich gerne noch mehr gehört und gelesen.
Cornelia Vismann: "Medien der Rechtsprechung".
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2011. 464 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Aktenversendung, alten Gottesurteilen und der Stimme vor Gericht: Cornelia Vismanns groß angelegter Versuch, die ganze Jurisprudenz von den Medien her verständlich zu machen.
Von Winfried Hassemer
Ich weiß nicht, wie weit verbreitet die ehrwürdige Sottise noch ist, die Jurisprudenz und Rechtsprechung mit dem Adjektiv "trocken" verknüpft und damit Schlüsse auf das Beschaffensein derer gestattet, die sich das zum Beruf gemacht haben. Ich weiß aber, wie arm Juristen dran sind und wie schlecht sie im professionellen Alltag zurechtkommen, wenn sie keine Phantasie für Verknüpfungen haben, keinen Sinn für Proportionen oder kein Gefühl für Verletzungen anderer Menschen. Und ich sehe mit Freude und Zustimmung, dass die am weitesten verbreitete juristische Zeitschrift, die "Neue Juristische Wochenschrift", die ein ungemein offenes Ohr für die "Bedürfnisse der Praxis hat", es sich immer noch angelegen sein lässt, von Zeit zu Zeit ein ganzes Heft dem Verhältnis von Jus und Kunst zu widmen, wo dann die üblichen Verdächtigen, aber auch frische Pensionäre über Stücke schreiben, deren Nähe zur Jurisprudenz sie entdeckt haben, oder über den (durchaus verbreiteten) Kunstsinn berühmter Juristen.
Und ich erinnere mich auch an die Dankbarkeit aufmerksamer Richter oder Anwälte angesichts von Forschungen aus Philosophie, Sozialwissenschaften oder Wissenschaftstheorie: von Forschungen, die Rechtsprechung und Jurisprudenz für sich entdeckt haben und an ihnen Denkweisen, Systeme oder auch nur Settings verallgemeinern oder exemplifizieren: Dankbarkeit, weil an solchen Forschungen kenntlich wird, dass, wie und in welch weitem Umfang das Recht unser Leben bestimmt; dass die Juristen nicht auf einer exotischen Insel siedeln und dass es sich für andere Wissenschaften lohnen kann, der Juristerei auf den Grund zu gehen.
Auf diese Dankbarkeit kann auch die Studie von Cornelia Vismann rechnen. Sie beschenkt die Juristen - nicht nur, wie der Titel das allzu bescheiden ankündigt, aus der Rechtsprechung, sondern auch aus der Wissenschaft: eben die gesamte Jurisprudenz - mit der tief begründeten und weit ausgeführten Verallgemeinerung ihres Tuns. Und sie beschenkt die Medienleute - Buch, Hörfunk, Film, Fernsehen, Internet - mit einer Fülle klug ausgewählter und sorgsam geordneter Beispiele aus ihrer Profession.
Die Autorin hat den Überblick in Theorie und Praxis, ohne den eine solche Zusammenführung in Naivität oder Verkürzung enden muss. Sie war bis zu ihrem frühen Tod vor etwa einem Jahr Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken in Weimar, hatte Recht und Philosophie studiert, als Rechtsanwältin gearbeitet und im Bereich von Medien und Recht vielfältig publiziert. Die Herausgeber, mit kultur- und rechtswissenschaftlicher Kompetenz, berichten in ihrem Vorwort von ihrer ersten Arbeitss'itzung mit Cornelia Vismann und der letzten wenige Tage vor dem Tod der Autorin; da war das Buch praktisch fertig.
In diesem Werk findet nicht bloß irgendeine Zusammenführung von "Recht und Medien" statt, es beschränkt sich auch nicht auf eine Parallelisierung oder Nachzeichnung von Differenzen und Gemeinsamkeiten, wie wir das so kennen. Das Buch nimmt sich nicht weniger als die wissenschaftliche Entwicklung des einen am anderen vor, es verfolgt das Ziel beileibe nicht nur die Rechtsprechung, sondern die Jurisprudenz in Theorie, Praxis und Politik von ihren Medien her zu begreifen, ihre Entwicklung zu verstehen, zu beurteilen und vorherzusagen. Und es will in der Verwendung von Medien im Recht einen Grund und einen Sinn entdecken, der zugleich dieses Recht erklären kann. Hier werden nicht Holzstückchen artig zu einem Bild zusammengefügt; hier wird ein dickes Brett gebohrt.
In einem ersten Teil ("Dispositive") werden die theoretischen Grundlagen gelegt, wird der Sprachgebrauch, so gut es geht, klargestellt und wird jeweils ein Beispiel ausführlich besprochen: ein theatrales Dispositiv, das eher in der wohlgeordneten Rechtspflege beheimatet ist (Gerichtstheater: Kleists "Der zerbrochne Krug") und ein agonales Dispositiv, das mit Tribunal, mit Drama, mit Überraschung, mit Kampf assoziiert und an Aischylos' "Eumeniden" vorgeführt wird. Die Autorin bezieht ihre Vorstellung von "Dispositiven" aus dem begrifflichen Haushalt von Michel Foucault - sie umfassen also Anlagen, Strategien, aber auch Redeweisen und Techniken. Für Vismann beschreiben die theatrale und die agonale Dimension das Gericht und sein Tun ziemlich vollständig. Sie arbeitet von Anfang bis Ende mit dieser Unterscheidung, beispielsweise in einer ausführlichen Analyse der Kleistschen Erzählung "Der Zweikampf", wo Theater und Agon, Gericht und Tribunal, Untersuchung und Zweikampf, Wahrheit und Obsiegen gegeneinander gesetzt, mit Konturen und mit Farben versehen werden.
In einem zweiten Teil ("Medien") machen wir uns, so ausgerüstet, auf ins Gelände. Hier begegnen uns alsbald Akten, die schillernden Garanten des Gewesenen. Wir sehen sie aber nur von ferne; das Buch ist vielmehr von der Praxis und der Theorie der Aktenversendung - von den Richtern an externe Gutachter und zurück - fasziniert. An deren Auf und Ab im Lauf der Jahrhunderte lassen sich nämlich Typen von "Fernrechtsprechung", die Rollen von fremden Gutachtern oder die Bedeutung von Schriftlichkeit studieren.
Das Medium der "Stimme vor Gericht" (Mündlichkeit) und das Prinzip der Öffentlichkeit rufen die Träume der Aufklärung herauf, Durchsichtigkeit und Kontrollierbarkeit der Rechtsprechung zu erreichen und für immer zu sichern. Fotografien und Gerichtszeichnungen, das Kino im Gericht und in seiner Nacherzählung von gerichtlichen Verfahren sowie das Fernsehen werden dabei beobachtet, wie sie die Dispositive verschieben, die Rollen neu zuschneiden, die Erwartungen steigern und damit unerfüllbar machen und die Verfahrensautonomie faktisch an sich ziehen. In den neuesten Entwicklungen einer "Transitional Justice" wie etwa dem International Tribunal for the Former Yugoslawia (ICTY) sieht die Autorin "Rechtsprechungs-Technologie auf dem neusten Stand", nämlich ein Tribunal, das keines sein will, und ein Gericht, das keines ist, mit einem Verfahren unbestimmter Art, das sich in der "Serialität ihrer jeweiligen Verfahren" mit dem kommerziellen Gerichtsfernsehen trifft - auf der heimischen Couch.
Das ist starker Tobak, bei dem nicht wenige ins Hüsteln geraten werden. Auch die Sprache, in der dieses Buch daherkommt, wird nicht allen passen; sie funkelt und tanzt bisweilen bis zur Grenze der semantischen Seriosität. Frau Vismann ist auch in dieser Hinsicht bei den französischen Historikern und Sozialwissenschaftlern in die Lehre gegangen und stützt sich, was die deutschen Traditionen angeht, vor allem auf den Luhmann von "Legitimation durch Verfahren", also auf eine Schrift in einer Sprache, die sich - den französischen Bezugsfiguren nicht ganz unähnlich - durch Wagemut, Erfindungsreichtum und Verknüpfungsgabe auszeichnet.
Die Faszination durch Luhmann mag auch bewirkt haben, dass das Konzept von Wahrheit und Gerechtigkeit, dem das Buch folgt, entschieden prozedural und damit einseitig geprägt ist: Das Verfahren ist es, das - auch beim theatralen Dispositiv - das Ergebnis generiert und trägt. Aber eben nicht begründet. Die Chancen und Vorgaben des materiellen Rechts als Hoffnungsträger eines gerechten Ergebnisses sind also unterbelichtet. Der Beckmesser wird notieren, bisweilen sei der Gaul der Erzählfreude mit der Autorin durchgegangen; ihm leuchte beispielsweise nicht ein, was über Seiten hinweg ausgebreitete technische und physische Kniffligkeiten beim Simultandolmetschen mit der Rechtsprechung zu tun haben sollten.
Vor allem aber wird man einwenden, der Blick dieser Konzeption reiche nicht bis zu "der" Rechtsprechung: Er sehe nicht deren Alltag hinter Aktenbergen und Routinen, er registriere nicht die abgekürzten Verfahren, die Zeitnot der Tatrichter, die generelle Rückführung des Mündlichkeitsprinzips, die verheerende Ausdünnung der Kollegialgerichte, die jeweils spezifischen Methoden, Pragmatiken und Settings der spezifischen Rechtsgebiete. Stattdessen sei der Fokus auf spektakuläre Teile des Strafrechts und auf das Verfassungsrecht verengt; das aber seien Felder, auf denen anderes gesät und geerntet werde als etwa im Arbeitsrecht oder im Recht des Verbraucherschutzes.
So oder so wird man das alles mit Gründen vortragen können. Solche Einwände aber mindern den Reichtum dieses mutigen und gelehrten Textes nicht und trüben nicht seinen Glanz. Da Buch schlägt eine Schneise. Von seiner Autorin hätte ich gerne noch mehr gehört und gelesen.
Cornelia Vismann: "Medien der Rechtsprechung".
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2011. 464 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Susanne Baer, Richterin am Verfassungsgericht, findet in ihrer Besprechung sehr lobende Worte für Cornelia Vismanns Buch "Medien der Rechtsprechung" und wünscht ihm viele Leser. Die im letzten Jahr gestorbene Juristin und Kulturwissenschaftlerin argumentiert darin, dass mit zunehmendem Gewicht der Medien aus der Inszenierung des Gerichts als Theater ein Tribunal wird, also ein Schauprozess, bei dem die Rechtsprechung mit außergerichtlichen Mitteln erfolgt, erklärt die Rezensentin. Ihr Buch zeichnet sich durch das Heranziehen von Literatur, Rechtsgeschichte, Prozessordnung, Psychoanalyse, Diskursanalyse oder Filmwissenschaft aus, wie Baer begeistert feststellt, und sie findet, dass sich dieses Verfahren als äußerst lohnenswert herausstellt. Sie preist den "Facettenreichtum" und die Gelehrsamkeit dieses Werks. Und die sich zwischen den Zeilen aussprechende "Sorge" Vismanns, das Tribunal könne gegenüber dem gerichtlichen Theater durch die Macht der Medien die Oberhand gewinnen, teilt die Rezensentin offensichtlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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