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Ein eindringlicher Roman darüber, wie der Maler, Fotograf und Filmemacher Prohaska die Grausamkeit des 20. Jahrhunderts zu bannen versucht.

Produktbeschreibung
Ein eindringlicher Roman darüber, wie der Maler, Fotograf und Filmemacher Prohaska die Grausamkeit des 20. Jahrhunderts zu bannen versucht.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2014

Der kaltblütige Fotograf
Künstler in Zeiten der Diktaturen: Ricardo Menéndez Salmóns „Medusa“
Nach dem Krieg flüchtet Prohaska nach Spanien, Karl Gustav Friedrich Prohaska, lange Zeit Fotograf und Filmemacher im Dienst der Nazis. In einem Gefängnis in Gijón nimmt er ein Hochzeitspaar auf, zwei republikanische Häftlinge, eingesperrt von Francos Schergen. Er, heißt es, trägt einen unmöglichen Anzug, zusammengeflickt aus Kleiderresten; sie, hochschwanger, eine Art mit Sicherheitsnadeln befestigte Gardine. Beide mit geschorenen Köpfen; sie blicken zu Boden. Es ist das Foto einer Demütigung. Ausgerechnet dieses Foto steht, neben Familien- und Künstlerfotos, auf dem Schreibtisch eines Historikers, der wie besessen davon ist. Denn es entstand in seiner Stadt Gijón, und es erzählt von Spanien, seinem Land. Nie sei Prohaska ihm so nah gekommen. Der Historiker begibt sich auf die Spur des Fotografen. Alles, was er herausgefunden hat, weit weniger als erhofft, enthält der Roman „Medusa“.
Auch der Autor Ricardo Menéndez Salmón ist in Gijón geboren, 1971. Seit ein paar Jahren wird er in Spanien mit Preisen und guten Kritiken bedacht. Mit der Figur des Historikers hat er einen Ich-Erzähler erfunden, der, bewandert in Zeitgeschichte, immer wieder ins Essayistische schweift. Das klappt streckenweise so gut, dass man unweigerlich zu googeln anfängt. Hat es diesen Prohaska wirklich gegeben? Nein, hat es nicht. Längst bilden ausgedachte Romanbiografien ein eigenes Genre. Im Interview mit La Vanguardia verweist Salmón auf W.G. Sebald, Pierre Michon und Enrique Vila-Matas. Erst letztes Jahr ist ein Kurzroman von Alberto Manguel auf Deutsch erschienen, „Ein allzu penibler Liebhaber“. Verkleidet in das Gewand eines Essays, spürt auch dieses Buch den Obsessionen eines vorgetäuscht realen Fotografen nach. Dieser schwärmt für jede Einzelheit des nackten Körpers. Und weil er in einem öffentlichen Bad angestellt ist, knipst er am liebsten durch die Ritzen von Duschkabinen.
  Während Manguel lässig die Augenlust feiert, tut sich Salmón schwer damit. Denn Prohaska, sein Fotograf, dokumentiert nichts als das Grauen. Angeheuert vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, fotografiert oder filmt er die Verbrechen der Nazi-Deutschen: Krieg in Polen, maschinell ausgeführte Exekutionen in Litauen, medizinische Experimente mit Gefangenen im KZ Dachau. Schon 1936 dreht er im Spanischen Bürgerkrieg seinen ersten Film, eine Doku über deutsche Bomberpiloten der Legion Condor. Hier, glaubt der Historiker, zeige sich Prohaskas Genie – „die Welt zu zeigen, wie sie ist, jedoch mit winzigen Abweichungen, minimalen Korrekturen (dem Verzicht auf Ton zum Beispiel, einem bewussten Aufnahmefehler oder einer leichten Unschärfe), die von innen her sprengen, was das Bild suggeriert.“ Mit diesen Worten erhebt er seinen zwielichtigen Helden vom Kriegspropagandisten zum Autorenfilmer.
Im Stillen scheint Salmón zu ahnen, wie brüchig seine Konstruktion ist. Darum bietet er einiges auf, um Prohaska menschlich zu zeichnen. Kindheit an der Nordsee, Skizzen von der Mutter, die Liebe zu seiner Frau, der frühe Verlust des Sohnes. Und als wäre das alles nicht genug, dichtet er ihm noch einen jüdischen Freund an, Jakob Stelenski. Ausgerechnet im KZ Dachau begegnen sie einander wieder, der eine auf Seiten der Täter, der andere auf Seiten der Opfer. Der kaltblütige Doku-Filmer und der geschundene Häftling. Dass diese Freundschaft alles überdauert, muss man schlucken. Nach dem Krieg wird Stelenski zu Prohaskas Mentor. Und während Prohaska durch die Welt flieht, ins Franco-Spanien, ins Somoza-Nicaragua und nach Japan, während er unaufhörlich filmt, fotografiert und malt, Gräuel und Verbrechen, die Leiden der Opfer, unternimmt Stelenski alles, um ihn zu einem berühmten Künstler zu machen.
Es sieht so aus, als hätte Salmón sein Thema nicht ganz gepackt. Eine Künstlerbiografie in Zeiten der Diktaturen. Obwohl völlig klar ist, was er sagen will, versteckt sich lieber hinter moralischer Rhetorik: „Darf man das Werk eines Menschen verteidigen, der Hinrichtungen per Kopfschuss filmte, das Hängen achtjähriger Kinder, tödliche Eingriffe an Schwangeren zu Forschungszwecken, das Eintauchen in Behälter mit eiskaltem Wasser ohne Betäubung, um die Schmerzempfindlichkeit zu untersuchen, und der all das tat, ohne sich ein einziges Mal zu beklagen?“ Salmón stellt diesen Künstler vor extreme Situationen. Warum eigentlich? Weil er es darunter nicht machen will. Aber das rächt sich.
Noch dazu hält der Autor seinen Ich-Erzähler, den Historiker, zu einer Reihe von banalen Reflexionen an. „Abgründe“, ja, „Dunkelheit unseres Daseins“, die Welt ist böse, jaja. Das wirkt angestrengt und verspielt den verwegenen Ansatz des Romans. In „Wakolda“, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, hat Lucía Puenzo unlängst vorgemacht, wie man mit monströsen Figuren aus der Nazi-Zeit umgehen kann, eine Josef-Mengele-Fantasie über die argentinischen Jahre, leicht erzählt und so ungeheuerlich, dass einem der Atem stockt. Davon ist „Medusa“ in seiner schwitzenden Gewolltheit weit entfernt.
Dabei hätte der Autor alles, was er braucht, von seiner Figur Prohaska lernen können. Offene Augen, ein kalter Blick, ein heißes Herz. Beim Genre der erfundenen Biografien denkt man natürlich auch an Roberto Bolaño, an die ausgedachten Dichter und die ausgedachten Werke. In „Die Naziliteratur in Amerika“ widmet er den bösen Schreibern ein ganzes Handbuch. Kein Vorwort, keine Erklärung. Darf man? Darf man nicht? Das sind keine künstlerischen Fragen. Die Welt ist alles, was der Fall ist.
RALPH HAMMERTHALER
Ricardo Menéndez Salmón: Medusa. Roman. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014. 144 Seiten, 15,90 Euro.
Darf man das Werk eines
Menschen verteidigen, der
Hinrichtungen filmte?
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