Dieser Roman von Alban Nikolai Herbst erzählt von der Liebe eines ungleichen Paars: vom Maler Fichte alias Julian v.Kalkreuth, dem die Nazi-Bürde seines Namens nichts anderes übrig lässt, als sich neu zu erfinden, und von Irene Adhanari, einer jungen indischstämmigen Deutschen. Ein Buch der provozierenden Grenzüberschreitungen zwischen Körpern, Kunst und Leben, Land und Meer. Eine amour fou zwischen Berlin, Sizilien und Polen. Ein literarischer Amoklauf gegen die billigen Kompromisse, vermeintlichen Gewissheiten und bequemen Lebenslügen der Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Julia Encke weist zunächst darauf hin, dass dieses Buch inzwischen verboten und die "justiziable" Literatur "das Ereignis des Bücherherbstes" 2003 ist, rekapituliert dann die, etwa in der FAZ, an die jüngste Entdeckung des Intimen und Sexuellen durch die Literatur geknüpften Beunruhigungen und fragt schließlich, "ob die Grenzüberschreitung tatsächlich so radikal ist". Wer nämlich "etwas sehr Schlimmes" erwarte, werde im Falle dieses Buches ganz bestimmt enttäuscht. Der Rezensentin ist dagegen vor allem aufgefallen, dass einen die hier erzählte Liebesgeschichte zwischen dem Künstler mit dem Künstlernamen "Fichte" und der indischen Astrophysikstudentin Irene, die "wilder Rausch sein soll", doch "seltsam unberührt" lasse. Aufgefallen ist ihr außerdem, dass "die Dialogsätze fast alle mit Ausrufezeichen versehen sind", als sei "das überaus große Begehren" bei diesem Autor "von der Sprache in die Satzzeichen verlagert". Da "Meere" aber nicht nur diese Liebesgeschichte erzählt, sondern auch noch eine andere, mit ebenfalls autobiografischem Hintergrunde, fällt das Gesamturteil der Rezensentin milder aus. Wenn etwas anrühre in diesem Roman, so sei es nämlich diese Geschichte über das Leiden von Fichte darunter, Enkel eines Nazi-Verbrechers zu sein. Hier reiche dann der "plötzliche Wechsel vom Er ins Ich und ins Du", mit dem weit mehr gesagt werde, als mit allen Sexszenen zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2003Der Raum der Schuld ist leer
Nicht wirklich tauglich zum Skandal – Alban Nikolai Herbsts Roman „Meere”
Ein Buch wurde verboten, es ist viel darüber geschrieben worden. Über den Autor Alban Nikolai Herbst und seine Ex-Freundin, die sich in der weiblichen Hauptfigur wiedererkannte und vor Gericht zog; über die Plädoyers der Anwälte, die Eigentümlichkeiten Berliner Behördengeschöpfe und den stummen Protokollanten Rainald Goetz, der vergangene Woche während der ganzen Verhandlung im Gerichtssaal saß und mitschrieb (SZ vom 25. Oktober). Die justiziable Literatur ist Ereignis des Bücherherbstes. Doch hat man über die Romane selbst bei all dem wenig erfahren. Worum es in Herbsts „Meere” oder Maxim Billers „Esra” geht, weiß niemand so genau: Alle reden darüber, aber gelesen hat die Bücher selten jemand, mit dem man spricht.
Dass Intimes und Autobiografisches verhandelt wird, hat allerdings jeder mitbekommen. Inzwischen ist die Debatte so hitzig, dass der Schriftsteller Christoph Hein es sich im Spiegel nicht nehmen ließ, die Urheber der Indiskretion mit Vergewaltigern zu vergleichen: Was er von dem Argument halte, dass sich die dargestellten Personen erst durch den Gang zum Gericht erkennbar gemacht hätten, wurde er gefragt. „Das”, so Heins Antwort, sei „ein Paradox, das bei anderen Bloßstellungen auch zutreffe. Wir wissen, dass viele vergewaltigte Frauen den Auftritt vor Gericht scheuen. Aber das sollte den Vergewaltiger nicht unbedingt beruhigen.”
Und beunruhigt war in ganz anderer Hinsicht vor gut einem Monat auch die FAZ, die die justiziablen Bücher unter Pornografieverdacht stellte: Die deutsche Gegenwartsliteratur habe den Sex entdeckt, hieß es da. Auf „drastische, verstörende, möglicherweise abstoßende Weise” gewährten die Bücher von Biller, Herbst und daneben auch die „Liebeserklärung” von Michael Lentz Einblick in das Intimleben ihrer Figuren, die alles in den Schatten stellten, was des Nachts auf deutschen Fernsehkanälen zu sehen sei: „Erotik war einmal, dies ist Hardcore.”
Fragt sich nur, ob die Grenzüberschreitung tatsächlich so radikal ist. Ob es wirklich um Hardcore geht oder einfach nur um Sex, so wie es in der Literatur, seitdem es sie gibt, in irgendeiner Weise immer auch um physische Liebe gegangen ist. Die ausgelieferten Exemplare von Herbsts „Meere” stehen derzeit noch in den Buchhandlungen. Noch ist es also möglich, sich ein Bild davon zu machen, was man sich unter der so genannten pornografischen Literatur symbolischer Vergewaltiger vorzustellen hat. Wer jetzt allerdings etwas sehr Schlimmes erwartet, wird ganz bestimmt enttäuscht. Sicher fällt schon nach wenigen Absätzen dieser leider völlig zusammenhangslos wirkende, also wie aus dem Nichts auftauchende Satz, der einen ratlos stimmt und der auch viel zu vehement erscheint, gemessen an dem wenigen, was zuvor gesagt ist. Ein Künstler mit dem Künstlernamen Fichte begegnet der zwanzig Jahre jungen Inderin Irene, die natürlich besonders schön ist. Sie gehen essen, in Charlottenburg beim Italiener, und bevor er sich von ihr verabschiedet, fluchtartig, sagt er eben mal, als wäre es selbstverständlich: „Ich will dich ficken, bis ich wund bin und du ohnmächtig wirst!”
Aha, denkt man sich. Man nimmt es zur Kenntnis und liest weiter. Und erfährt, beim nächsten Wiedersehen, dass auch für Irene dieser Satz alles andere als selbstverständlich war – wenn auch aus anderen Gründen als für den Leser: „Was ist dir eingefallen? Mir sowas zum Abschied zu sagen . . . und es dann nicht zu tun!”, protestiert sie, wobei die Dialogsätze fast alle mit Ausrufezeichen versehen sind und man von Beginn an den Eindruck nicht los wird, dass die beiden sich vor allem anschreien. Oder: dass das überaus große Begehren bei Alban Nikolai Herbst von der Sprache in die Satzzeichen verlagert ist.
Dass Fichte, der – ungestüm und exzentrisch – alle vor den Kopf stößt und zugleich von allen so sehr geliebt werden will, der Astrophysikstudentin Irene sofort verfällt und sie ihm, ist zwar schon nach wenigen Seiten klar. Doch lässt einen diese Liebe, die wilder Rausch sein soll und die als exzessiver Austausch von Körperflüssigkeiten, von „Meeren”, beschrieben ist, bei allem, was aufgeboten wird, seltsam unberührt. Sie ergreift einen nicht. Reißt nicht mit. Steckt nicht an. Man nimmt sie zur Kenntnis wie den ersten allzu vehementen Satz und wundert sich über gelegentlich eingestreute biologische Begriffe wie „Skrotumhaut”, „gutturales” Aufstöhnen, oder über Sätze wie: „So ist Liebe, jenseits aller Pheromone”.
Herbsts „Meere” erzählt die Geschichte der Verletzungen, die ein erklärtermaßen rasend liebender Mann einer Frau zufügt: einer, der rücksichtslos und um jeden Preis das Unbedingte will, einfach nur „Lust” will und nichts anderes, keine Verantwortung jedenfalls. Dass sie irgendwann geht – die Lust und mit ihr die Geliebte – ist sein großes Unglück. Und so tröstet er sich in Chatforen und mit einer ganzen Liste von Anwärterinnen: der Hostess Sabine aus Basel, der Dienerin Johanna, mit Ines oder der blonden Rebekka von der HdK. Wie Irene ist keine.
Zugleich ist „Meere” aber auch die Geschichte über eine nicht heilen wollende Wunde, die Fichte selbst zugefügt wurde, als er noch nicht Fichte war, sondern – als Enkel des Nazi-Verbrechers Werner von Kalkreuth – Julian von Kalkreuth hieß: „Du wirst auch einmal aufgehängt wie dein Großvater”, sagt der Lehrer unter dem Gelächter der Mitschüler, als er acht oder neun Jahre alt ist. Der Name verfolgt ihn fortan wie ein Fluch: „Wie sollen wir Buße für etwas tun, wenn wir uns nicht persönlich erinnern, wenn der Raum, in dem angeblich unsere Schuld sitzt, leer ist?” Er beschließt, sich neu zu erfinden, gibt sich einen anderen Namen, wird den alten aber nie los.
Wenn etwas anrührt in Herbsts Roman, dann ist es dieser Widerstreit der Stimmen – der v. Kalkreuth in ihm, den Fichte nicht wegreden kann. Über die „Nazi-Bürde” des Autors, der 1955 als Großneffe von Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop geboren wurde und sich den Künstlernamen Alban Nikolai Herbst zulegte, muss man dafür gar nicht unbedingt etwas wissen. Es reicht der plötzliche Wechsel vom Er ins Ich und ins Du. Mit ihm ist weit mehr gesagt, als mit allen Sexszenen zusammen – und das sind immerhin viele. Ein Porno-Skandal ist „Meere” deshalb aber noch nicht.
JULIA ENCKE
ALBAN NIKOLAI HERBST: Meere. Roman. Marebuchverlag, Hamburg 2003. 262 Seiten, 22 Euro.
Alban Nikolai Herbst.
Foto: Susanne Schleyer/Marebuchverlag
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Nicht wirklich tauglich zum Skandal – Alban Nikolai Herbsts Roman „Meere”
Ein Buch wurde verboten, es ist viel darüber geschrieben worden. Über den Autor Alban Nikolai Herbst und seine Ex-Freundin, die sich in der weiblichen Hauptfigur wiedererkannte und vor Gericht zog; über die Plädoyers der Anwälte, die Eigentümlichkeiten Berliner Behördengeschöpfe und den stummen Protokollanten Rainald Goetz, der vergangene Woche während der ganzen Verhandlung im Gerichtssaal saß und mitschrieb (SZ vom 25. Oktober). Die justiziable Literatur ist Ereignis des Bücherherbstes. Doch hat man über die Romane selbst bei all dem wenig erfahren. Worum es in Herbsts „Meere” oder Maxim Billers „Esra” geht, weiß niemand so genau: Alle reden darüber, aber gelesen hat die Bücher selten jemand, mit dem man spricht.
Dass Intimes und Autobiografisches verhandelt wird, hat allerdings jeder mitbekommen. Inzwischen ist die Debatte so hitzig, dass der Schriftsteller Christoph Hein es sich im Spiegel nicht nehmen ließ, die Urheber der Indiskretion mit Vergewaltigern zu vergleichen: Was er von dem Argument halte, dass sich die dargestellten Personen erst durch den Gang zum Gericht erkennbar gemacht hätten, wurde er gefragt. „Das”, so Heins Antwort, sei „ein Paradox, das bei anderen Bloßstellungen auch zutreffe. Wir wissen, dass viele vergewaltigte Frauen den Auftritt vor Gericht scheuen. Aber das sollte den Vergewaltiger nicht unbedingt beruhigen.”
Und beunruhigt war in ganz anderer Hinsicht vor gut einem Monat auch die FAZ, die die justiziablen Bücher unter Pornografieverdacht stellte: Die deutsche Gegenwartsliteratur habe den Sex entdeckt, hieß es da. Auf „drastische, verstörende, möglicherweise abstoßende Weise” gewährten die Bücher von Biller, Herbst und daneben auch die „Liebeserklärung” von Michael Lentz Einblick in das Intimleben ihrer Figuren, die alles in den Schatten stellten, was des Nachts auf deutschen Fernsehkanälen zu sehen sei: „Erotik war einmal, dies ist Hardcore.”
Fragt sich nur, ob die Grenzüberschreitung tatsächlich so radikal ist. Ob es wirklich um Hardcore geht oder einfach nur um Sex, so wie es in der Literatur, seitdem es sie gibt, in irgendeiner Weise immer auch um physische Liebe gegangen ist. Die ausgelieferten Exemplare von Herbsts „Meere” stehen derzeit noch in den Buchhandlungen. Noch ist es also möglich, sich ein Bild davon zu machen, was man sich unter der so genannten pornografischen Literatur symbolischer Vergewaltiger vorzustellen hat. Wer jetzt allerdings etwas sehr Schlimmes erwartet, wird ganz bestimmt enttäuscht. Sicher fällt schon nach wenigen Absätzen dieser leider völlig zusammenhangslos wirkende, also wie aus dem Nichts auftauchende Satz, der einen ratlos stimmt und der auch viel zu vehement erscheint, gemessen an dem wenigen, was zuvor gesagt ist. Ein Künstler mit dem Künstlernamen Fichte begegnet der zwanzig Jahre jungen Inderin Irene, die natürlich besonders schön ist. Sie gehen essen, in Charlottenburg beim Italiener, und bevor er sich von ihr verabschiedet, fluchtartig, sagt er eben mal, als wäre es selbstverständlich: „Ich will dich ficken, bis ich wund bin und du ohnmächtig wirst!”
Aha, denkt man sich. Man nimmt es zur Kenntnis und liest weiter. Und erfährt, beim nächsten Wiedersehen, dass auch für Irene dieser Satz alles andere als selbstverständlich war – wenn auch aus anderen Gründen als für den Leser: „Was ist dir eingefallen? Mir sowas zum Abschied zu sagen . . . und es dann nicht zu tun!”, protestiert sie, wobei die Dialogsätze fast alle mit Ausrufezeichen versehen sind und man von Beginn an den Eindruck nicht los wird, dass die beiden sich vor allem anschreien. Oder: dass das überaus große Begehren bei Alban Nikolai Herbst von der Sprache in die Satzzeichen verlagert ist.
Dass Fichte, der – ungestüm und exzentrisch – alle vor den Kopf stößt und zugleich von allen so sehr geliebt werden will, der Astrophysikstudentin Irene sofort verfällt und sie ihm, ist zwar schon nach wenigen Seiten klar. Doch lässt einen diese Liebe, die wilder Rausch sein soll und die als exzessiver Austausch von Körperflüssigkeiten, von „Meeren”, beschrieben ist, bei allem, was aufgeboten wird, seltsam unberührt. Sie ergreift einen nicht. Reißt nicht mit. Steckt nicht an. Man nimmt sie zur Kenntnis wie den ersten allzu vehementen Satz und wundert sich über gelegentlich eingestreute biologische Begriffe wie „Skrotumhaut”, „gutturales” Aufstöhnen, oder über Sätze wie: „So ist Liebe, jenseits aller Pheromone”.
Herbsts „Meere” erzählt die Geschichte der Verletzungen, die ein erklärtermaßen rasend liebender Mann einer Frau zufügt: einer, der rücksichtslos und um jeden Preis das Unbedingte will, einfach nur „Lust” will und nichts anderes, keine Verantwortung jedenfalls. Dass sie irgendwann geht – die Lust und mit ihr die Geliebte – ist sein großes Unglück. Und so tröstet er sich in Chatforen und mit einer ganzen Liste von Anwärterinnen: der Hostess Sabine aus Basel, der Dienerin Johanna, mit Ines oder der blonden Rebekka von der HdK. Wie Irene ist keine.
Zugleich ist „Meere” aber auch die Geschichte über eine nicht heilen wollende Wunde, die Fichte selbst zugefügt wurde, als er noch nicht Fichte war, sondern – als Enkel des Nazi-Verbrechers Werner von Kalkreuth – Julian von Kalkreuth hieß: „Du wirst auch einmal aufgehängt wie dein Großvater”, sagt der Lehrer unter dem Gelächter der Mitschüler, als er acht oder neun Jahre alt ist. Der Name verfolgt ihn fortan wie ein Fluch: „Wie sollen wir Buße für etwas tun, wenn wir uns nicht persönlich erinnern, wenn der Raum, in dem angeblich unsere Schuld sitzt, leer ist?” Er beschließt, sich neu zu erfinden, gibt sich einen anderen Namen, wird den alten aber nie los.
Wenn etwas anrührt in Herbsts Roman, dann ist es dieser Widerstreit der Stimmen – der v. Kalkreuth in ihm, den Fichte nicht wegreden kann. Über die „Nazi-Bürde” des Autors, der 1955 als Großneffe von Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop geboren wurde und sich den Künstlernamen Alban Nikolai Herbst zulegte, muss man dafür gar nicht unbedingt etwas wissen. Es reicht der plötzliche Wechsel vom Er ins Ich und ins Du. Mit ihm ist weit mehr gesagt, als mit allen Sexszenen zusammen – und das sind immerhin viele. Ein Porno-Skandal ist „Meere” deshalb aber noch nicht.
JULIA ENCKE
ALBAN NIKOLAI HERBST: Meere. Roman. Marebuchverlag, Hamburg 2003. 262 Seiten, 22 Euro.
Alban Nikolai Herbst.
Foto: Susanne Schleyer/Marebuchverlag
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"Ein Liebesroman, einer der wenigen wirklich ergreifenden."
Gregor Eisenhauer, Frankfurter Rundschau
Gregor Eisenhauer, Frankfurter Rundschau