Er nannte sich selbst den größten Boxer aller Zeiten. Und er hatte recht. Einen zweiten Boxweltmeister wie Muhammed Ali hat es nicht gegeben. Auch heute, bald zwanzig Jahre nach seinem Rücktritt, sind seine großen Auftritte im Ring noch eigenartig präsent: die legendären Kämpfe gegen Sonny Liston, George Foreman, Ken Norton und vor allem gegen Joe Frazier. Jan Philipp Reemtsma hat die Geschichte dieser Kämpfe nachgezeichnet, mehr noch, er führt sie uns vor Augen, eindringlicher und plastischer als jede Videoaufzeichnung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.1996Unvergeßliche Nächte vor dem Fernseher
Faustkampf mit Fußnoten: Der Philologe Jan Philipp Reemtsma hat Muhammad Ali zugesehen
Die Helden des Sports interessieren sich für gewöhnlich kaum für die Arbeiter des Geistes. Warum sollten sie auch? Sie sind sich selbst genug. Lediglich in Zeiten der Krise oder des Überdrusses am eigenen Erfolg suchen sie bisweilen den Sinn des Lebens auch auf intellektuellen Wegen.
Als sich Franz Beckenbauer nach seiner aktiven Zeit beim Golfspiel und auf Gesellschaftsgalas gewaltig langweilte, fand er als Leser philosophischer Werke einigen Trost. Längst indes hat ihn das Stadion wieder, multiprofessionell wie nie zuvor. Auch Boris Becker hat gelegentlich über Sinndefizite im Profisport geklagt und sich mit Alternativen auseinandergesetzt, von den Hausbesetzern der Hafenstraße bis zur Psychologie. Mittlerweile strahlt er als Spieler auch bei Niederlagen wieder so viel Siegeswillen aus, daß man ihm selbst das scheinbar Unmögliche zutraut. Welche Gefahren dauerhafte geistige Betätigung bergen kann, konnte Becker bei seinem Tenniskollegen Jim Courier bemerken: Über dem fortgesetzten Lesen von Romanen fiel der Amerikaner in der Weltrangliste merklich ab.
Geist und Sport mithin: ein sehr einseitiges Verhältnis. Denn die Geistesarbeiter sind mehr als interessiert, sie sind fasziniert von den Heroen der Arena. Zwar gibt es immer noch Verächter des Körperkults, die etwa auf die naheliegende Frage "Was fällt Ihnen zu Eintracht Frankfurt ein?" aus ehrlicher Unkenntnis partout nicht "Zweite Liga!" rufen können. Aber sie sind längst in der Minderheit. Mehr noch, seit geraumer Zeit ist es dem wissenschaftlichen Ruf ebenso förderlich wie dem publizistischen Ruhm, wenn sich in der Liste der Veröffentlichungen Themen aus der Welt des Sports finden: Hier ist das Leben, lautet das Motto, hier schreibe dich ein.
Allein, die Geistesbewegung zum Sportlichen hin sorgt für allerlei Kalamitäten. Der schlimmste Übelstand dabei: die Sucht, sich ständig zu rechtfertigen. Kaum ein Autor, der nicht lang und breit begründete, warum ausgerechnet er sich auf ein eigentlich fremdes Terrain begebe, warum er den populären Stoff wähle und zu welchem Behuf. Zum Unterbau der Rechtfertigung gesellt sich gern ein anderes Übel: der Überbau der Theorie, der die persönliche Rechtfertigung noch einmal adelt durch den Verweis auf höhere Ziele. Ohne die Beschwörung von Mythen oder die Beschimpfung der Massenmedien geht es dann selten ab.
"Darf ich ganz ohne Mentalreservation so schreiben?" fragt auch Jan Philipp Reemtsma gleich auf der zweiten Seite seines Essays über Muhammad Ali, einen der größten Sporthelden unserer Epoche, dessen Triumphe und Tragödien nur wenige gleichgültig ließen. Reemtsma sorgt sich um "die Spuren des mokanten Lächelns auf dem Gesicht meiner Leserin (so ich denn eine habe)" und berichtet von peinlichen Gefühlen, "wenn man einem oder einer gegenüber saß, der oder die der ganzen Angelegenheit nichts weiter als das Schmidt-Zitat von ,den Preisboxern, die sich vor Gaffern für Geld die Fressen einschlugen' abgewinnen konnten." Schmidt: das ist natürlich der Dichter Arno Schmidt, den Reemtsma wirklich verehrt, "Mentalreservation" meint nichts anderes als Skrupel, "der oder die" dienen als Ausweis für die von Machismo freie Denkweise des Verfassers. Alles zusammen wirkt verkrampft und in seiner Absicherung nach vielen Seiten unfrei.
Nicht anders das Schlußkapitel des Buchs. Dort redet Reemtsma zwar zunächst selbstironisch über seine "anfängliche Ziererei" vor dem Thema Boxen, entwickelt dann jedoch eine hochabstrakte Theorie über das "balancierte", das "assoziierte" und das "dissoziierte" Individuum. Weshalb? Um sich selbst, vor allem aber seinen Lesern zu beweisen, daß die Vorliebe für den Gegenstand Muhammad Ali eben doch meilenweit über der Gafferlust bei den Prügeleien gewöhnlicher Preisboxer stehe. Ebenso zwangsläufig wie zwanghaft endet das Buch dann in der Stilisierung des Helden Muhammad zum Menschen neuen Typs.
Nein, das alles müßte und sollte nicht sein. Und Reemtsma zeigt dann auch in den Kapiteln zwischen dem mißglückten Anfang und dem mißlichen Ende, daß er es viel besser kann. Das heißt: Er kommt zur Sache. Viel hat er über das Idol gelesen und im Archiv gesammelt, wohldosiert breitet er sein Wissen vor uns aus. Der Lebenslauf eines Unangepaßten passiert Revue, der vor vierundfünfzig Jahren als Cassius Marcellus Clay in Louisville, Kentucky, zur Welt kam, 1960 in Rom die Goldmedaille gewann, später den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte, zum Islam konvertierte, seinen Namen änderte und dabei die Eigenwerbung in größtem Stil erfand: "Ich bin der Größte!" lautete sein logisches Credo. Reemtsmas schwer zu widerlegendes Resümee zieht die Summe aus einer widersprüchlichen Biographie: "Für Selbstwahrnehmung und Selbstbewußtsein der Schwarzen nicht nur in Amerika hat Clay / Ali vielleicht mehr getan als Martin Luther King, Malcolm X, Patrice Lumumba und Bill Cosby zusammen."
Seine wahre Stärke aber findet der Essay in einer Art Philologie des Fernsehens. Einfache Methode, bestes Resultat: Reemtsma hat sich etwa zwanzig Videokassetten mit den wichtigsten Kämpfen des Champs besorgt, läßt sie in Zeitlupe noch einmal ablaufen, beobachtet Runde um Runde und kommt so der Strategie und der Taktik, den Finessen und Finten auf die Schliche. Das Boxen sehend lesen: Daß Reemtsma die Jahrhundertfights des Faustgenies dabei noch einmal nacherzählen muß, ist ein willkommener Nebeneffekt. Denn mitlesend erlebt man ebenfalls aufs neue - und keineswegs als langweilendes déja vu - auch jene unvergeßlichen Nächte wieder, in denen man vor dem Fernseher saß, für Ali fieberte und um ihn bangte.
Wie er den unschlagbar scheinenden Sonny Liston fertigmachte im Februar 1964 und zum ersten Mal Weltmeister wurde, wie er sich, oft in Hin-und Rückkampf, geldverdienend durchboxte gegen das Vorgängeridol Floyd Patterson, gegen den bedächtigen Karl Mildenberger, den argentinischen Stier Oscar Bonavena oder den eleganten Jimmy Ellis - um dann, im März 1971, den Titel nach fünfzehn qualvollen Runden an Joe Frazier zu verlieren. Wie er, Ende Oktober 1974, in einem seiner unglaublichsten Kämpfe George Foreman in Kinshasa ausknockte und auf den Thron zurückkehrte. Wie er seinen Punch in Manila perfektionierte, dort 1975 Revanche an Frazier nahm - und es eben nicht schaffte, danach, also rechtzeitig, aufzuhören.
Reemtsma, und hier zeigt sich die Kunst dieses Essays, verliert sich nicht im Nachzeichnen der Ringschlachten. Er läßt sie aufleuchten, um sie dann kühl zu analysieren. Muhammad Alis Geheimnis: sein Stil. Die Legenden, die der Meister selbst darüber in die Welt setzte - vom "Schweben wie ein Schmetterling" und "Stechen wie eine Biene" über den provozierenden Verzicht auf die Deckung bis zum rope-a-dope, dem Spiel mit dem Seil und dem Klammern des Gegners -, referiert der Interpret beiläufig und deutet sie zu Recht als Klischees.
Überzeugend belegt er seine These, Ali habe "drei ganz verschiedene Stile" geboxt, die keineswegs im Sinn einer klassischen Entwicklung aufeinander gefolgt seien. Zudem habe er sich nicht selten selbst parodiert und von Anfang an viel mehr Wirkungstreffer eingesteckt, als selbst nüchterne Beobachter am Ring bemerkten. Überzeugend ist auch seine Überlegung, Alis Kraft sei nicht in einem einzigen, dem K.-o.-Schlag explodiert, sondern habe sich in überraschenden Schlagkombinationen und Trefferfolgen ausgedrückt - dies mit dem Ziel, ganz allmählich den "Moment absoluter Dominanz im Ring" vorzubereiten. "Begreifen, was uns ergreift": So hat einst der Germanist Emil Staiger den Sinn philologischen Bemühens beschrieben. In den Kampf- und Stilanalysen vermag Reemtsma dieses Ethos einzulösen - begriffene Begeisterung ist das Resultat.
Und der Essay im Essay, den Reemtsma zudem bietet, ist Filmkritik von Rang. Neben den Videos mit Alis Kämpfen nämlich hat er sich auch die fünf Folgen der "Rocky"-Serie angeschaut, in denen Sylvester Stallone als Boxer Rocky Bilboa vom Nobody zum Champion aufsteigt, nach allerlei Krisen auf dem Höhepunkt eine spätstalinistische Kampfmaschine mitten im Reich des Bösen besiegt, um am Ende, als Boxer ausgebrannt, aber menschlich gereift, einen korrupten Manager und Promotor zu verprügeln.
Natürlich gibt es da Bezüge zur Wirklichkeit des Boxgeschäfts, natürlich muß Reemtsma manche Figur entschlüsseln. Seine Leistung aber besteht darin, den Wandel des Bildes von Muhammad Ali in der amerikanischen Gesellschaft wiederzufinden in den Verwandlungen des Filmhelden Rocky. Diese Figur sollte ursprünglich die weiße Hoffnung verkörpern: ein bodenständiges und aufrechtes Gegenbild zum realen, ebenso großmäuligen wie arroganten Cassius Clay. Reemtsma zeigt an vielen filmischen Details, wie sich Rocky im Verlauf der Serie die Biographie, die Legenden und das Charisma des Widerparts aneignet, sich mit ihm identifiziert - parallel dazu wurde Ali in der Öffentlichkeit vom bösen Schwarzen zur amerikanischen Kultfigur promoviert.
Die Intellektuellen und der Sport: Gerade die gelungenen Passagen von Reemtsmas Essay sprechen heftig dafür, alle pseudosensiblen "Mentalreservationen" preiszugeben - und das pseudowissenschaftliche Fußnotengetue, das in diesem Fall von Thomas Mann über Sigmund Freud und Theodor W. Adorno bis zu unveröffentlichten Manuskripten des Autors reicht, am besten gleich mit. Es gehört zum Leben, daß sich viele Geistesarbeiter für die Helden des Sports begeistern. Es kann Spaß machen, gelegentlich über diese Passion zu schreiben. Die einzige Bedingung für Intellektuelle sollte sein, dies intelligent zu tun. Jan Philipp Reemtsma, der dieses Buch Monate vor seiner Entführung veröffentlichte, hat, jenseits der geistigen Skrupel, gewiß das Talent dazu. Und Muhammad Ali: ist er, wie der Titel will, wirklich "Mehr als ein Champion"? Nein. Er ist der Champ. Mehr geht nicht. JOCHEN HIEBER
Jan Philipp Reemtsma: "Mehr als ein Champion". Über den Stil des Boxers Muhammad Ali. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1995. 180 S., geb., 32,- DM.
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Faustkampf mit Fußnoten: Der Philologe Jan Philipp Reemtsma hat Muhammad Ali zugesehen
Die Helden des Sports interessieren sich für gewöhnlich kaum für die Arbeiter des Geistes. Warum sollten sie auch? Sie sind sich selbst genug. Lediglich in Zeiten der Krise oder des Überdrusses am eigenen Erfolg suchen sie bisweilen den Sinn des Lebens auch auf intellektuellen Wegen.
Als sich Franz Beckenbauer nach seiner aktiven Zeit beim Golfspiel und auf Gesellschaftsgalas gewaltig langweilte, fand er als Leser philosophischer Werke einigen Trost. Längst indes hat ihn das Stadion wieder, multiprofessionell wie nie zuvor. Auch Boris Becker hat gelegentlich über Sinndefizite im Profisport geklagt und sich mit Alternativen auseinandergesetzt, von den Hausbesetzern der Hafenstraße bis zur Psychologie. Mittlerweile strahlt er als Spieler auch bei Niederlagen wieder so viel Siegeswillen aus, daß man ihm selbst das scheinbar Unmögliche zutraut. Welche Gefahren dauerhafte geistige Betätigung bergen kann, konnte Becker bei seinem Tenniskollegen Jim Courier bemerken: Über dem fortgesetzten Lesen von Romanen fiel der Amerikaner in der Weltrangliste merklich ab.
Geist und Sport mithin: ein sehr einseitiges Verhältnis. Denn die Geistesarbeiter sind mehr als interessiert, sie sind fasziniert von den Heroen der Arena. Zwar gibt es immer noch Verächter des Körperkults, die etwa auf die naheliegende Frage "Was fällt Ihnen zu Eintracht Frankfurt ein?" aus ehrlicher Unkenntnis partout nicht "Zweite Liga!" rufen können. Aber sie sind längst in der Minderheit. Mehr noch, seit geraumer Zeit ist es dem wissenschaftlichen Ruf ebenso förderlich wie dem publizistischen Ruhm, wenn sich in der Liste der Veröffentlichungen Themen aus der Welt des Sports finden: Hier ist das Leben, lautet das Motto, hier schreibe dich ein.
Allein, die Geistesbewegung zum Sportlichen hin sorgt für allerlei Kalamitäten. Der schlimmste Übelstand dabei: die Sucht, sich ständig zu rechtfertigen. Kaum ein Autor, der nicht lang und breit begründete, warum ausgerechnet er sich auf ein eigentlich fremdes Terrain begebe, warum er den populären Stoff wähle und zu welchem Behuf. Zum Unterbau der Rechtfertigung gesellt sich gern ein anderes Übel: der Überbau der Theorie, der die persönliche Rechtfertigung noch einmal adelt durch den Verweis auf höhere Ziele. Ohne die Beschwörung von Mythen oder die Beschimpfung der Massenmedien geht es dann selten ab.
"Darf ich ganz ohne Mentalreservation so schreiben?" fragt auch Jan Philipp Reemtsma gleich auf der zweiten Seite seines Essays über Muhammad Ali, einen der größten Sporthelden unserer Epoche, dessen Triumphe und Tragödien nur wenige gleichgültig ließen. Reemtsma sorgt sich um "die Spuren des mokanten Lächelns auf dem Gesicht meiner Leserin (so ich denn eine habe)" und berichtet von peinlichen Gefühlen, "wenn man einem oder einer gegenüber saß, der oder die der ganzen Angelegenheit nichts weiter als das Schmidt-Zitat von ,den Preisboxern, die sich vor Gaffern für Geld die Fressen einschlugen' abgewinnen konnten." Schmidt: das ist natürlich der Dichter Arno Schmidt, den Reemtsma wirklich verehrt, "Mentalreservation" meint nichts anderes als Skrupel, "der oder die" dienen als Ausweis für die von Machismo freie Denkweise des Verfassers. Alles zusammen wirkt verkrampft und in seiner Absicherung nach vielen Seiten unfrei.
Nicht anders das Schlußkapitel des Buchs. Dort redet Reemtsma zwar zunächst selbstironisch über seine "anfängliche Ziererei" vor dem Thema Boxen, entwickelt dann jedoch eine hochabstrakte Theorie über das "balancierte", das "assoziierte" und das "dissoziierte" Individuum. Weshalb? Um sich selbst, vor allem aber seinen Lesern zu beweisen, daß die Vorliebe für den Gegenstand Muhammad Ali eben doch meilenweit über der Gafferlust bei den Prügeleien gewöhnlicher Preisboxer stehe. Ebenso zwangsläufig wie zwanghaft endet das Buch dann in der Stilisierung des Helden Muhammad zum Menschen neuen Typs.
Nein, das alles müßte und sollte nicht sein. Und Reemtsma zeigt dann auch in den Kapiteln zwischen dem mißglückten Anfang und dem mißlichen Ende, daß er es viel besser kann. Das heißt: Er kommt zur Sache. Viel hat er über das Idol gelesen und im Archiv gesammelt, wohldosiert breitet er sein Wissen vor uns aus. Der Lebenslauf eines Unangepaßten passiert Revue, der vor vierundfünfzig Jahren als Cassius Marcellus Clay in Louisville, Kentucky, zur Welt kam, 1960 in Rom die Goldmedaille gewann, später den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte, zum Islam konvertierte, seinen Namen änderte und dabei die Eigenwerbung in größtem Stil erfand: "Ich bin der Größte!" lautete sein logisches Credo. Reemtsmas schwer zu widerlegendes Resümee zieht die Summe aus einer widersprüchlichen Biographie: "Für Selbstwahrnehmung und Selbstbewußtsein der Schwarzen nicht nur in Amerika hat Clay / Ali vielleicht mehr getan als Martin Luther King, Malcolm X, Patrice Lumumba und Bill Cosby zusammen."
Seine wahre Stärke aber findet der Essay in einer Art Philologie des Fernsehens. Einfache Methode, bestes Resultat: Reemtsma hat sich etwa zwanzig Videokassetten mit den wichtigsten Kämpfen des Champs besorgt, läßt sie in Zeitlupe noch einmal ablaufen, beobachtet Runde um Runde und kommt so der Strategie und der Taktik, den Finessen und Finten auf die Schliche. Das Boxen sehend lesen: Daß Reemtsma die Jahrhundertfights des Faustgenies dabei noch einmal nacherzählen muß, ist ein willkommener Nebeneffekt. Denn mitlesend erlebt man ebenfalls aufs neue - und keineswegs als langweilendes déja vu - auch jene unvergeßlichen Nächte wieder, in denen man vor dem Fernseher saß, für Ali fieberte und um ihn bangte.
Wie er den unschlagbar scheinenden Sonny Liston fertigmachte im Februar 1964 und zum ersten Mal Weltmeister wurde, wie er sich, oft in Hin-und Rückkampf, geldverdienend durchboxte gegen das Vorgängeridol Floyd Patterson, gegen den bedächtigen Karl Mildenberger, den argentinischen Stier Oscar Bonavena oder den eleganten Jimmy Ellis - um dann, im März 1971, den Titel nach fünfzehn qualvollen Runden an Joe Frazier zu verlieren. Wie er, Ende Oktober 1974, in einem seiner unglaublichsten Kämpfe George Foreman in Kinshasa ausknockte und auf den Thron zurückkehrte. Wie er seinen Punch in Manila perfektionierte, dort 1975 Revanche an Frazier nahm - und es eben nicht schaffte, danach, also rechtzeitig, aufzuhören.
Reemtsma, und hier zeigt sich die Kunst dieses Essays, verliert sich nicht im Nachzeichnen der Ringschlachten. Er läßt sie aufleuchten, um sie dann kühl zu analysieren. Muhammad Alis Geheimnis: sein Stil. Die Legenden, die der Meister selbst darüber in die Welt setzte - vom "Schweben wie ein Schmetterling" und "Stechen wie eine Biene" über den provozierenden Verzicht auf die Deckung bis zum rope-a-dope, dem Spiel mit dem Seil und dem Klammern des Gegners -, referiert der Interpret beiläufig und deutet sie zu Recht als Klischees.
Überzeugend belegt er seine These, Ali habe "drei ganz verschiedene Stile" geboxt, die keineswegs im Sinn einer klassischen Entwicklung aufeinander gefolgt seien. Zudem habe er sich nicht selten selbst parodiert und von Anfang an viel mehr Wirkungstreffer eingesteckt, als selbst nüchterne Beobachter am Ring bemerkten. Überzeugend ist auch seine Überlegung, Alis Kraft sei nicht in einem einzigen, dem K.-o.-Schlag explodiert, sondern habe sich in überraschenden Schlagkombinationen und Trefferfolgen ausgedrückt - dies mit dem Ziel, ganz allmählich den "Moment absoluter Dominanz im Ring" vorzubereiten. "Begreifen, was uns ergreift": So hat einst der Germanist Emil Staiger den Sinn philologischen Bemühens beschrieben. In den Kampf- und Stilanalysen vermag Reemtsma dieses Ethos einzulösen - begriffene Begeisterung ist das Resultat.
Und der Essay im Essay, den Reemtsma zudem bietet, ist Filmkritik von Rang. Neben den Videos mit Alis Kämpfen nämlich hat er sich auch die fünf Folgen der "Rocky"-Serie angeschaut, in denen Sylvester Stallone als Boxer Rocky Bilboa vom Nobody zum Champion aufsteigt, nach allerlei Krisen auf dem Höhepunkt eine spätstalinistische Kampfmaschine mitten im Reich des Bösen besiegt, um am Ende, als Boxer ausgebrannt, aber menschlich gereift, einen korrupten Manager und Promotor zu verprügeln.
Natürlich gibt es da Bezüge zur Wirklichkeit des Boxgeschäfts, natürlich muß Reemtsma manche Figur entschlüsseln. Seine Leistung aber besteht darin, den Wandel des Bildes von Muhammad Ali in der amerikanischen Gesellschaft wiederzufinden in den Verwandlungen des Filmhelden Rocky. Diese Figur sollte ursprünglich die weiße Hoffnung verkörpern: ein bodenständiges und aufrechtes Gegenbild zum realen, ebenso großmäuligen wie arroganten Cassius Clay. Reemtsma zeigt an vielen filmischen Details, wie sich Rocky im Verlauf der Serie die Biographie, die Legenden und das Charisma des Widerparts aneignet, sich mit ihm identifiziert - parallel dazu wurde Ali in der Öffentlichkeit vom bösen Schwarzen zur amerikanischen Kultfigur promoviert.
Die Intellektuellen und der Sport: Gerade die gelungenen Passagen von Reemtsmas Essay sprechen heftig dafür, alle pseudosensiblen "Mentalreservationen" preiszugeben - und das pseudowissenschaftliche Fußnotengetue, das in diesem Fall von Thomas Mann über Sigmund Freud und Theodor W. Adorno bis zu unveröffentlichten Manuskripten des Autors reicht, am besten gleich mit. Es gehört zum Leben, daß sich viele Geistesarbeiter für die Helden des Sports begeistern. Es kann Spaß machen, gelegentlich über diese Passion zu schreiben. Die einzige Bedingung für Intellektuelle sollte sein, dies intelligent zu tun. Jan Philipp Reemtsma, der dieses Buch Monate vor seiner Entführung veröffentlichte, hat, jenseits der geistigen Skrupel, gewiß das Talent dazu. Und Muhammad Ali: ist er, wie der Titel will, wirklich "Mehr als ein Champion"? Nein. Er ist der Champ. Mehr geht nicht. JOCHEN HIEBER
Jan Philipp Reemtsma: "Mehr als ein Champion". Über den Stil des Boxers Muhammad Ali. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1995. 180 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main