'Kinder lieben und brauchen Natur. Doch heute strolchen sie kaum mehr im Freien herum. Eine Katastrophe für die Gesellschaft, sagt der Philosoph und Biologe Andreas Weber. Wie riecht es im Wald? Wie fühlt sich ein Baumstamm an? Wie sieht ein Fink aus? Statt Frösche zu fangen, Baumhäuser zu bauen oder mit beiden Händen im Matsch zu wühlen, sitzen Kinder vor dem Fernseher oder Computer. Ohne Nähe zu Pflanzen und Tieren aber verkümmert ihre emotionale Bindungsfähigkeit. Empathie, Phantasie, Kreativität und Lebensfreude verschwinden. Andreas Weber hat ein beherztes Plädoyer für die Rettung der Kindheit geschrieben. Er ermuntert Eltern, mit ihren Kindern ein Biotop anzulegen, auch bei schlechtem Wetter nach draußen zu gehen und Brachen ausfindig zu machen, wo der Nachwuchs tun und lassen kann, was er will. Denn nur im Kontakt mit der Natur entfalten sich seelische, körperliche und geistige Potenziale, die Kinder zu erfüllten Menschen werden lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011Im Freien ist Spielen doch viel schöner
Natur und Kreatur soll man früh kennenlernen: Malte Roeper und Andreas Weber locken Eltern wie Kinder mit vielen guten Gründen hinaus vor die Tür.
Von Uta Rasche
Zwei Bücher setzen einen erfreulichen Kontrapunkt zu all den Erziehungsratgebern der jüngeren Vergangenheit, die von der Sorge der Eltern um die künftige Konkurrenzfähigkeit ihrer Kinder leben. Drill und Disziplinierung sind so ziemlich das Letzte, für das sich der Biologe und Philosoph Andreas Weber sowie der Dokumentarfilmer und Dramaturg Malte Roeper begeistern können. In ihren Büchern setzen sie sich mit der Bedeutung von Landschaft, Tieren und Pflanzen für die Entwicklung von Kindern auseinander.
Beide Autoren sind der Ansicht, dass das Draußensein für Kinder sozusagen "artgerechtes Verhalten" ist - zumal der Mensch, wie Weber meint, auch nur ein Tier sei, eine Primatenspezies eben. Beide beklagen, dass Kinder mit der Natur immer seltener in Berührung kommen. Die meisten Grundschüler hätten weder je eine Fledermaus gesehen noch ein lebendiges Huhn, geschweige denn es gestreichelt. Es gebe immer weniger Brachland, immer weniger Obstwiesen, immer weniger unversiegelte Flächen. Und selbst dort, wo es sie noch gibt, würden sie nicht mehr so genutzt wie noch eine Generation zuvor. Kinder spielten heute überwiegend in geschlossenen Räumen. Niemand lässt heute mehr Grundschüler nachmittags allein losziehen auf der Suche nach Gleichaltrigen in der Umgebung, mit denen sich spielen ließe - nicht mal auf dem Land. Zum einen ist die Freizeit von geplanten Aktivitäten durchsetzt, zum anderen die Sorge der Eltern groß, es könnte etwas passieren. Zugleich locken Fernsehen, Facebook und die Wii, so dass viele Kinder auch den Drang nicht mehr verspüren, auf eigene Faust nach draußen zu gehen, wo man sich erst einmal etwas einfallen lassen muss.
Weber illustriert das Zusammenschmelzen des kindlichen Aktionsradius anhand eines Beispiels aus Großbritannien so: Der Urgroßvater eines heute achtjährigen Jungen aus Sheffield marschierte im gleichen Alter sechs Meilen zu seiner Lieblingsangelstelle. Sein Sohn durfte in den fünfziger Jahren eine Meile in den örtlichen Wald laufen. Dessen Tochter durfte mit acht immerhin mit dem Rad zum Freibad fahren. Ihr Sohn darf allein nur noch bis ans Ende der Straße - darüber hinaus wird er mit dem Auto gefahren. Die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich macht darauf aufmerksam, dass Erwachsene sich auf Kosten von Kindern immer mehr Raum angeeignet haben: "Das Kellergeschoss ist zum Fitnessstudio geworden; die Brachflächen wurden zu Joggingpfaden oder zu Shopping-Malls."
Beide Autoren sind überzeugt: Draußen spielen Kinder anders. In unstrukturierten Räumen ersinnen sie komplexe Abenteuer, die sich über Tage und Wochen hinziehen können, spielen kreativer, selbstbestimmter, länger und lieber. Natur macht gesund, meinen sie gleichlautend, und zwar nicht nur im körperlichen Sinne durch Abhärtung und frische Luft, sondern auch im seelischen: Das Herumstreunen in Wiesen und Wäldern befriedige die Sehnsucht nach Wildheit, Lebendigkeit und Abenteuer. Dafür, dass auch der Kontakt mit Tieren gesund erhält, gibt es zahlreiche Beispiele: So senkt allein das Betrachten eines Aquariums den Blutdruck, in Altenheimen fangen Menschen, die jahrelang fast nichts mehr gesagt haben, wieder an zu reden, wenn sie einen Hund streicheln. Kinder würden empathischer, selbstbewusster und weniger ängstlich durch den Kontakt zu einem Tier.
Beide Autoren lassen eigene Erfahrungen mit ihren Kindern einfließen. Beide beziehen ihre Motivation, ihrem Nachwuchs intensive Naturerfahrungen zu ermöglichen, aus der eigenen Kindheit. Wie ihnen ergeht es den meisten Naturschützern und Umweltaktivisten. Fast alle berichten, dass sie als Kinder Natur und Kreatur kennen und achten gelernt haben. Wer aber, so fragt man sich, schützt die natürliche Umgebung, wenn dieses Wissen verlorengeht und die heutigen Kinder erwachsen sind?
Was beide Werke aber unterscheidet, sind Aufmachung und Lesbarkeit. Der Südwest-Verlag hat den Aufwand nicht gescheut, zahlreiche großformatige Farbfotos zu drucken. Ein Waldkindergarten, brasilianische Yanomami-Indianer, Roepers eigene Kinder: Auf manchen Fotos spürt man die pure Lebenslust, wenn die Kinder an Felshängen klettern, durch Bäche waten oder sich von einem Esel am Ohr knabbern lassen. Andere zeigen eine geradezu poetische Versonnenheit, wenn ein Kind einen großen Baum betrachtet, oder volle Konzentration beim Schnitzen eines Stückchens Holz. Auch hat Roeper sich Co-Autoren gesucht, etwa die Leiterin eines Waldkindergartens, eine Ethnologin, zwei weitere Wissenschaftler sowie die Biathletin Magdalena Neuner, die von ihrer Kindheit im oberbayerischen Wallgau berichtet. Gestaltung und Autorenvielfalt machen das Buch abwechslungsreich.
Weber hingegen geht die Sache akademischer an. Sein Buch ist aus einem Aufsatz entstanden, der im vergangenen Jahr in der Zeitschrift "Geo" abgedruckt war und für den er den Deutschen Reporterpreis gewonnen hat. Wie so oft bei Büchern, deren Grundlage ein kürzerer Text war, muss man leider sagen: In der Kurzfassung war alles Wesentliche enthalten. Den Platz zwischen den Buchdeckeln der Hardcover-Ausgabe füllt Weber mit seitenlangen naturphilosophischen Überlegungen. Brauchbar sind hingegen seine Tipps für Eltern wie Lehrer. Sogar für Familien, die in der Stadt leben, sind welche dabei: öfter mal draußen picknicken, die Fundstücke von langen Spaziergängen in schönen Kästen oder gar auf Borden aufbewahren, einen Naturforscherkoffer mit Bestimmungsbüchern und Lupe ausstatten und die Kinder Tiere erleben lassen, wo immer es geht.
Malte Roeper: "Kinder raus!" Zurück zur Natur: artgerechtes Leben für den kleinen Homo sapiens.
Südwest-Verlag, München 2011. 144 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Andreas Weber: "Mehr Matsch!" Kinder brauchen die Natur.
Ullstein Verlag, Berlin 2011. 256 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Natur und Kreatur soll man früh kennenlernen: Malte Roeper und Andreas Weber locken Eltern wie Kinder mit vielen guten Gründen hinaus vor die Tür.
Von Uta Rasche
Zwei Bücher setzen einen erfreulichen Kontrapunkt zu all den Erziehungsratgebern der jüngeren Vergangenheit, die von der Sorge der Eltern um die künftige Konkurrenzfähigkeit ihrer Kinder leben. Drill und Disziplinierung sind so ziemlich das Letzte, für das sich der Biologe und Philosoph Andreas Weber sowie der Dokumentarfilmer und Dramaturg Malte Roeper begeistern können. In ihren Büchern setzen sie sich mit der Bedeutung von Landschaft, Tieren und Pflanzen für die Entwicklung von Kindern auseinander.
Beide Autoren sind der Ansicht, dass das Draußensein für Kinder sozusagen "artgerechtes Verhalten" ist - zumal der Mensch, wie Weber meint, auch nur ein Tier sei, eine Primatenspezies eben. Beide beklagen, dass Kinder mit der Natur immer seltener in Berührung kommen. Die meisten Grundschüler hätten weder je eine Fledermaus gesehen noch ein lebendiges Huhn, geschweige denn es gestreichelt. Es gebe immer weniger Brachland, immer weniger Obstwiesen, immer weniger unversiegelte Flächen. Und selbst dort, wo es sie noch gibt, würden sie nicht mehr so genutzt wie noch eine Generation zuvor. Kinder spielten heute überwiegend in geschlossenen Räumen. Niemand lässt heute mehr Grundschüler nachmittags allein losziehen auf der Suche nach Gleichaltrigen in der Umgebung, mit denen sich spielen ließe - nicht mal auf dem Land. Zum einen ist die Freizeit von geplanten Aktivitäten durchsetzt, zum anderen die Sorge der Eltern groß, es könnte etwas passieren. Zugleich locken Fernsehen, Facebook und die Wii, so dass viele Kinder auch den Drang nicht mehr verspüren, auf eigene Faust nach draußen zu gehen, wo man sich erst einmal etwas einfallen lassen muss.
Weber illustriert das Zusammenschmelzen des kindlichen Aktionsradius anhand eines Beispiels aus Großbritannien so: Der Urgroßvater eines heute achtjährigen Jungen aus Sheffield marschierte im gleichen Alter sechs Meilen zu seiner Lieblingsangelstelle. Sein Sohn durfte in den fünfziger Jahren eine Meile in den örtlichen Wald laufen. Dessen Tochter durfte mit acht immerhin mit dem Rad zum Freibad fahren. Ihr Sohn darf allein nur noch bis ans Ende der Straße - darüber hinaus wird er mit dem Auto gefahren. Die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich macht darauf aufmerksam, dass Erwachsene sich auf Kosten von Kindern immer mehr Raum angeeignet haben: "Das Kellergeschoss ist zum Fitnessstudio geworden; die Brachflächen wurden zu Joggingpfaden oder zu Shopping-Malls."
Beide Autoren sind überzeugt: Draußen spielen Kinder anders. In unstrukturierten Räumen ersinnen sie komplexe Abenteuer, die sich über Tage und Wochen hinziehen können, spielen kreativer, selbstbestimmter, länger und lieber. Natur macht gesund, meinen sie gleichlautend, und zwar nicht nur im körperlichen Sinne durch Abhärtung und frische Luft, sondern auch im seelischen: Das Herumstreunen in Wiesen und Wäldern befriedige die Sehnsucht nach Wildheit, Lebendigkeit und Abenteuer. Dafür, dass auch der Kontakt mit Tieren gesund erhält, gibt es zahlreiche Beispiele: So senkt allein das Betrachten eines Aquariums den Blutdruck, in Altenheimen fangen Menschen, die jahrelang fast nichts mehr gesagt haben, wieder an zu reden, wenn sie einen Hund streicheln. Kinder würden empathischer, selbstbewusster und weniger ängstlich durch den Kontakt zu einem Tier.
Beide Autoren lassen eigene Erfahrungen mit ihren Kindern einfließen. Beide beziehen ihre Motivation, ihrem Nachwuchs intensive Naturerfahrungen zu ermöglichen, aus der eigenen Kindheit. Wie ihnen ergeht es den meisten Naturschützern und Umweltaktivisten. Fast alle berichten, dass sie als Kinder Natur und Kreatur kennen und achten gelernt haben. Wer aber, so fragt man sich, schützt die natürliche Umgebung, wenn dieses Wissen verlorengeht und die heutigen Kinder erwachsen sind?
Was beide Werke aber unterscheidet, sind Aufmachung und Lesbarkeit. Der Südwest-Verlag hat den Aufwand nicht gescheut, zahlreiche großformatige Farbfotos zu drucken. Ein Waldkindergarten, brasilianische Yanomami-Indianer, Roepers eigene Kinder: Auf manchen Fotos spürt man die pure Lebenslust, wenn die Kinder an Felshängen klettern, durch Bäche waten oder sich von einem Esel am Ohr knabbern lassen. Andere zeigen eine geradezu poetische Versonnenheit, wenn ein Kind einen großen Baum betrachtet, oder volle Konzentration beim Schnitzen eines Stückchens Holz. Auch hat Roeper sich Co-Autoren gesucht, etwa die Leiterin eines Waldkindergartens, eine Ethnologin, zwei weitere Wissenschaftler sowie die Biathletin Magdalena Neuner, die von ihrer Kindheit im oberbayerischen Wallgau berichtet. Gestaltung und Autorenvielfalt machen das Buch abwechslungsreich.
Weber hingegen geht die Sache akademischer an. Sein Buch ist aus einem Aufsatz entstanden, der im vergangenen Jahr in der Zeitschrift "Geo" abgedruckt war und für den er den Deutschen Reporterpreis gewonnen hat. Wie so oft bei Büchern, deren Grundlage ein kürzerer Text war, muss man leider sagen: In der Kurzfassung war alles Wesentliche enthalten. Den Platz zwischen den Buchdeckeln der Hardcover-Ausgabe füllt Weber mit seitenlangen naturphilosophischen Überlegungen. Brauchbar sind hingegen seine Tipps für Eltern wie Lehrer. Sogar für Familien, die in der Stadt leben, sind welche dabei: öfter mal draußen picknicken, die Fundstücke von langen Spaziergängen in schönen Kästen oder gar auf Borden aufbewahren, einen Naturforscherkoffer mit Bestimmungsbüchern und Lupe ausstatten und die Kinder Tiere erleben lassen, wo immer es geht.
Malte Roeper: "Kinder raus!" Zurück zur Natur: artgerechtes Leben für den kleinen Homo sapiens.
Südwest-Verlag, München 2011. 144 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Andreas Weber: "Mehr Matsch!" Kinder brauchen die Natur.
Ullstein Verlag, Berlin 2011. 256 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mindestens für lesenswert hält Rezensentin Sabine Sütterlin dieses Buch, vielleicht sogar für überzeugend, aber da bleibt sie etwas vorsichtig. Kinder brauchen Natur, denn Natur macht gesund, lautet die These des Autors Andreas Weber. Gegen Computer- und Daddelspiele, gegen ADS, Depressionen und Zappelphilipp-Syndrom helfen Matsch, Bäume und Frösche. Stützende Belegefür seine Thesen finde Weber in der Psychologie und in der Literatur, Beweise allerdings nicht, stellt die Rezensentin klar, die auch betont, dass Weber kein Estoeriker sei, auch wenn er von seinen eigenen Erweckungserlebnissen erzählt, in denen "zackenkammbewehrte Fabelwesen" eine große Rolle spielen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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