Eine Kindheit und Jugend in Mitteleuropa, als dieses Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gerade seine politischen und kulturellen Konturen neu eingeschrieben bekam: Ilma Rakusa geht in ihren Erinnerungen dem kleinen Mädchen nach, der Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter, deren Lebensstationen von einer slowakischen Kleinstadt über Budapest, Ljubljana, Triest nach Zürich und von da weiter ausgreifend nach Ost und West, nach Leningrad/Petersburg und Paris reichen.
Die überall Fremde, Nicht-ganz-Zugehörige findet sehr früh schon ihre Heimat in der Musik, im Klavierspielen, und, mit der Entdeckung Dostojewskijs, in der Literatur, aber auch in der Bewegung, im Unterwegssein, im Reisen. Mehr Meer geht weit über eine Nacherzählung einer Kindheit und Jugend hinaus; es ist die Beschwörung dessen, was von den vielen Lebensorten und Begegnungen bleibt: Töne und Klänge, Farben und Stimmungen, einzelne Szenen und Blitzlichter (»Die Bilder, sage ich, in Ehren. Aber zuerst kommen die Gerüche.«). In vielen kleinen Selbstbefragungen, in Dialogen, Gedichten und Erinnerungsbildern geht Ilma Rakusa ihrer Geschichte auf den Grund: der vom Vater initiierte ständige Ortswechsel, das Paradies des Meeres und der Küste in Triest und Grado, erste Küsse, erste Reisen, die Musik und die Begegnung mit den Ritualen der Ostkirche, die ersten Auslandsjahre in Paris und im damals noch sowjetischen Leningrad.
Ilma Rakusa nähert sich ihren frühen Jahren äußerst unsentimental und auch nicht mit dem Eifer der Bekennerin, dafür mit großer Genauigkeit in einem sehr schwierigen Bereich: im Atmosphärischen, das sie mit Knappheit und Präzision erdet. In ihrem Erinnerungsband erstehen die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im prismatischen Blick einer außergewöhnlichen Schriftstellerin, die wie wenige in und zwischen verschiedenen Kulturen lebt.
Die überall Fremde, Nicht-ganz-Zugehörige findet sehr früh schon ihre Heimat in der Musik, im Klavierspielen, und, mit der Entdeckung Dostojewskijs, in der Literatur, aber auch in der Bewegung, im Unterwegssein, im Reisen. Mehr Meer geht weit über eine Nacherzählung einer Kindheit und Jugend hinaus; es ist die Beschwörung dessen, was von den vielen Lebensorten und Begegnungen bleibt: Töne und Klänge, Farben und Stimmungen, einzelne Szenen und Blitzlichter (»Die Bilder, sage ich, in Ehren. Aber zuerst kommen die Gerüche.«). In vielen kleinen Selbstbefragungen, in Dialogen, Gedichten und Erinnerungsbildern geht Ilma Rakusa ihrer Geschichte auf den Grund: der vom Vater initiierte ständige Ortswechsel, das Paradies des Meeres und der Küste in Triest und Grado, erste Küsse, erste Reisen, die Musik und die Begegnung mit den Ritualen der Ostkirche, die ersten Auslandsjahre in Paris und im damals noch sowjetischen Leningrad.
Ilma Rakusa nähert sich ihren frühen Jahren äußerst unsentimental und auch nicht mit dem Eifer der Bekennerin, dafür mit großer Genauigkeit in einem sehr schwierigen Bereich: im Atmosphärischen, das sie mit Knappheit und Präzision erdet. In ihrem Erinnerungsband erstehen die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im prismatischen Blick einer außergewöhnlichen Schriftstellerin, die wie wenige in und zwischen verschiedenen Kulturen lebt.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Einen Schleier von Fernweh und Wehmut, sowie dem Gefühl, aus dem eigenen Leben emigrieren zu müssen, nimmt Martina Meister über diesem Buch wahr, aus Kritikerinnensicht ein "sensibles Selbstporträt der Dichterin", mit dem Ilma Rakus endgültig in der deutschsprachigen Literatur angekommen ist. Es sei ein seltenes Buch, schreibt Meister auch, eines, das sie kaum in ein Genre fassen mag, aber am ehesten noch als "poetische Autobiografie" bezeichnen will. Es gehe um Vergangenheit und Geschichte, um historische Bruchstellen in einem Leben, das für die Kritikerin als "Lektion über das 20. Jahrhundert" in eine Art Allgemeingültigkeit gehoben wird. Rakusa arbeite mit den Bauprinzipien von Auslassung und Verdichtung, und fange so das, was sich gegen die Alltagssprache sperre, in Bilden und Worten ein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2009Epochenverschleppung
Ilma Rakusa segelt durchs atonale Erinnerungsmeer
Das Bild des Koffers auf dem Schrank in den anderthalb Zimmern lässt sie nicht los. Das halbe Zimmer bewohnte Joseph Brodsky, in dem ganzen lebten seine Eltern. In anderen Zimmern lebten andere Familien, eine Leningrader Kommunalwohnung eben, vollgestopft mit dem Glanz und dem Elend des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf dem Koffer, einem schwarzen Überseekoffer, wehte trotzig eine winzige amerikanische Flagge. Wenige Monate später war der Dichter im Exil. 1987 erhielt er den Nobelpreis, mit 56 Jahren starb er 1996.
Wenn Ilma Rakusa diese Episode aus dem Jahr 1972 in einer ihrer autobiographischen Vignetten erzählt, dann klingt das wie Paläontologie, Urzeitforschung. Die 1946 in der Slowakei geborene Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, die in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich polyglott und kosmopolitisch aufwuchs, erweist sich als fulminante Epochenverschlepperin, als Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit, in der es dieses Mitteleuropa zwischen Ost und West gar nicht geben durfte.
Die Übersetzerin, Literaturkritikerin, Dichterin und passionierte Klavierspielerin segelt durch ein Kopfmeer der Erinnerungen, durch Episoden und Geschichten, die überall auch das Vorgestern und Vorvorgestern durchscheinen lassen. Immer wieder wird die Chronologie verändert, hängen andere Bilder im Raum, ein Innehalten im gedanklichen, sprachlichen und kulturellen Nomadisieren, um sich meditativ selbst auf der Spur zu sein.
Die Märchen der Kindheit auf dem Budapester Rosenhügel, erzählt in der ungarischen Sprache mit ihrer eigenwilligen Melodie. Slowenien bleibt ein Garten mit drei Jahreszeiten. Hinter dem Karstgebirge öffnete sich das Meer der Kindheit, die Bucht von Triest. In die heiteren Töne dieser Stadt mischen sich mit den Jahren Dissonanzen aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. In der Reisfabrik hatte man recht gründlich die Trockenanlage zum Krematorium umgebaut. Von hier wurden Juden verschleppt und etwa fünftausend slowenische, kroatische und italienische Partisanen verbrannt. Die Stadt bleibt "verschattet, in einer Ambivalenz, aus der sich keine Identität konstruieren lässt".
Zürich bleibt gesichtslos, eine Stadt, die der Familie endlich mehr als eine flüchtige Zuflucht bietet, die, wie Rakusa schreibt, immer gut zu ihr war, die ihr das Klavierspiel und die deutsche Sprache schenkte. Von hier aus ging es dann in die Welt. Zum Studium nach Paris und auf Reisen. Als die Staatenlose endlich mit einem Schweizer Pass geadelt wird, taucht sie ein in die Melancholie der Kindheit, die sich überall im Osten des Kontinents, in der Tristesse des kommunistischen Grau, finden lässt.
Zur Heimat wird die Sprache, die seit der Kindheit im Plural existierte, zur Liebe die Musik und die Literatur, vor allem die russische, die sie seit ihrer Kindheit liest. Die große Weltpolitik jener Jahre bleibt draußen vor der Tür. Während die Studenten im Westen Europas rebellieren und der Aufstand in Prag von den Sowjets niedergewalzt wurde, verbringt Rakusa in Leningrad ihre Tage in der ebenso muffigen wie ehrwürdig-großartigen Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek mit Exzerpieren. Während Zeitgenossen Marx für sich entdecken, liest sie die Oden und Elegien des russischen Romantikers Baratynskij. Der Ort, von dem aus einst die Welt verändert wurde, Petersburg/Leningrad, wirkt wie eine Insel intellektueller Seligkeit. Später folgen fernere Orte. Tblissi, Alma-Ata, Taschkent.
Die Neugier treibt weiter, die Bilder werden ephemerer. Am Ende steht die Erinnerung an eine Reise nach Iran, irgendwann, vor nicht allzu langer Zeit. Kriegsszenarien liegen in der Luft, doch jeder Iraner könne seinen Hafis auswendig, den Dichter der Lieder der Liebe. Das mag so sein, doch wirkt dies hier ein wenig wie ein Appendix, eine Seite aus einem Touristen-Blog. Man liest die kurzen Texte gern, eine Poesie in Prosa, lakonisch, flüchtig, atonal, eine Reise durch ein halbes Jahrhundert in Siebenmeilenworten, Patina auf Schwarzweißbildern, ein Kaddisch für ein Europa, das es so nicht mehr gibt.
SABINE BERKING
Ilma Rakusa: "Mehr Meer". Erinnerungspassagen. Literaturverlag Droschl, Graz 2009. 320 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ilma Rakusa segelt durchs atonale Erinnerungsmeer
Das Bild des Koffers auf dem Schrank in den anderthalb Zimmern lässt sie nicht los. Das halbe Zimmer bewohnte Joseph Brodsky, in dem ganzen lebten seine Eltern. In anderen Zimmern lebten andere Familien, eine Leningrader Kommunalwohnung eben, vollgestopft mit dem Glanz und dem Elend des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf dem Koffer, einem schwarzen Überseekoffer, wehte trotzig eine winzige amerikanische Flagge. Wenige Monate später war der Dichter im Exil. 1987 erhielt er den Nobelpreis, mit 56 Jahren starb er 1996.
Wenn Ilma Rakusa diese Episode aus dem Jahr 1972 in einer ihrer autobiographischen Vignetten erzählt, dann klingt das wie Paläontologie, Urzeitforschung. Die 1946 in der Slowakei geborene Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, die in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich polyglott und kosmopolitisch aufwuchs, erweist sich als fulminante Epochenverschlepperin, als Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit, in der es dieses Mitteleuropa zwischen Ost und West gar nicht geben durfte.
Die Übersetzerin, Literaturkritikerin, Dichterin und passionierte Klavierspielerin segelt durch ein Kopfmeer der Erinnerungen, durch Episoden und Geschichten, die überall auch das Vorgestern und Vorvorgestern durchscheinen lassen. Immer wieder wird die Chronologie verändert, hängen andere Bilder im Raum, ein Innehalten im gedanklichen, sprachlichen und kulturellen Nomadisieren, um sich meditativ selbst auf der Spur zu sein.
Die Märchen der Kindheit auf dem Budapester Rosenhügel, erzählt in der ungarischen Sprache mit ihrer eigenwilligen Melodie. Slowenien bleibt ein Garten mit drei Jahreszeiten. Hinter dem Karstgebirge öffnete sich das Meer der Kindheit, die Bucht von Triest. In die heiteren Töne dieser Stadt mischen sich mit den Jahren Dissonanzen aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. In der Reisfabrik hatte man recht gründlich die Trockenanlage zum Krematorium umgebaut. Von hier wurden Juden verschleppt und etwa fünftausend slowenische, kroatische und italienische Partisanen verbrannt. Die Stadt bleibt "verschattet, in einer Ambivalenz, aus der sich keine Identität konstruieren lässt".
Zürich bleibt gesichtslos, eine Stadt, die der Familie endlich mehr als eine flüchtige Zuflucht bietet, die, wie Rakusa schreibt, immer gut zu ihr war, die ihr das Klavierspiel und die deutsche Sprache schenkte. Von hier aus ging es dann in die Welt. Zum Studium nach Paris und auf Reisen. Als die Staatenlose endlich mit einem Schweizer Pass geadelt wird, taucht sie ein in die Melancholie der Kindheit, die sich überall im Osten des Kontinents, in der Tristesse des kommunistischen Grau, finden lässt.
Zur Heimat wird die Sprache, die seit der Kindheit im Plural existierte, zur Liebe die Musik und die Literatur, vor allem die russische, die sie seit ihrer Kindheit liest. Die große Weltpolitik jener Jahre bleibt draußen vor der Tür. Während die Studenten im Westen Europas rebellieren und der Aufstand in Prag von den Sowjets niedergewalzt wurde, verbringt Rakusa in Leningrad ihre Tage in der ebenso muffigen wie ehrwürdig-großartigen Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek mit Exzerpieren. Während Zeitgenossen Marx für sich entdecken, liest sie die Oden und Elegien des russischen Romantikers Baratynskij. Der Ort, von dem aus einst die Welt verändert wurde, Petersburg/Leningrad, wirkt wie eine Insel intellektueller Seligkeit. Später folgen fernere Orte. Tblissi, Alma-Ata, Taschkent.
Die Neugier treibt weiter, die Bilder werden ephemerer. Am Ende steht die Erinnerung an eine Reise nach Iran, irgendwann, vor nicht allzu langer Zeit. Kriegsszenarien liegen in der Luft, doch jeder Iraner könne seinen Hafis auswendig, den Dichter der Lieder der Liebe. Das mag so sein, doch wirkt dies hier ein wenig wie ein Appendix, eine Seite aus einem Touristen-Blog. Man liest die kurzen Texte gern, eine Poesie in Prosa, lakonisch, flüchtig, atonal, eine Reise durch ein halbes Jahrhundert in Siebenmeilenworten, Patina auf Schwarzweißbildern, ein Kaddisch für ein Europa, das es so nicht mehr gibt.
SABINE BERKING
Ilma Rakusa: "Mehr Meer". Erinnerungspassagen. Literaturverlag Droschl, Graz 2009. 320 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2009Da reimt sich was, da stößt sich was
In einem lyrischen Parlando, das sich gelegentlich bis zum Stakkato steigert, schreibt sich Ilma Rakusa in ihren Erinnerungspassagen ostwärts: „Mehr Meer” Von Volker Breidecker
Immer musste sie dahin zurückkehren, zur Stätte ihrer Kindheit, zum Ausgangspunkt ihrer Kopfreisen, zum Ruhepunkt ihres Zeigefingers auf den dicken, farbigen Blättern eines Weltatlasses. Zurück auf die vorgelagerte Felsenkuppe mit dem in der untergehenden Sonne leuchtenden Märchenschloss aus weißem Kalkstein, das weithin sichtbar die Meeresbucht bekrönt: Miramar heißt das Schloss, das die geographische Mitte einnimmt zwischen der Hafenstadt Triest und dem Schloss Duino, wo einst Rilke weilte und seine Duineser Elegien verfasste, deren fünfte mit den Versen beginnt: „Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig / Flüchtigern noch als wir selbst ...”, Verse, die in der zweiten Nachkriegszeit des vorigen Jahrhunderts vielen Menschen dieser Region, die nur wenige Kilometer oberhalb der Küste von einer blutigen Grenze durchschnitten war, zur prosaischen Realität wurden.
Als Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters im Jahr 1946 in einer slowakischen Kleinstadt geboren, verbrachte Ilma Rakusa nach Stationen in Ljubljana und Budapest mehrere Jahre ihrer Kindheit in Triest: Genauer, im nahe von Miramar gelegenen Vorort Barcola. Später zog die Familie nach Zürich, wo die so überaus produktive und vielseitige Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin aus vier Sprachen - dem Serbokoatischen, Russischen, Ungarischen und Französischen - auch heute lebt, wenn sie nicht gerade auf Reisen ist.
„Mehr Meer” heißt in steter Erinnerung an „dieses erste Meer” und den vorübergehend stabilisierten Kindheitsort ihr neues Buch, und lässt man sich die beiden Silben auf den Lippen zergehen, so stellt sich ein deutlicher Anklang auf den Namen Miramar ein. Von der poetische Allusionen und Alliterationen wie "Schnee, Schlitten, Schmerz" pflegenden Lyrikerin, die ihr letztes Langgedicht „Love after Love” (2001) nannte, ist dies gewiss auch so beabsichtigt. Miramar, zusammengesetzt aus „mirare” (zeigen) und "mare" (Meer), bedeutet "Meeresblick".
Als Buch der Erinnerungen ist dies ein Buch vom Gehen, ein Buch vom Fahren, ein Buch vom Sehen: „Lies die Welt, sagten meine Füße, sagten meine Augen.” Wer in der Bucht von Triest, die die perfekte Halbkreisform eines griechischen Theaters umfängt, über das adriatische Meer blickt, hat den Osten Mitteleuropas im Rücken, so wie Ilma Rakusa das verzweigte Netz ihrer Familiengeschichte, das bis ins litauische Wilna reicht: „Der Osten war unsere Bagage”, heißt es in knappem Stil, der weniger der Lakonie als einer fast durchweg parataktischen Syntax verpflichtet ist.
Die Lektüre dieses außergewöhnlichen Buchs, das so recht kein Genre füllt, wird so zu einem geradezu musikalischen Ereignis, getragen von einem lyrisierenden Parlando, das sich zuweilen zu einem an Rap-Rhythmen erinnernden Stakkato steigert: „Wir fahren in die dunkle, weißrussische Nacht. Kein Mond, kein Birkenschimmer. Wir fahren. Schnurgerade nach Osten.”
Die Bibliographie Mittelosteuropas ist heute beinahe so endlos wie der französische Historiker Jules Michelet dies einst über die „Bibliographie des Meeres”bemerkte. Die poetische Geographie, die Rakusa von diesem Raum, der im Norden wie im Süden von Meeren umschlossen wird, nicht bloß entwirft, sondern auch konkret erfühlt und noch konkreter – nämlich auf Schienen – erfährt, wurde noch selten zu so sinnfälliger Anschauung gebracht.
Auf der rund 3 500 km langen Strecke der von ihr mehrfach bereisten uralten Handelsstraße - wegen des seit der Antike hier wichtigsten Handelsprodukts Bernsteinstraße genannt -, die Triest und Aquilea mit Tallinn und Sankt Petersburg und das Adriatische Mittelmeer mit der Ostsee verbindet, sehen die Bahnhofe der frequentierten ehemaligen Vielvölkerreiche überall gleich aus: „Schrecken und Anziehung mariatheresiengelber, schmutziggrauer, räudiger, hinfälliger Bahnhöfe, mit Säulen und ohne, mit einer stinkigen Kneipe oder einem einfachen Ausschank, mit vertrockneten Geranien und einem Stationswärterhäuschen, mit toten Gleisen in provinzieller Tristesse. Irgendwo ertönt ein Glockenzeichen, hebt sich eine winkende Hand, und der Zug ruckelt los."
Und so wie es heißt, „es geht immer weiter, im Takt der Schwellen”, während das am Rande des Bahndamms Geschaute im selben Augenblick, da es aufgezeichnet wird, auch schon wieder vorbei ist – „eine Kette von Abschieden” –, so nehmen diesen Rhythmus auch Rakusas Sprache und ihr Stil an: „Durch die Nacht rollten, mit den Zügen, die Wortkolonnen, etwas reimte sich, etwas stieß sich. Zusammenprall.” In einer Weltgegend, in der ganze Völker auf Schienen deportiert wurden, geht da zusammen mit der Erinnerung an Kinderängste vor dem „Lärm der gespenstisch rangierenden Züge”, stets die Angst einher, „verfrachtet zu werden”.
Der von den willkürlich gezogenen Grenzen bis zur Öffnung des Eisernen Vorhangs ausgehenden Todesgefahr setzt Ilma Rakusa – so der Untertitel des Buchs – „Erinnerungspassagen” entgegen. Sie transportieren eine andere Vorstellung von Grenzen und von Übergängen als durchlässigen Gebilden, in denen man bewusst und frei von einer nach der anderen Seite übersetzt und wo einem beide Seiten gleich fremd werden und doch gleich vertraut sind. Wer immerzu unterwegs ist, der findet an vielen Orten eine Bleibe, so wie diese große poetische Übersetzerin in vielen Sprachen und Idiomen zu Hause ist – oder mit Novalis gesagt: „Am Ende ist alle Poesie Übersetzung.”
Über Länder und Gewässer, über Schranken und Grenzen. Dieses Buch ist ein langes Gedicht in 69 Strophen aus feinster, musikalisch gewirkter Prosa, am schönsten und gelungensten da, wo – "Sand wie Land" – in konsequenter Einlösung des Titels zwei Meereslandschaften einander berühren, das Mittelmeer des Nordens und das des Südens: In der Lagune von Grado und auf der großen Düne hinter Nida auf der Kurischen Nehrung. Here, there and everywhere we are lost in translation.
Ilma Rakusa
Mehr Meer
Erinnerungspassagen. Droschl Verlag, Graz 2009. 324 Seiten, 23 Euro.
„Durch die Nacht rollten, mit den Zügen, die Wortkolonnen, etwas reimte sich, etwas stieß sich. Zusammenprall.” Ilma Rakusa in einer Aufnahme von 2004 Foto: Jürgen Bauer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
In einem lyrischen Parlando, das sich gelegentlich bis zum Stakkato steigert, schreibt sich Ilma Rakusa in ihren Erinnerungspassagen ostwärts: „Mehr Meer” Von Volker Breidecker
Immer musste sie dahin zurückkehren, zur Stätte ihrer Kindheit, zum Ausgangspunkt ihrer Kopfreisen, zum Ruhepunkt ihres Zeigefingers auf den dicken, farbigen Blättern eines Weltatlasses. Zurück auf die vorgelagerte Felsenkuppe mit dem in der untergehenden Sonne leuchtenden Märchenschloss aus weißem Kalkstein, das weithin sichtbar die Meeresbucht bekrönt: Miramar heißt das Schloss, das die geographische Mitte einnimmt zwischen der Hafenstadt Triest und dem Schloss Duino, wo einst Rilke weilte und seine Duineser Elegien verfasste, deren fünfte mit den Versen beginnt: „Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig / Flüchtigern noch als wir selbst ...”, Verse, die in der zweiten Nachkriegszeit des vorigen Jahrhunderts vielen Menschen dieser Region, die nur wenige Kilometer oberhalb der Küste von einer blutigen Grenze durchschnitten war, zur prosaischen Realität wurden.
Als Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters im Jahr 1946 in einer slowakischen Kleinstadt geboren, verbrachte Ilma Rakusa nach Stationen in Ljubljana und Budapest mehrere Jahre ihrer Kindheit in Triest: Genauer, im nahe von Miramar gelegenen Vorort Barcola. Später zog die Familie nach Zürich, wo die so überaus produktive und vielseitige Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin aus vier Sprachen - dem Serbokoatischen, Russischen, Ungarischen und Französischen - auch heute lebt, wenn sie nicht gerade auf Reisen ist.
„Mehr Meer” heißt in steter Erinnerung an „dieses erste Meer” und den vorübergehend stabilisierten Kindheitsort ihr neues Buch, und lässt man sich die beiden Silben auf den Lippen zergehen, so stellt sich ein deutlicher Anklang auf den Namen Miramar ein. Von der poetische Allusionen und Alliterationen wie "Schnee, Schlitten, Schmerz" pflegenden Lyrikerin, die ihr letztes Langgedicht „Love after Love” (2001) nannte, ist dies gewiss auch so beabsichtigt. Miramar, zusammengesetzt aus „mirare” (zeigen) und "mare" (Meer), bedeutet "Meeresblick".
Als Buch der Erinnerungen ist dies ein Buch vom Gehen, ein Buch vom Fahren, ein Buch vom Sehen: „Lies die Welt, sagten meine Füße, sagten meine Augen.” Wer in der Bucht von Triest, die die perfekte Halbkreisform eines griechischen Theaters umfängt, über das adriatische Meer blickt, hat den Osten Mitteleuropas im Rücken, so wie Ilma Rakusa das verzweigte Netz ihrer Familiengeschichte, das bis ins litauische Wilna reicht: „Der Osten war unsere Bagage”, heißt es in knappem Stil, der weniger der Lakonie als einer fast durchweg parataktischen Syntax verpflichtet ist.
Die Lektüre dieses außergewöhnlichen Buchs, das so recht kein Genre füllt, wird so zu einem geradezu musikalischen Ereignis, getragen von einem lyrisierenden Parlando, das sich zuweilen zu einem an Rap-Rhythmen erinnernden Stakkato steigert: „Wir fahren in die dunkle, weißrussische Nacht. Kein Mond, kein Birkenschimmer. Wir fahren. Schnurgerade nach Osten.”
Die Bibliographie Mittelosteuropas ist heute beinahe so endlos wie der französische Historiker Jules Michelet dies einst über die „Bibliographie des Meeres”bemerkte. Die poetische Geographie, die Rakusa von diesem Raum, der im Norden wie im Süden von Meeren umschlossen wird, nicht bloß entwirft, sondern auch konkret erfühlt und noch konkreter – nämlich auf Schienen – erfährt, wurde noch selten zu so sinnfälliger Anschauung gebracht.
Auf der rund 3 500 km langen Strecke der von ihr mehrfach bereisten uralten Handelsstraße - wegen des seit der Antike hier wichtigsten Handelsprodukts Bernsteinstraße genannt -, die Triest und Aquilea mit Tallinn und Sankt Petersburg und das Adriatische Mittelmeer mit der Ostsee verbindet, sehen die Bahnhofe der frequentierten ehemaligen Vielvölkerreiche überall gleich aus: „Schrecken und Anziehung mariatheresiengelber, schmutziggrauer, räudiger, hinfälliger Bahnhöfe, mit Säulen und ohne, mit einer stinkigen Kneipe oder einem einfachen Ausschank, mit vertrockneten Geranien und einem Stationswärterhäuschen, mit toten Gleisen in provinzieller Tristesse. Irgendwo ertönt ein Glockenzeichen, hebt sich eine winkende Hand, und der Zug ruckelt los."
Und so wie es heißt, „es geht immer weiter, im Takt der Schwellen”, während das am Rande des Bahndamms Geschaute im selben Augenblick, da es aufgezeichnet wird, auch schon wieder vorbei ist – „eine Kette von Abschieden” –, so nehmen diesen Rhythmus auch Rakusas Sprache und ihr Stil an: „Durch die Nacht rollten, mit den Zügen, die Wortkolonnen, etwas reimte sich, etwas stieß sich. Zusammenprall.” In einer Weltgegend, in der ganze Völker auf Schienen deportiert wurden, geht da zusammen mit der Erinnerung an Kinderängste vor dem „Lärm der gespenstisch rangierenden Züge”, stets die Angst einher, „verfrachtet zu werden”.
Der von den willkürlich gezogenen Grenzen bis zur Öffnung des Eisernen Vorhangs ausgehenden Todesgefahr setzt Ilma Rakusa – so der Untertitel des Buchs – „Erinnerungspassagen” entgegen. Sie transportieren eine andere Vorstellung von Grenzen und von Übergängen als durchlässigen Gebilden, in denen man bewusst und frei von einer nach der anderen Seite übersetzt und wo einem beide Seiten gleich fremd werden und doch gleich vertraut sind. Wer immerzu unterwegs ist, der findet an vielen Orten eine Bleibe, so wie diese große poetische Übersetzerin in vielen Sprachen und Idiomen zu Hause ist – oder mit Novalis gesagt: „Am Ende ist alle Poesie Übersetzung.”
Über Länder und Gewässer, über Schranken und Grenzen. Dieses Buch ist ein langes Gedicht in 69 Strophen aus feinster, musikalisch gewirkter Prosa, am schönsten und gelungensten da, wo – "Sand wie Land" – in konsequenter Einlösung des Titels zwei Meereslandschaften einander berühren, das Mittelmeer des Nordens und das des Südens: In der Lagune von Grado und auf der großen Düne hinter Nida auf der Kurischen Nehrung. Here, there and everywhere we are lost in translation.
Ilma Rakusa
Mehr Meer
Erinnerungspassagen. Droschl Verlag, Graz 2009. 324 Seiten, 23 Euro.
„Durch die Nacht rollten, mit den Zügen, die Wortkolonnen, etwas reimte sich, etwas stieß sich. Zusammenprall.” Ilma Rakusa in einer Aufnahme von 2004 Foto: Jürgen Bauer
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de