Nachdem Bestseller-Autor Steven Pinker die Aufklärung verteidigt hat, zeigt er nun in seinem neuen Buch die Bedeutung von Rationalität. Denn nur mit ihr kann man sich orientieren in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht. Durch Rationalität entdeckt der Mensch Naturgesetze, fliegt zum Mond und entwickelt in kürzester Zeit Impfstoffe. Auch wenn manche Menschen an Verschwörungstheorien und Fake-News glauben - der Mensch ist rational. Das unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen.
Steven Pinker verteidigt aber nicht nur die Rationalität und zeigt ihre Stärken auf; er erläutert auch die wichtigsten Werkzeuge für rationales Denken. Er führt den Leser durch die Grundlagen der Logik und des kritischen Denkens, er erklärt Wahrscheinlichkeit und die Rolle des Zufalls, das Verhältnis von Glaube und Evidenz, Risiko und Statistik. Nach diesem Grundkurs in Rationalität sind wir gewappnet, rationale Entscheidungen allein und mit anderen viel besser treffen zu können. Denn Rationalität ist immer noch das beste Werkzeug, um unser Schicksal in die Hand zu nehmen.
Steven Pinker verteidigt aber nicht nur die Rationalität und zeigt ihre Stärken auf; er erläutert auch die wichtigsten Werkzeuge für rationales Denken. Er führt den Leser durch die Grundlagen der Logik und des kritischen Denkens, er erklärt Wahrscheinlichkeit und die Rolle des Zufalls, das Verhältnis von Glaube und Evidenz, Risiko und Statistik. Nach diesem Grundkurs in Rationalität sind wir gewappnet, rationale Entscheidungen allein und mit anderen viel besser treffen zu können. Denn Rationalität ist immer noch das beste Werkzeug, um unser Schicksal in die Hand zu nehmen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Äußerst skeptisch tritt der hier rezensierende Philosoph Dieter Dieter Thomä an Steven Pinkers Buch heran, das die Rationalität als Handlungsdevise hochhält. Heraus komme dabei aber, so Dieter Thomä, eine bestenfalls "sterile", wenig originelle Abhandlung des Themas, der gleich mehrere Fehler unterlaufen: So kritisiert Dieter Thomä Pinkers selbst sehr enges Verständnis von Rationalität, nämlich im Zeichen der Ökonomie, die hier zu einer Art "Edelhelfer" nobilitiert werde. Unter den Tisch fallen dabei etwa, dass die Vernunft in allzu dominanter Form auch durchaus erschreckende Ausläufer haben könne; der Kritiker denkt hier etwa an Max Webers "Rationalisierung". Auch die herablassende Betrachtung gegenüber der Unvernunft und Gefühlswelt stößt Dieter Thomä unangenehm auf. Mit einer Analyse der Wechselwirkungen zwischen Vernunft und Emotion wäre weit mehr geholfen in den Fragen nach den Abwegen unserer Gesellschaft, mit denen Pinker sich schmücke, ohne sie letztlich zu beantworten, so der Kritiker.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021In der Rolle des Edelhelfers
Ist Pizza Gemüse? Steven Pinker holt aus zu einer merkwürdig sterilen Verteidigung der Rationalität
Steven Pinker, Harvardprofessor, Bestsellerautor und Freund steiler Thesen, versucht neuerdings, den Ball flach zu halten. In einem Interview mit der New York Times gelobt er Zurückhaltung ("I manage my controversy portfolio carefully"), und die lässt er auch in seinem neuen Buch "Mehr Rationalität" walten. Dies liegt nicht daran, dass ihn Mut oder missionarischer Eifer verlassen hätte, sondern eher daran, dass ihn das gewählte Thema zur Sachlichkeit verdonnert. Große Teile seines Buches lesen sich wie ein seriöser, oft unterhaltsamer, selten origineller Grundkurs in der Kunst, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Pinker spielt die Rolle eines Trainers, der Sprünge über logische Fallstricke einübt, und plädiert für ein Schulfach "Rationalität", das den Menschen dabei helfen soll, "dumme Fehler" zu vermeiden, "Risiken abzuwägen, fragwürdige Behauptungen zu bewerten oder verwirrende Paradoxien zu entschlüsseln".
Über solche Fähigkeiten zu verfügen ist nach Pinker kein Privileg von Experten, sondern eine staatsbürgerliche Tugend - und zugleich eine Überlebensfrage der Menschheit: "Die Zeit drängt", so meint er: Nur mit einem rational angelegten Großeinsatz könnten wir den "tödlichen Bedrohungen für unsere Gesundheit, unsere Demokratie und die Bewohnbarkeit unseres Planeten" entgegentreten und verhindern, dass wir uns "in eine Friedhofsspirale katapultieren". Diesen zutiefst humanen Zielen dient nach Pinker eben die Rationalität.
Dabei operiert Pinker mit einem ziemlich engen Rationalitätsverständnis, das vor allem von der Ökonomie geprägt ist: Wahrscheinlichkeitsrechnung, Nutzendiskontierung, Gefangenendilemma, Korrelationen und Kausalitäten beherrschen das Bild - und neckische Fragen schmücken es. Ist der Papst Junggeselle? Ist Pizza Gemüse? Pinker stellt auch Fragen, die er sich als Provokationen um den Hals hängt wie Orden: Verhindern Atomkraftwerke die Klimakatastrophe? Wer lernen will, was mit "Clustering- Illusion", "Bayes-Theorem", "Signalentdeckung" und "Basisraten" gemeint ist, wird erstklassig bedient. Den Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" sollte Pinker sich allerdings genauer ansehen, denn die unvernünftige Mutprobe, das sogenannte Chicken Game, bei dem James Dean und sein Widersacher auf einen Abgrund zufahren, erzählt er falsch.
Es gibt ein "zentrales Rätsel", das Pinker mit seinem Buch "zu lösen" beabsichtigt: "Wie kann eine rationale Spezies nur so irrational sein?" Eine gute Antwort auf diese Frage wäre angesichts der aktuellen Entwicklungen, auf die Pinker verweist ("Rassendiskriminierung, Erderwärmung, Donald Trump") höchst willkommen. Leider fällt seine Antwort dürftig aus - und das hat einerseits mit seinem Verständnis von Rationalität zu tun, andererseits mit seinem Umgang mit der Unvernunft.
Rationalität spielt bei Pinker vor allem die Rolle eines Edelhelfers. Sie soll uns helfen, Ziele zu erreichen und "unsere Entscheidungen mit unseren Werten in Einklang zu bringen". Als oberster Maßstab scheint ihm so etwas wie Lebensdienlichkeit vorzuschweben. So lobt er das in der Kalahari-Wüste lebende Volk der San für seine "wissenschaftliche Denkweise" bei der Sicherung des Überlebens. Vor allem aber liest er das lästerliche Akronym W.E.I.R.D. (Western-Educated-Industrialized-Rich-Democratic) gegen den Strich und feiert die westliche Welt für ihre Erfolge gegen Krankheit und Hunger. Was bei Pinker ganz unter den Tisch fällt, ist das, was Max Weber "Rationalisierung" genannt hat - also ein Prozess der Zivilisation, bei dem die Lebensziele eingehen wie die Primeln und die kollektive Organisation läuft wie am Schnürchen - freilich oft auf furchterregende Weise. Leider klammert sich dieser Autor, der ständig über die Borniertheit seiner Mitmenschen klagt, an seine Scheuklappen, als seien sie Schwimmringe gegen das Ertrinken. Er übersieht, dass die Vernunft nicht nur gegen ihre Verächter, sondern auch gegen ihre Verehrer verteidigt werden muss.
Dass Pinker - nach eigenem Anspruch Universalgelehrter von Haus aus, aber Psychologe - lieber auf das Individuum schaut als auf die Gesellschaft, darf man als disziplinäre Vorentscheidung respektieren. Doch auch sein Blick auf die individuelle Seele ist merkwürdig beschränkt. Um die Frage nach der Rolle der Irrationalität im menschlichen Leben zu beantworten, müsste er eigentlich in die Abgründe der menschlichen Seele hinabklettern, aber er begnügt sich damit, sozusagen von einer Aussichtsplattform mit Glasboden aus kurz runterzuschauen und sich im Entsetzen zu suhlen. Kurz wird die "Myside-Verzerrung" abgefertigt, also die Neigung, sich selbst zu begünstigen oder in günstiges Licht zu tauchen.
Ansonsten begnügt sich Pinker weitgehend mit einer seltsam sterilen Verteidigung der Rationalität: "Am wirkungsvollsten wäre eine Aufwertung der Norm der Rationalität selbst." (Dafür erntet er Beifall von denen, die sowieso schon alles besser wissen.) Pinker will die "Anreize in Richtung Wahrheit justieren" - und zwar durch "Gewaltenteilung in der Politik" und durch "Peer Review"-Verfahren in der Wissenschaft. (Gähnen im Publikum, vereinzelte Proteste.) Er will in den Parlamenten die Zahl der Rechtsanwälte senken und die Zahl der Wissenschaftler erhöhen. Auch will er Wahlentscheidungen, die durch Propaganda manipuliert werden, mit beratenden Versammlungen flankieren. (Im Publikum melden sich einige Interessenten und Bewerber, andere verlassen den Saal.)
Pinker hätte seinem Ziel, der Verteidigung der Vernunft, besser gedient, wenn er sich nicht auf die Feier ihrer Vorzüge kapriziert hätte, sondern eine kompakte Analyse der Synergien und Allergien im Verhältnis von Vernunft und Gefühl geliefert hätte. Seit Albert Hirschmans Buch "Leidenschaften und Interessen" weiß man, dass der penetrante Appell an die Vernunft kraftlos bleibt oder sogar kontraproduktiv wirkt. Wenn Pinker weniger abfällig an die Gefühlswelt herangetreten wäre, dann hätte er neben all den gefährlichen Gestalten, die den Dampfkessel der Aggressionen und Aversionen anheizen, auch sympathische Gesellen angetroffen - zum Beispiel den romantischen Dichter Percy Shelley, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts versuchte, neuen Schwung in das Spiel zwischen Vernunft und Gefühl zu bringen: "Solange die Seele nicht lieben, bewundern, vertrauen und hoffen kann, handelt es sich bei den vernünftigen Prinzipien der Moral um auf dem Lebensweg verstreute Saatkörner, die der unachtsame Wanderer im Staub zertritt, obwohl sie die Ernte seiner Glückseligkeit in sich tragen."
Ob Pinker versteht, was Shelley meint, hängt letztlich davon ab, ob ein schöner Satz von Upton Sinclair, den er zitiert, auf ihn selbst zutrifft: "Man kann einen Menschen schwer dazu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht." DIETER THOMÄ
Steven Pinker: "Mehr Rationalität". Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes.
Aus dem Englischen von Martina Wiese. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 432 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist Pizza Gemüse? Steven Pinker holt aus zu einer merkwürdig sterilen Verteidigung der Rationalität
Steven Pinker, Harvardprofessor, Bestsellerautor und Freund steiler Thesen, versucht neuerdings, den Ball flach zu halten. In einem Interview mit der New York Times gelobt er Zurückhaltung ("I manage my controversy portfolio carefully"), und die lässt er auch in seinem neuen Buch "Mehr Rationalität" walten. Dies liegt nicht daran, dass ihn Mut oder missionarischer Eifer verlassen hätte, sondern eher daran, dass ihn das gewählte Thema zur Sachlichkeit verdonnert. Große Teile seines Buches lesen sich wie ein seriöser, oft unterhaltsamer, selten origineller Grundkurs in der Kunst, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Pinker spielt die Rolle eines Trainers, der Sprünge über logische Fallstricke einübt, und plädiert für ein Schulfach "Rationalität", das den Menschen dabei helfen soll, "dumme Fehler" zu vermeiden, "Risiken abzuwägen, fragwürdige Behauptungen zu bewerten oder verwirrende Paradoxien zu entschlüsseln".
Über solche Fähigkeiten zu verfügen ist nach Pinker kein Privileg von Experten, sondern eine staatsbürgerliche Tugend - und zugleich eine Überlebensfrage der Menschheit: "Die Zeit drängt", so meint er: Nur mit einem rational angelegten Großeinsatz könnten wir den "tödlichen Bedrohungen für unsere Gesundheit, unsere Demokratie und die Bewohnbarkeit unseres Planeten" entgegentreten und verhindern, dass wir uns "in eine Friedhofsspirale katapultieren". Diesen zutiefst humanen Zielen dient nach Pinker eben die Rationalität.
Dabei operiert Pinker mit einem ziemlich engen Rationalitätsverständnis, das vor allem von der Ökonomie geprägt ist: Wahrscheinlichkeitsrechnung, Nutzendiskontierung, Gefangenendilemma, Korrelationen und Kausalitäten beherrschen das Bild - und neckische Fragen schmücken es. Ist der Papst Junggeselle? Ist Pizza Gemüse? Pinker stellt auch Fragen, die er sich als Provokationen um den Hals hängt wie Orden: Verhindern Atomkraftwerke die Klimakatastrophe? Wer lernen will, was mit "Clustering- Illusion", "Bayes-Theorem", "Signalentdeckung" und "Basisraten" gemeint ist, wird erstklassig bedient. Den Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" sollte Pinker sich allerdings genauer ansehen, denn die unvernünftige Mutprobe, das sogenannte Chicken Game, bei dem James Dean und sein Widersacher auf einen Abgrund zufahren, erzählt er falsch.
Es gibt ein "zentrales Rätsel", das Pinker mit seinem Buch "zu lösen" beabsichtigt: "Wie kann eine rationale Spezies nur so irrational sein?" Eine gute Antwort auf diese Frage wäre angesichts der aktuellen Entwicklungen, auf die Pinker verweist ("Rassendiskriminierung, Erderwärmung, Donald Trump") höchst willkommen. Leider fällt seine Antwort dürftig aus - und das hat einerseits mit seinem Verständnis von Rationalität zu tun, andererseits mit seinem Umgang mit der Unvernunft.
Rationalität spielt bei Pinker vor allem die Rolle eines Edelhelfers. Sie soll uns helfen, Ziele zu erreichen und "unsere Entscheidungen mit unseren Werten in Einklang zu bringen". Als oberster Maßstab scheint ihm so etwas wie Lebensdienlichkeit vorzuschweben. So lobt er das in der Kalahari-Wüste lebende Volk der San für seine "wissenschaftliche Denkweise" bei der Sicherung des Überlebens. Vor allem aber liest er das lästerliche Akronym W.E.I.R.D. (Western-Educated-Industrialized-Rich-Democratic) gegen den Strich und feiert die westliche Welt für ihre Erfolge gegen Krankheit und Hunger. Was bei Pinker ganz unter den Tisch fällt, ist das, was Max Weber "Rationalisierung" genannt hat - also ein Prozess der Zivilisation, bei dem die Lebensziele eingehen wie die Primeln und die kollektive Organisation läuft wie am Schnürchen - freilich oft auf furchterregende Weise. Leider klammert sich dieser Autor, der ständig über die Borniertheit seiner Mitmenschen klagt, an seine Scheuklappen, als seien sie Schwimmringe gegen das Ertrinken. Er übersieht, dass die Vernunft nicht nur gegen ihre Verächter, sondern auch gegen ihre Verehrer verteidigt werden muss.
Dass Pinker - nach eigenem Anspruch Universalgelehrter von Haus aus, aber Psychologe - lieber auf das Individuum schaut als auf die Gesellschaft, darf man als disziplinäre Vorentscheidung respektieren. Doch auch sein Blick auf die individuelle Seele ist merkwürdig beschränkt. Um die Frage nach der Rolle der Irrationalität im menschlichen Leben zu beantworten, müsste er eigentlich in die Abgründe der menschlichen Seele hinabklettern, aber er begnügt sich damit, sozusagen von einer Aussichtsplattform mit Glasboden aus kurz runterzuschauen und sich im Entsetzen zu suhlen. Kurz wird die "Myside-Verzerrung" abgefertigt, also die Neigung, sich selbst zu begünstigen oder in günstiges Licht zu tauchen.
Ansonsten begnügt sich Pinker weitgehend mit einer seltsam sterilen Verteidigung der Rationalität: "Am wirkungsvollsten wäre eine Aufwertung der Norm der Rationalität selbst." (Dafür erntet er Beifall von denen, die sowieso schon alles besser wissen.) Pinker will die "Anreize in Richtung Wahrheit justieren" - und zwar durch "Gewaltenteilung in der Politik" und durch "Peer Review"-Verfahren in der Wissenschaft. (Gähnen im Publikum, vereinzelte Proteste.) Er will in den Parlamenten die Zahl der Rechtsanwälte senken und die Zahl der Wissenschaftler erhöhen. Auch will er Wahlentscheidungen, die durch Propaganda manipuliert werden, mit beratenden Versammlungen flankieren. (Im Publikum melden sich einige Interessenten und Bewerber, andere verlassen den Saal.)
Pinker hätte seinem Ziel, der Verteidigung der Vernunft, besser gedient, wenn er sich nicht auf die Feier ihrer Vorzüge kapriziert hätte, sondern eine kompakte Analyse der Synergien und Allergien im Verhältnis von Vernunft und Gefühl geliefert hätte. Seit Albert Hirschmans Buch "Leidenschaften und Interessen" weiß man, dass der penetrante Appell an die Vernunft kraftlos bleibt oder sogar kontraproduktiv wirkt. Wenn Pinker weniger abfällig an die Gefühlswelt herangetreten wäre, dann hätte er neben all den gefährlichen Gestalten, die den Dampfkessel der Aggressionen und Aversionen anheizen, auch sympathische Gesellen angetroffen - zum Beispiel den romantischen Dichter Percy Shelley, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts versuchte, neuen Schwung in das Spiel zwischen Vernunft und Gefühl zu bringen: "Solange die Seele nicht lieben, bewundern, vertrauen und hoffen kann, handelt es sich bei den vernünftigen Prinzipien der Moral um auf dem Lebensweg verstreute Saatkörner, die der unachtsame Wanderer im Staub zertritt, obwohl sie die Ernte seiner Glückseligkeit in sich tragen."
Ob Pinker versteht, was Shelley meint, hängt letztlich davon ab, ob ein schöner Satz von Upton Sinclair, den er zitiert, auf ihn selbst zutrifft: "Man kann einen Menschen schwer dazu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht." DIETER THOMÄ
Steven Pinker: "Mehr Rationalität". Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes.
Aus dem Englischen von Martina Wiese. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 432 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das neue Buch des Harvard-Psychologen ist vor allem eine Anleitung zum rationalen Denken - gut lesbar, oft unterhaltsam und durchaus fordernd für den Verstand. Tobias Hürter Bild der Wissenschaft 20220718
Rezensent Burkhard Müller muss es leider sagen: Steven Pinkers neues Buch ist kein gutes. Dass, obgleich er Pinker als hervorragenden Kognitionspsychologen mit weitem Interessenspektrum kennt und der Band Anekdoten und Bildchen zur besseren Veranschaulichung enthält. Nützt alles nichts, meint Müller und benennt die Probleme des Buches. Wenn Pinker mehr Rationalität fordert und damit gegen Fake News und Verschwörungstheorien vorgehen will, so missachtet er laut Müller einen wichtigen Punkt: Dass dieses Lügen System hat. Problematisch findet der Rezensent auch, dass die Kategorien im Buch durcheinandergeraten, sobald der Autor sein Spezialgebiet der Logik verlässt. Und schließlich fehlt dem Kritiker der Blick auf die Validität von Studien. Pinker beschränkt sich auf die Reliabilität, meint er. Auf einer Skala von +10 bis -10 ergibt das für das Buch die Note -5, schließt Müller.
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Erkläranlagen
Der Harvard-Professor und Bestseller-Autor Steven Pinker hat ein Buch über die Fallen der
Vernunft geschrieben. Dass er ihnen selbst oft nicht entkommt, erzählt auch viel über uns alle
VON BURKHARD MÜLLER
Etwa ein Prozent aller Frauen erkranken pro Jahr an Brustkrebs. Der übliche Test, mit dem man ihn diagnostiziert, gibt mit einer 90-prozentigen Trefferquote das korrekte Resultat an, positiv oder negativ. Wenn man also alle Frauen testet und eine bestimmte von ihnen ein positives Resultat erhält – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich an Brustkrebs erkrankt ist?
Der weit überwiegende Teil der Probanden, einschließlich der befragten Ärzte, erwiderte darauf: 90 Prozent. Aber das ist völlig verkehrt, wie man durch eine simple Überlegung herausfindet. Zwar wird bei 90 Prozent der Erkrankten der Krebs tatsächlich entdeckt. Aber weil ja alle Frauen getestet worden sind, ergibt sich, dass auch von den 99 Prozent der Gesunden 10 Prozent eine falsche, also in ihrem Fall positive Diagnose bekommen. Von den elf Frauen mit positivem Befund hat also nur eine wirklich Krebs. 90 Prozent der positiv Getesteten sind gesund. Der intuitive Irrtum speziell der Ärzte bedeutet keineswegs eine Trivialität; denn auf dieser Grundlage werden sie eine Therapie vorschlagen, die vermutlich auf eine OP hinausläuft – obwohl das in rund zehn von elf Fällen vollkommen überflüssig wäre.
Intuitiv falsche Annahmen dieser Art bilden das Kernthema von Steven Pinkers neuem Buch „Mehr Rationalität. Eine Anleitung zu besserem Gebrauch des Verstandes“. (Die öfters recht verzwickte Gedankenführung wird den Lesenden durch kleine Comics und Anekdoten versüßt.) Der in Harvard lehrende Pinker ist der Star unter den Kognitionspsychologen und wurde vom Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gezählt.
In den 17 Büchern, die er seit den Achtzigerjahren verfasst hat und die sich auch großen populären Erfolgs erfreuen, geht es um Aufklärung, Sprachevolution, guten wissenschaftlichen Stil und die menschliche Natur. Auch in diesem neuesten Werk, das er am Schluss mit einem alphabetischen Register der von ihm behandelten denksystemischen Irrtümer versieht – vom „Ad-hominem-Fehlschluss“ bis zu „Zielscheibenfehler“ und „Zirkelbeweis“ –, geht er über das rein statistisch-logische Programm hinaus und erweitert das Feld in Richtung allerlei allgemeinerer Überlegungen zur Gesellschaft, wie sie ist und wie sie sein sollte.
Damit beginnen die Probleme des Buchs. Es sind im Wesentlichen drei. Erstens empfiehlt es sich als probates Gegenmittel zu dem, was in der Gegenwart, und verstärkt seit der Präsidentschaft Donald Trumps, an Fake News, Quacksalberei, Verschwörungserzählungen und postfaktischer Rhetorik in die Welt gesetzt wird. Aber wer sich darauf konzentriert, dass es alldem an innerer Logik mangelt, gerät in Gefahr, das Wesentliche daran zu verfehlen und den Gegner mithin zu unterschätzen. Es handelt sich ja nicht primär um Fehlschlüsse, die sich korrigieren ließen – und dann wäre alles wieder in Ordnung, Trump griffe sich an den Kopf und sagte: „Ach ja, du hast recht!“ Es handelt sich vielmehr um gezielte Lügen, Verleumdungen und Überrumpelungen, deren Urheber auf das widerlegende Argument eher nicht mit Einsicht reagieren, sondern mit Halsstarrigkeit und Aggression.
Wenn Trumps Berater Steve Bannon, wie Pinker ihn zitiert, als politische Taktik ausgibt: „Überflutet sie mit Scheiße!“, dann ist der Bau einer Kläranlage offensichtlich keine geeignete Gegenmaßnahme: Die schiere Masse soll die feinen Filter verstopfen, und tut es. Relativ spät und knapp geht Pinker darauf ein, dass das menschliche Erkenntnisvermögen sich nur selten auf einem ausgeglichenen Niveau befindet, sondern wie Wasser in Richtung des Eigeninteresses fließt: Was ihnen nützt, leuchtet den Leuten ein, auch wenn es eine komplexe Struktur aufweist; was ihnen schaden würde, das kann man ihnen nicht recht begreiflich machen. Und daran wird die unbedingte Forderung nach „Rationalität“ zuschanden, beziehungsweise ihr Begriff entfaltet eine zusätzliche Dimension, mit der Pinker nicht zurande kommt. Denn die Rationalität nur dort zuzulassen, wo man sie für die eigenen Zwecke instrumentalisieren kann, ist gewiss kein irrationales Verhalten – womit wir bei Problem Nummer zwei sind.
Um diesen Tatbestand der interessegeleiteten Intelligenz angemessen darzustellen, müsste man Dialektiker sein – und das ist Pinker, der sich vor allem auf die angelsächsischen Denker beruft und die kontinentale Philosophie fröhlich ignoriert, ganz bestimmt nicht. Sein Scharfsinn ist ein partikularer.
Sobald er das Gebiet der Logik und Statistik im engeren Sinn verlässt, wo er sich ohne Zweifel wirklich auskennt, schwirren ihm die Kategorien bunt durcheinander. Vernunft, Verstand, Aufklärung, Denken und Rationalität bedeuten für ihn sämtlich ungefähr dasselbe.
Gleich die allerersten Sätze von Pinkers Text lauten: „Rationalität sollte der Leitstern all unseres Tuns und Denkens sein. (Falls Sie anderer Ansicht sind – sind Ihre Einwände rational?)“ Man betrachte in aller Ruhe, welche Unfälle dem Autor bereits hier, wo er noch kaum einen Fuß in die Tür gesetzt hat, zugestoßen sind. Wer bitte hat es denn bestimmt, dass Rationalität diese exklusive Rolle spielen soll? Gibt es nicht weite Lebensbereiche, in der Rationalität einen manifest untergeordneten Platz einnimmt, etwa wenn sich jemand verliebt? Das ist eine petitio principii, also die illegitime Erschleichung des ersten Grundes, auf dem alles Weitere aufbauen soll – mal ganz abgesehen davon, dass Pinker mit seinen Forderungen die Rationalität im System der Moral verortet, wo sie zweifellos nicht hingehört.
Der Autor, der so was gespürt haben mag, rennt prompt in die nächste Falle. Wer es wagen sollte, ihm zu widersprechen, der hätte sich in dem, was er sagt, dennoch dem universalen Gericht der Rationalität zu unterwerfen, von dem er mutmaßlich verurteilt würde. Aber der Einwand besteht ja gerade darin, dessen Zuständigkeit anzuzweifeln. Pinker verlangt also nichts Geringeres, als das Amt des Richters abzuschaffen und seinen eigenen Anwalt auf den Richterstuhl zu heben – was sich mit keiner logischen oder juristischen Prozessordnung vereinbaren lässt. Und dieser Mann will uns was über interessengelenkte Schlauheit und Dummheit erzählen? Man schmunzelt, wie Pinker das möchte, aber nicht mit, sondern über ihn.
Ihm unterläuft noch so mancherlei. Über Verschwörungstheorien ist so gut wie gar nichts gesagt, wenn man sie als „falsch“ bezeichnet. Sie haben in einer Gesellschaft ihre unmissverständliche Aufgabe, indem sie die Komplexität der Welt bequemerweise in ein Zweierlei von Drinnen (böse Täter) und Draußen (arme Opfer) scheiden. Damit wird für ethische und sachliche Klarheit gesorgt. Bei der von ihm geschätzten Spieltheorie sieht er davon ab, dass die dargestellten Situationen sich niemals in der erforderlichen Reinheit darbieten – es genügt, wenn ein Mitspieler schlicht anständig ist, und die ganze Theorie geht den Bach runter.
Und er geht, Problem Nummer drei, vollumfänglich jener soziologisch-psychologischen Betriebsblindheit auf den Leim, die bei wissenschaftlichen Studien immer nur die Reliabilität (stimmen die Zahlen?) im Blick hat und niemals die Validität (messen die Zahlen, was sie zu messen vorgeben?). Frohgemut entwirft er, um den Begriff der Korrelation zu erläutern, ein zweiachsiges Koordinatensystem, bei dem an die eine Achse das Bruttosozialprodukt eines Landes angetragen wird und an die andere das in Punkten angegebene Glückslevel, woraus dann wunderbarerweise resultiert, dass die Leute umso glücklicher sind, je mehr Geld sie haben. Dass man Glück niemals so messen kann wie einen Kontostand, dass jeder sich darunter etwas anderes vorstellt, dass manche Menschen sich schon aus Vorsicht oder Aberglaube lieber nicht als glücklich bezeichnen wollen, auch wenn sie keinen Grund zum Meckern haben – dass diese ganze zweite Achse also nichts ist als ein pseudowissenschaftliches Phantasma: daran denkt Pinker offenbar nicht einmal.
Noch schlimmer wird es, wenn er auf ähnliche Weise den Zusammenhang von Demokratie und Frieden zeigen will, ohne der Kategorie des Politischen den Hauch einer Chance zu geben; hier sind gleich beide Achsen unbrauchbar. Den weltweit höchsten Demokratie-Koeffizienten von +10 erkennt er übrigens Norwegen zu, wobei ihm offenbar entgangen ist, dass dieses Land eine Erbmonarchie besitzt.
Um es in einer Weise auszudrücken, die auch Pinker verstehen würde: Für das, was dieses Buch richtig und aufschlussreich darstellt, bekommt es auf der Skala von +10 bis -10 eine +6; doppelt so umfangreich sind allerdings seine Ausgriffe in ihm fremdes Terrain, wofür es die Note -8 erhält. Das ergibt in der Gesamtwertung (6 + ) : 2 = -5 Punkte. Kein gutes Buch.
Pinker wurde von „Time“
zu den 100 einflussreichsten
Menschen der Welt gezählt
Das Amt des Richters will er
abschaffen und seinen Anwalt
auf den Richterstuhl setzen
Steven Pinker:
Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes. Aus dem Englischen
von Martina Wiese.
S. Fischer, Frankfurt
am Main, 2021.
432 Seiten, 25 Euro.
Wer sich bei Verschwörungserzählungen darauf konzentriert, dass es ihnen an innerer Logik mangelt, gerät in Gefahr, das Wesentliche zu verfehlen: Fassade der Pizzeria Comet Ping Pong in Washington, die 2016 im Mittelpunkt von Fake News stand, nach denen Hillary Clinton dort einen Kinderpornoring betrieb. Foto: Reuters
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Harvard-Professor und Bestseller-Autor Steven Pinker hat ein Buch über die Fallen der
Vernunft geschrieben. Dass er ihnen selbst oft nicht entkommt, erzählt auch viel über uns alle
VON BURKHARD MÜLLER
Etwa ein Prozent aller Frauen erkranken pro Jahr an Brustkrebs. Der übliche Test, mit dem man ihn diagnostiziert, gibt mit einer 90-prozentigen Trefferquote das korrekte Resultat an, positiv oder negativ. Wenn man also alle Frauen testet und eine bestimmte von ihnen ein positives Resultat erhält – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich an Brustkrebs erkrankt ist?
Der weit überwiegende Teil der Probanden, einschließlich der befragten Ärzte, erwiderte darauf: 90 Prozent. Aber das ist völlig verkehrt, wie man durch eine simple Überlegung herausfindet. Zwar wird bei 90 Prozent der Erkrankten der Krebs tatsächlich entdeckt. Aber weil ja alle Frauen getestet worden sind, ergibt sich, dass auch von den 99 Prozent der Gesunden 10 Prozent eine falsche, also in ihrem Fall positive Diagnose bekommen. Von den elf Frauen mit positivem Befund hat also nur eine wirklich Krebs. 90 Prozent der positiv Getesteten sind gesund. Der intuitive Irrtum speziell der Ärzte bedeutet keineswegs eine Trivialität; denn auf dieser Grundlage werden sie eine Therapie vorschlagen, die vermutlich auf eine OP hinausläuft – obwohl das in rund zehn von elf Fällen vollkommen überflüssig wäre.
Intuitiv falsche Annahmen dieser Art bilden das Kernthema von Steven Pinkers neuem Buch „Mehr Rationalität. Eine Anleitung zu besserem Gebrauch des Verstandes“. (Die öfters recht verzwickte Gedankenführung wird den Lesenden durch kleine Comics und Anekdoten versüßt.) Der in Harvard lehrende Pinker ist der Star unter den Kognitionspsychologen und wurde vom Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gezählt.
In den 17 Büchern, die er seit den Achtzigerjahren verfasst hat und die sich auch großen populären Erfolgs erfreuen, geht es um Aufklärung, Sprachevolution, guten wissenschaftlichen Stil und die menschliche Natur. Auch in diesem neuesten Werk, das er am Schluss mit einem alphabetischen Register der von ihm behandelten denksystemischen Irrtümer versieht – vom „Ad-hominem-Fehlschluss“ bis zu „Zielscheibenfehler“ und „Zirkelbeweis“ –, geht er über das rein statistisch-logische Programm hinaus und erweitert das Feld in Richtung allerlei allgemeinerer Überlegungen zur Gesellschaft, wie sie ist und wie sie sein sollte.
Damit beginnen die Probleme des Buchs. Es sind im Wesentlichen drei. Erstens empfiehlt es sich als probates Gegenmittel zu dem, was in der Gegenwart, und verstärkt seit der Präsidentschaft Donald Trumps, an Fake News, Quacksalberei, Verschwörungserzählungen und postfaktischer Rhetorik in die Welt gesetzt wird. Aber wer sich darauf konzentriert, dass es alldem an innerer Logik mangelt, gerät in Gefahr, das Wesentliche daran zu verfehlen und den Gegner mithin zu unterschätzen. Es handelt sich ja nicht primär um Fehlschlüsse, die sich korrigieren ließen – und dann wäre alles wieder in Ordnung, Trump griffe sich an den Kopf und sagte: „Ach ja, du hast recht!“ Es handelt sich vielmehr um gezielte Lügen, Verleumdungen und Überrumpelungen, deren Urheber auf das widerlegende Argument eher nicht mit Einsicht reagieren, sondern mit Halsstarrigkeit und Aggression.
Wenn Trumps Berater Steve Bannon, wie Pinker ihn zitiert, als politische Taktik ausgibt: „Überflutet sie mit Scheiße!“, dann ist der Bau einer Kläranlage offensichtlich keine geeignete Gegenmaßnahme: Die schiere Masse soll die feinen Filter verstopfen, und tut es. Relativ spät und knapp geht Pinker darauf ein, dass das menschliche Erkenntnisvermögen sich nur selten auf einem ausgeglichenen Niveau befindet, sondern wie Wasser in Richtung des Eigeninteresses fließt: Was ihnen nützt, leuchtet den Leuten ein, auch wenn es eine komplexe Struktur aufweist; was ihnen schaden würde, das kann man ihnen nicht recht begreiflich machen. Und daran wird die unbedingte Forderung nach „Rationalität“ zuschanden, beziehungsweise ihr Begriff entfaltet eine zusätzliche Dimension, mit der Pinker nicht zurande kommt. Denn die Rationalität nur dort zuzulassen, wo man sie für die eigenen Zwecke instrumentalisieren kann, ist gewiss kein irrationales Verhalten – womit wir bei Problem Nummer zwei sind.
Um diesen Tatbestand der interessegeleiteten Intelligenz angemessen darzustellen, müsste man Dialektiker sein – und das ist Pinker, der sich vor allem auf die angelsächsischen Denker beruft und die kontinentale Philosophie fröhlich ignoriert, ganz bestimmt nicht. Sein Scharfsinn ist ein partikularer.
Sobald er das Gebiet der Logik und Statistik im engeren Sinn verlässt, wo er sich ohne Zweifel wirklich auskennt, schwirren ihm die Kategorien bunt durcheinander. Vernunft, Verstand, Aufklärung, Denken und Rationalität bedeuten für ihn sämtlich ungefähr dasselbe.
Gleich die allerersten Sätze von Pinkers Text lauten: „Rationalität sollte der Leitstern all unseres Tuns und Denkens sein. (Falls Sie anderer Ansicht sind – sind Ihre Einwände rational?)“ Man betrachte in aller Ruhe, welche Unfälle dem Autor bereits hier, wo er noch kaum einen Fuß in die Tür gesetzt hat, zugestoßen sind. Wer bitte hat es denn bestimmt, dass Rationalität diese exklusive Rolle spielen soll? Gibt es nicht weite Lebensbereiche, in der Rationalität einen manifest untergeordneten Platz einnimmt, etwa wenn sich jemand verliebt? Das ist eine petitio principii, also die illegitime Erschleichung des ersten Grundes, auf dem alles Weitere aufbauen soll – mal ganz abgesehen davon, dass Pinker mit seinen Forderungen die Rationalität im System der Moral verortet, wo sie zweifellos nicht hingehört.
Der Autor, der so was gespürt haben mag, rennt prompt in die nächste Falle. Wer es wagen sollte, ihm zu widersprechen, der hätte sich in dem, was er sagt, dennoch dem universalen Gericht der Rationalität zu unterwerfen, von dem er mutmaßlich verurteilt würde. Aber der Einwand besteht ja gerade darin, dessen Zuständigkeit anzuzweifeln. Pinker verlangt also nichts Geringeres, als das Amt des Richters abzuschaffen und seinen eigenen Anwalt auf den Richterstuhl zu heben – was sich mit keiner logischen oder juristischen Prozessordnung vereinbaren lässt. Und dieser Mann will uns was über interessengelenkte Schlauheit und Dummheit erzählen? Man schmunzelt, wie Pinker das möchte, aber nicht mit, sondern über ihn.
Ihm unterläuft noch so mancherlei. Über Verschwörungstheorien ist so gut wie gar nichts gesagt, wenn man sie als „falsch“ bezeichnet. Sie haben in einer Gesellschaft ihre unmissverständliche Aufgabe, indem sie die Komplexität der Welt bequemerweise in ein Zweierlei von Drinnen (böse Täter) und Draußen (arme Opfer) scheiden. Damit wird für ethische und sachliche Klarheit gesorgt. Bei der von ihm geschätzten Spieltheorie sieht er davon ab, dass die dargestellten Situationen sich niemals in der erforderlichen Reinheit darbieten – es genügt, wenn ein Mitspieler schlicht anständig ist, und die ganze Theorie geht den Bach runter.
Und er geht, Problem Nummer drei, vollumfänglich jener soziologisch-psychologischen Betriebsblindheit auf den Leim, die bei wissenschaftlichen Studien immer nur die Reliabilität (stimmen die Zahlen?) im Blick hat und niemals die Validität (messen die Zahlen, was sie zu messen vorgeben?). Frohgemut entwirft er, um den Begriff der Korrelation zu erläutern, ein zweiachsiges Koordinatensystem, bei dem an die eine Achse das Bruttosozialprodukt eines Landes angetragen wird und an die andere das in Punkten angegebene Glückslevel, woraus dann wunderbarerweise resultiert, dass die Leute umso glücklicher sind, je mehr Geld sie haben. Dass man Glück niemals so messen kann wie einen Kontostand, dass jeder sich darunter etwas anderes vorstellt, dass manche Menschen sich schon aus Vorsicht oder Aberglaube lieber nicht als glücklich bezeichnen wollen, auch wenn sie keinen Grund zum Meckern haben – dass diese ganze zweite Achse also nichts ist als ein pseudowissenschaftliches Phantasma: daran denkt Pinker offenbar nicht einmal.
Noch schlimmer wird es, wenn er auf ähnliche Weise den Zusammenhang von Demokratie und Frieden zeigen will, ohne der Kategorie des Politischen den Hauch einer Chance zu geben; hier sind gleich beide Achsen unbrauchbar. Den weltweit höchsten Demokratie-Koeffizienten von +10 erkennt er übrigens Norwegen zu, wobei ihm offenbar entgangen ist, dass dieses Land eine Erbmonarchie besitzt.
Um es in einer Weise auszudrücken, die auch Pinker verstehen würde: Für das, was dieses Buch richtig und aufschlussreich darstellt, bekommt es auf der Skala von +10 bis -10 eine +6; doppelt so umfangreich sind allerdings seine Ausgriffe in ihm fremdes Terrain, wofür es die Note -8 erhält. Das ergibt in der Gesamtwertung (6 + ) : 2 = -5 Punkte. Kein gutes Buch.
Pinker wurde von „Time“
zu den 100 einflussreichsten
Menschen der Welt gezählt
Das Amt des Richters will er
abschaffen und seinen Anwalt
auf den Richterstuhl setzen
Steven Pinker:
Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes. Aus dem Englischen
von Martina Wiese.
S. Fischer, Frankfurt
am Main, 2021.
432 Seiten, 25 Euro.
Wer sich bei Verschwörungserzählungen darauf konzentriert, dass es ihnen an innerer Logik mangelt, gerät in Gefahr, das Wesentliche zu verfehlen: Fassade der Pizzeria Comet Ping Pong in Washington, die 2016 im Mittelpunkt von Fake News stand, nach denen Hillary Clinton dort einen Kinderpornoring betrieb. Foto: Reuters
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