Zwar wird er das Gefühl nie ganz los, »dass alle anderen echte Kapitäne« sind »und er nur eine Art Missverständnis, das noch einmal ans Tageslicht« kommen wird. Doch de facto bringt Vilhelm Huurna alle Voraussetzungen für eineerfolgreiche Kapitänslaufbahn mit. Alle - bis auf das Seeglück. Und so versenkt Vilhelm einen Segelfrachter nach dem anderen, die er auf den großen europäischenHandelsrouten des 19. Jahrhunderts kommandiert. Das hindert seine Auftraggeber indes nicht daran, ihm immer neue Verantwortung zu übertragen,und schließlich erkennt Vilhelm, dem auch privat nichts erspart bleibt, dass am Ende meist alles halb so schlimm ist. Wir alle sind Vilhelm Huurna, und dieser schmale Roman, in dem der Autor die Kunst des pointierten, lakonischen Erzählens perfektioniert hat, ist eine so aktuelle wie kurzweilige Parabel über die Tragikomik unseres Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2017Schiffbrüche und andere Unvorhersehbarkeiten
Aus dem Leben eines Kapitäns, der von der Zeit überholt wird: Petri Tamminens "Meeresroman" bewältigt einen großen Stoff
2005 erschien in deutscher Übersetzung Petri Tamminens Buch "Verstecke", ein unerlässliches Kompendium für alle, die sich zuweilen wünschen, vom Erdboden zu verschwinden und nicht mehr gesehen zu werden. Tamminen ist klug genug, um zu wissen, dass man nicht im Wortsinn unsichtbar sein muss, um verborgen zu sein; deshalb sind eben nicht nur der Dachboden oder der Wald geeignete Verstecke, sondern auch der Flughafen, das Museum oder das Hotel. Es gibt viele Möglichkeiten, dem furchtbaren Satz "Sein ist Wahrgenommenwerden" wenigstens temporär zu entkommen und der Maxime "Lebe im Verborgenen" zu folgen.
Dazu zählt, so lernen wir jetzt bei der Lektüre von Tamminens "Meeresroman", auch die Kapitänskajüte. "An solchen Winternachmittagen in der stillen Kajüte des Schiffes, wo ihm die Zeit nichts anhaben konnte und wo jede Scheibe des Daseins wie die andere geschnitten war, verbrachte er die glücklichsten Stunden seines Lebens. Er war in dieser Stille aufgehoben, und das Leben war in ihm aufgehoben, und das Schiff kannte ihn und er das Schiff."
Leider ist auch das nur ein temporärer Zustand. Vilhelm Huurna, der tragikomische Held von Tamminens Roman, erreicht solche Glückszustände höchst selten. In der Regel nämlich ist nicht das Leben in ihm aufgehoben, sondern er ein Spielball des Lebens und dies zumeist auf schwankendem Grund, denn Vilhelm ist Kapitän.
Die Seefahrt ist bekanntlich eine alte Metapher fürs Leben, einschließlich der Tatsache, dass man dabei Schiffbruch erleiden kann, worüber der Philosoph Hans Blumenberg sein lesenswertes Buch "Schiffbruch mit Zuschauer" geschrieben hat. So könnte auch der Untertitel zu Tamminens Meeresroman lauten. Wie viele Schiffe Vilhelm Huurna im Laufe seines Kapitänslebens versenkt, zählt der Leser bald nicht mehr nach. Dabei ist dies keineswegs Vilhelms Unfähigkeit zuzuschreiben, sondern den Zeiten. Zumindest zu Beginn seiner Karriere befinden wir uns noch in der Ära der Segelschifffahrt, und Dampfschiffe tauchen erst vereinzelt am Horizont auf.
Vilhelms fehlendes Seefahrerglück ist keineswegs außergewöhnlich, aber das kann er nicht wissen, weil sein Selbstbild diese Erkenntnis nicht zulässt. Schon von dem kleinen Jungen heißt es gleich auf der zweiten Seite des Romans: "Vilhelm bewunderte jeden, der sich auf der Welt zurechtfand." Und später als Kapitän beschleicht ihn immer wieder das Gefühl, "dass alle anderen echte Kapitäne waren und er nur eine Art Missverständnis, das noch einmal ans Tageslicht käme". Die Hofherren des Dorfs, aus dem Vilhelm stammt, sehen das allerdings anders und kaufen immer neue Schiffe, die er als Kapitän auf die Weltmeere führt, bis sie eines Tages untergehen oder mit einem Dampfschiff kollidieren oder wie die Onni ("das Glück") einfach sinken, "als hätte sie gar nicht begriffen, wie viele Schiffe Vilhelm Huurna schon gesunken waren".
Schiffbrüche und andere Unvorhersehbarkeiten erzwingen zuweilen längere Landaufenthalte als geplant, und so begleiten wir Vilhelm in Liverpool und Hamburg, im dänischen Skagen und in Archangelsk, Petersburg und Le Havre. Zuweilen trifft er dort auf "bezaubernde Frauen", die er kaum anzusprechen wagt, weil sie eigentlich Aliens für ihn sind. Manchmal ist er aber auch mutig und macht Heiratsanträge, die aus verschiedensten Gründen abgelehnt werden: weil die Frauen schon verlobt oder verheiratet sind zum Beispiel. "Er hatte sein Gedächtnis immer für schlecht gehalten, aber an alle Frauen, die ihn je zurückgewiesen hatten, erinnerte er sich gut. Er erinnerte sich an ihre abweisenden Mienen und Körperhaltungen und an ihre bedauernden Blicke, und er erinnerte sich an die Orte, an denen sie ihn abgelehnt hatten, an die Wetterlage und die Lichtverhältnisse . . ."
Schließlich heiratet Vilhelm die Tochter des Gutsherrn Glad, des maßgeblichen Manns aus dem Konsortium der Schiffseigner. Sie wird von ihm schwanger. In Hamburg erreichen ihn zwei Telegramme. Eines liest er sofort; in ihm teilt seine Frau ihm mit, dass es ihr gutgeht. Das andere liest er am nächsten Tag, und dort wird ihm mitgeteilt, "seine Frau und sein Kind seien während der Geburt gestorben und Gutsherr Glad sei aufgrund der Erschütterung durch den Vorfall stumm geworden . . ."
Sein letztes Schiff kommt Vilhelm Huurna abhanden, weil der Schlepper, der es zieht, auf einen Eisberg aufläuft. Vilhelm kommt dieses Missgeschick "geradezu sanft vor. Als hätte ihm das Schicksal die Wange getätschelt und gesagt, es schlage nicht immer feste zu, manchmal genüge ein flüchtiger Streich, und so wie dieser flüchtige Streich Zufall war, so waren auch die Schläge nichts als Zufall gewesen." Diese Einsicht in die kontingente Struktur des Lebens (angefangen mit dem Zufall der Geburt) kommt dem Kapitän zu einem Zeitpunkt, als er erkennt, dass er ein alter Mann ist "und die wenigen Fähigkeiten, die er besaß auf dieser Welt, unnütz geworden waren": weil die technologische Entwicklung die Segelschifffahrt überholt hat.
Und dann dies: "Er hatte sich immer den Menschen anschließen wollen, aber der Moment dafür war nie eingetreten." Deshalb beschließt er, endlich sein Leben in Angriff zu nehmen, "und da merkte er, dass er es bereits gelebt hatte. Das Leben hatte ihn überrascht."
Tamminens Bildungsroman, dessen hinreißende Lakonie der erfahrene Stefan Moster sehr schön ins Deutsche transportiert hat, schließt nicht mit dem Tod seines Protagonisten, sondern damit, dass dieser zu Hause am Anleger des Postschiffes sitzt und junge Schiffer ihn dann und wann um Rat fragen. Ausgerechnet ihn, der sich zeit seines Lebens nicht zurechtfand, dem die Welt immer bis zu einem gewissen Grad fremd geblieben ist und der sich den Menschen nicht anschließen konnte. Von dieser Fremdheit und von der Kontingenz des Lebens erzählt das Buch - ein wahrhaft großer Stoff also. Epiker alten Schlages wären dabei bestimmt nicht mit weniger als fünfhundert Seiten ausgekommen, Doderer hätte es vielleicht sogar auf tausend gebracht. Tamminen braucht etwas mehr als hundert und sagt alles, was dazu zu sagen wäre. Darin besteht seine Meisterschaft.
JOCHEN SCHIMMANG
Petri Tamminen: "Meeresroman".
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2017. 108 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Leben eines Kapitäns, der von der Zeit überholt wird: Petri Tamminens "Meeresroman" bewältigt einen großen Stoff
2005 erschien in deutscher Übersetzung Petri Tamminens Buch "Verstecke", ein unerlässliches Kompendium für alle, die sich zuweilen wünschen, vom Erdboden zu verschwinden und nicht mehr gesehen zu werden. Tamminen ist klug genug, um zu wissen, dass man nicht im Wortsinn unsichtbar sein muss, um verborgen zu sein; deshalb sind eben nicht nur der Dachboden oder der Wald geeignete Verstecke, sondern auch der Flughafen, das Museum oder das Hotel. Es gibt viele Möglichkeiten, dem furchtbaren Satz "Sein ist Wahrgenommenwerden" wenigstens temporär zu entkommen und der Maxime "Lebe im Verborgenen" zu folgen.
Dazu zählt, so lernen wir jetzt bei der Lektüre von Tamminens "Meeresroman", auch die Kapitänskajüte. "An solchen Winternachmittagen in der stillen Kajüte des Schiffes, wo ihm die Zeit nichts anhaben konnte und wo jede Scheibe des Daseins wie die andere geschnitten war, verbrachte er die glücklichsten Stunden seines Lebens. Er war in dieser Stille aufgehoben, und das Leben war in ihm aufgehoben, und das Schiff kannte ihn und er das Schiff."
Leider ist auch das nur ein temporärer Zustand. Vilhelm Huurna, der tragikomische Held von Tamminens Roman, erreicht solche Glückszustände höchst selten. In der Regel nämlich ist nicht das Leben in ihm aufgehoben, sondern er ein Spielball des Lebens und dies zumeist auf schwankendem Grund, denn Vilhelm ist Kapitän.
Die Seefahrt ist bekanntlich eine alte Metapher fürs Leben, einschließlich der Tatsache, dass man dabei Schiffbruch erleiden kann, worüber der Philosoph Hans Blumenberg sein lesenswertes Buch "Schiffbruch mit Zuschauer" geschrieben hat. So könnte auch der Untertitel zu Tamminens Meeresroman lauten. Wie viele Schiffe Vilhelm Huurna im Laufe seines Kapitänslebens versenkt, zählt der Leser bald nicht mehr nach. Dabei ist dies keineswegs Vilhelms Unfähigkeit zuzuschreiben, sondern den Zeiten. Zumindest zu Beginn seiner Karriere befinden wir uns noch in der Ära der Segelschifffahrt, und Dampfschiffe tauchen erst vereinzelt am Horizont auf.
Vilhelms fehlendes Seefahrerglück ist keineswegs außergewöhnlich, aber das kann er nicht wissen, weil sein Selbstbild diese Erkenntnis nicht zulässt. Schon von dem kleinen Jungen heißt es gleich auf der zweiten Seite des Romans: "Vilhelm bewunderte jeden, der sich auf der Welt zurechtfand." Und später als Kapitän beschleicht ihn immer wieder das Gefühl, "dass alle anderen echte Kapitäne waren und er nur eine Art Missverständnis, das noch einmal ans Tageslicht käme". Die Hofherren des Dorfs, aus dem Vilhelm stammt, sehen das allerdings anders und kaufen immer neue Schiffe, die er als Kapitän auf die Weltmeere führt, bis sie eines Tages untergehen oder mit einem Dampfschiff kollidieren oder wie die Onni ("das Glück") einfach sinken, "als hätte sie gar nicht begriffen, wie viele Schiffe Vilhelm Huurna schon gesunken waren".
Schiffbrüche und andere Unvorhersehbarkeiten erzwingen zuweilen längere Landaufenthalte als geplant, und so begleiten wir Vilhelm in Liverpool und Hamburg, im dänischen Skagen und in Archangelsk, Petersburg und Le Havre. Zuweilen trifft er dort auf "bezaubernde Frauen", die er kaum anzusprechen wagt, weil sie eigentlich Aliens für ihn sind. Manchmal ist er aber auch mutig und macht Heiratsanträge, die aus verschiedensten Gründen abgelehnt werden: weil die Frauen schon verlobt oder verheiratet sind zum Beispiel. "Er hatte sein Gedächtnis immer für schlecht gehalten, aber an alle Frauen, die ihn je zurückgewiesen hatten, erinnerte er sich gut. Er erinnerte sich an ihre abweisenden Mienen und Körperhaltungen und an ihre bedauernden Blicke, und er erinnerte sich an die Orte, an denen sie ihn abgelehnt hatten, an die Wetterlage und die Lichtverhältnisse . . ."
Schließlich heiratet Vilhelm die Tochter des Gutsherrn Glad, des maßgeblichen Manns aus dem Konsortium der Schiffseigner. Sie wird von ihm schwanger. In Hamburg erreichen ihn zwei Telegramme. Eines liest er sofort; in ihm teilt seine Frau ihm mit, dass es ihr gutgeht. Das andere liest er am nächsten Tag, und dort wird ihm mitgeteilt, "seine Frau und sein Kind seien während der Geburt gestorben und Gutsherr Glad sei aufgrund der Erschütterung durch den Vorfall stumm geworden . . ."
Sein letztes Schiff kommt Vilhelm Huurna abhanden, weil der Schlepper, der es zieht, auf einen Eisberg aufläuft. Vilhelm kommt dieses Missgeschick "geradezu sanft vor. Als hätte ihm das Schicksal die Wange getätschelt und gesagt, es schlage nicht immer feste zu, manchmal genüge ein flüchtiger Streich, und so wie dieser flüchtige Streich Zufall war, so waren auch die Schläge nichts als Zufall gewesen." Diese Einsicht in die kontingente Struktur des Lebens (angefangen mit dem Zufall der Geburt) kommt dem Kapitän zu einem Zeitpunkt, als er erkennt, dass er ein alter Mann ist "und die wenigen Fähigkeiten, die er besaß auf dieser Welt, unnütz geworden waren": weil die technologische Entwicklung die Segelschifffahrt überholt hat.
Und dann dies: "Er hatte sich immer den Menschen anschließen wollen, aber der Moment dafür war nie eingetreten." Deshalb beschließt er, endlich sein Leben in Angriff zu nehmen, "und da merkte er, dass er es bereits gelebt hatte. Das Leben hatte ihn überrascht."
Tamminens Bildungsroman, dessen hinreißende Lakonie der erfahrene Stefan Moster sehr schön ins Deutsche transportiert hat, schließt nicht mit dem Tod seines Protagonisten, sondern damit, dass dieser zu Hause am Anleger des Postschiffes sitzt und junge Schiffer ihn dann und wann um Rat fragen. Ausgerechnet ihn, der sich zeit seines Lebens nicht zurechtfand, dem die Welt immer bis zu einem gewissen Grad fremd geblieben ist und der sich den Menschen nicht anschließen konnte. Von dieser Fremdheit und von der Kontingenz des Lebens erzählt das Buch - ein wahrhaft großer Stoff also. Epiker alten Schlages wären dabei bestimmt nicht mit weniger als fünfhundert Seiten ausgekommen, Doderer hätte es vielleicht sogar auf tausend gebracht. Tamminen braucht etwas mehr als hundert und sagt alles, was dazu zu sagen wäre. Darin besteht seine Meisterschaft.
JOCHEN SCHIMMANG
Petri Tamminen: "Meeresroman".
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Verlag, Hamburg 2017. 108 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main