Los Angeles 1984. Roland Farwick patzt beim Weitsprung. Das kostet den weltbesten Zehnkämpfer die Medaille und seine Karriere. Zwanzig Jahre später wird er angeschossen; prompt setzt er sein still gestelltes Leben wieder in Bewegung. Er gründet eine Familie.Und gewinnt einen Partner. Der ermittelnde Hauptkommissar Ludger Grambach ist einer der Millionen, die Zeugen von Farwicks Schicksal wurden. Und seine eigene Geschichte als gescheitertes Genie ist mit der des Zehnkämpfers eng verknüpft. Statt Freundschaft aber beginnt ein Duell, das sich an der Oberfläche der Ermittlungsarbeit und in den Tiefen eines Internetspiels abspielt. Bis alles, was vor zwanzig Jahren aufgeschoben wurde, endlich ausgetragen werden muss.Burkhard Spinnens Roman Mehrkampf nutzt virtuos das Krimi-Genre, um über Mittvierziger zu erzählen, die sich gegen das Älterwerden stemmen. Der Zehnkämpfer verwaltet seine Geschichte. Der ehemals Hochbegabte wartet immer noch darauf, dass er seine Bestimmung findet. Spinnen bringt das Kunststück fertig, einen spannenden Kriminalroman und zugleich ein Lehrstück über eine ganze Generation von Männern und ihre Flucht vor der Verantwortung zu schreiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2007Gehüpft wie gesprungen
Im Sport entscheiden Millimeter und Zehntelsekunden darüber, ob einer als Heros, Niete oder Tragöde das Stadion verlässt. Burkhard Spinnens neuer Roman schickt einen Zehnkämpfer ins Rennen.
Von Edo Reents
Jürgen Hingsen, deutscher Zehnkämpfer und ehemaliger Weltrekordhalter, brachte bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul das, man muss schon sagen: Kunststück fertig, gleich in der ersten Disziplin auszuscheiden, weil er beim Hundert-Meter-Lauf offiziell drei, eigentlich sogar vier Fehlstarts hatte. Das löste damals nicht nur unter Sportreportern erhebliches Gelächter aus, das Hingsen mit abenteuerlichen Erklärungen und Uneinsichtigkeit noch zu befeuern wusste. Man muss dazu wissen, dass dieser Lachnummer einer der spektakulärsten Dopingfälle vorausgegangen war: Der kanadische Sprinter Ben Johnson war bereits überführt und disqualifiziert worden. Sollten also die Fehlstarts, die anders fast nicht zu erklären sind, Absicht gewesen sein, weil Hingsen damit einer Dopingkontrolle entgehen wollte, dann stünde er doch etwas anders da als jener Depp der Nation, als der er in die Sportgeschichte einging.
Dies ist sicherlich auch ein literarischer Stoff. Das Scheitern großer Sportler, zu denen Hingsen durchaus zählte, in entscheidenden Momenten, das Zunichtewerden einer mühseligen und kostspieligen Vorbereitungszeit, die auf den einen Punkt hin ausgerichtet war - das hat etwas Bewegendes, das über das rein Sportliche hinausreicht und die unterschiedlichsten Köpfe zu Deutungen reizt.
Wenn nun Burkhard Spinnen einen Roman von nicht zu knappem Umfang über einen Zehnkämpfer vorlegt, dann macht das nicht nur den sportinteressierten Leser neugierig. Dieser preisgekrönte Autor, Jahrgang 1956, ist auf Grund seiner weit gestreuten Interessen ein gerngesehener Gast in den deutschen Feuilletons (auch dieser Zeitung) und hat sich dabei als Spezialist für Alltags- und Mentalitätsgeschichte erwiesen, ob nun für Modelleisenbahnen, Borussia Mönchengladbach oder Sabine Christiansen.
Ja, denkt man, bei Spinnen werden wir schon an den richtigen Mann geraten sein. Wenn man dann allerdings in seinem Zehnkampfroman "Mehrkampf" diesen Dialog liest, dann wird man gleich misstrauisch: ",Sie waren also auch Zehnkämpfer. Oder Zwanzigkämpfer? Als Sportlehrer muss man doch alle Sportarten kennen.' Er lacht. ,Ich kenne zehn.'" Hier spricht ein gewisser Roland Farwick, um dessen Scheitern es geht. Der Zehnkämpfer meint in dieser selbstbezüglichen Äußerung aber gar nicht zehn Sportarten, sondern Disziplinen; "Sportart" ist die allgemeine Kategorie, also Leichtathletik, innerhalb deren Zehnkampf eine Disziplin ist, und innerhalb dieser gibt es wiederum die zehn Disziplinen Sprint, Springen und so weiter. Ein Detail, gewiss, das man noch nicht überbewerten sollte. Aber es ist doch verräterisch.
Wir haben es also mit dem Zehnkämpfer Roland Farwick zu tun, der bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles im Weitsprung beim entscheidenden dritten Versuch übertritt, obwohl er damit, so wird es zumindest insinuiert, wahrscheinlich Weltrekord gesprungen wäre. Und dies ist schon die nächste Ungenauigkeit: Es ist zwar möglich, dass ein Zehnkämpfer in einer bestimmten Disziplin Weltrekord erzielt; aber es ist äußerst unwahrscheinlich. Beim Weitsprung kommt hinzu, dass seit 1968 und bis 1991 der Weltrekord Bob Beamons gültig war, von dem man sich lange gefragt hat, ob er überhaupt jemals gebrochen würde und wenn, dann bestimmt nicht von einem Zehnkämpfer.
Dass Spinnen kein Don DeLillo und kein Richard Ford ist, wusste man schon vorher; aber dass hier praktisch alles, was sportlich von Belang ist, blasse Behauptung bleibt, das ist schon ein Ärgernis: die Enttäuschung des Athleten über seinen Patzer; die Anteilnahme oder der Ärger der Sportzuschauer; die Konsequenz, die Farwick im zarten Zehnkämpferalter von vierundzwanzig Jahren daraus zieht, indem er, der ehemalige Weltrekordhalter, seine Karriere noch im Stadion beendet. Was hilft es da, wenn Spinnen bemüht ist, den Fall mit Bedeutung aufzuladen - vom fassungslosen Trainer gibt es angeblich ein "Foto, das um die Welt ging" -, wenn praktisch in allem an Wahrscheinlichkeit und Plausibilität mangelt? Dass Spinnen seinen haarsträubend konstruierten Fall an Hingsen anlehnt, wenn auch mit der zeitlichen Verschiebung von vier Jahren und der örtlichen von Seoul nach Los Angeles, ist bereits an einem Satz erkennbar: "Du wolltest nicht zur Dopingkontrolle." Statt der Spur dann auch nachzugehen, lässt Spinnen seinen Helden der Krankenschwester, die diesen Verdacht äußert, unter den Kittel greifen, bevor er sie dann auf dem Krankenbett, Zitat, "vögelt". Aber übergehen wir solche softpornographischen Einlagen und folgen wir dem Plot.
Roland Farwick wird zwanzig Jahre nach seiner Blamage in offensichtlich mörderischer Absicht angeschossen. Der Polizeibeamte Grambach, ein alter Bekannter und sportlich gleichfalls nicht ohne Ehrgeiz, gerät bei der Suche nach dem Schützen an Farwicks Ex-Frau, mit der er sich irgendwie sogar einlässt, an den Kinderbuchautor Pardon (allein der Name ist zum Haareraufen), der damals eine Biographie über den Vierundzwanzigjährigen (!) schreiben wollte, an den geheimnisvollen Weber, der sich schließlich selber eine Kugel in den Kopf jagt und insofern der Gesuchte sein könnte, und an weiteres Personal, das geradewegs dem Holzschnittfigurenkabinett des Doktor Spinnen entlaufen zu sein scheint, so ausgedacht wirkt das alles. Deswegen ist es auch egal, wie die Sache ausgeht: War es ein Verrückter oder der alte, seit Los Angeles vor Kummer kranke Trainer? War es etwa Grambach, oder hat Farwick den Schützen von sich aus angeheuert? Vielleicht hatte Spinnen, der sich sicherlich auch für das Kino interessiert, Kaurismäkis "I Hired A Contract Killer" vor Augen. Aber er geht lieber ins Netz und lässt Grambach umständlich und ermüdend mit Hilfe eines Internetspiels (selbstverständlich "das anspruchsvollste seiner Art") ermitteln, wobei man schon ein schlechtes Gewissen bekommt, weil man den offenbar intendierten Witz einer Parallelhandlung nicht richtig begreift.
Sport ist Mord - das ist es wohl, was Spinnen uns sagen will, weil sein Personal fortwährend von einem "Mörder" redet, obwohl es gar keinen Mord gibt. Eine andere Binsenweisheit besagt, dass gutes Deutsch Glückssache ist. Auch hier tritt Spinnen, wie sein komischer Held, kräftig über. Dass die pronominalen Bezüge oft nicht stimmen, wird man als Ausdruck einer Schwäche werten dürfen, die auch andere Gegenwartsautoren (und Lektoren) mittlerweile befallen hat. Hier erstaunt, wie viel schon auf engstem Raum nicht passt: "Er hält die Luft an und spannt die Muskeln, sie lacht, dann beißt sie ihn einmal in die Seite und nimmt ihn in den Mund. Seine Erektion ist wieder prompt und makellos." Wenn "sie" zunächst "ihn" in die Seite beißt, dann wird der Mann, also Farwick, gemeint sein und nicht etwas anderes, auf das sich das zweite "ihn" bezieht; es sei denn, die Krankenschwester kann einen ganzen Patienten in den Mund nehmen (vom adjektivischen Gebrauch des "prompt" zu schweigen). Und da, wo auf eigene Faust sentenzhaft Sinn gestiftet werden soll, geht die Sache ebenfalls schief: "Wer selbst noch ein Sohn ist, kann eigentlich nicht Vater werden." Das liest man und denkt: Stimmt das denn auch?
Keine Seite, ja, kaum ein Absatz ist ohne Stellen, die man nicht zumindest ankringeln muss: falsche oder fehlende Konjunktive ("tun wir, als ob nichts war"), fehlende Reflexivpronomina ("Er entscheidet, vollkommen ruhig zu bleiben"), Unsicherheiten bei festgefügten Wendungen, überhaupt jede Menge Schief- und Gestelztheiten sowie Ungenauigkeiten ("seitdem" statt "seit", "Objekt ihrer Vorsorge", "flammneu") und und und. Dabei ist Spinnen in Sprachkritik so verliebt wie jeder Schriftsteller, der auch nicht recht weiß, was er eigentlich erzählen will: "Aber der Satz kümmert sich einen Dreck um die Tatsache. Er kommt wie ein verwirrter Cousin zur Familienfeier. Stürmt ohne anzuklopfen herein und wirft ein paar Fotos und Papiere auf den Tisch, mit einer Geste, die sagt: Hier! Da habt ihr's jetzt schwarz auf weiß."
Ja, da haben wir's. Aber wer soll das eigentlich lesen? Spinnen ist promovierter Germanist und muss, wenn das Lektorat dergleichen schon durchwinkt (oder verschlimmbessert?), doch selber auf so etwas achten. Leider gibt es "Derrick" nicht mehr, sonst hätten Verlag und Autor diese einmaligen und überdies - eine Unart auch in anderen Verlagen - oft noch nicht einmal durch Anführungsstriche gekennzeichneten Dialoge dem ZDF andrehen können; aber die "Tatort"-Redaktion wird dafür sicherlich Verwendung haben. Einen spannenden Fernsehkrimi gibt die Sache vielleicht noch her; nur keinen Roman, jedenfalls nicht in dieser Form.
- Burkhard Spinnen: "Mehrkampf". Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2007. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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Im Sport entscheiden Millimeter und Zehntelsekunden darüber, ob einer als Heros, Niete oder Tragöde das Stadion verlässt. Burkhard Spinnens neuer Roman schickt einen Zehnkämpfer ins Rennen.
Von Edo Reents
Jürgen Hingsen, deutscher Zehnkämpfer und ehemaliger Weltrekordhalter, brachte bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul das, man muss schon sagen: Kunststück fertig, gleich in der ersten Disziplin auszuscheiden, weil er beim Hundert-Meter-Lauf offiziell drei, eigentlich sogar vier Fehlstarts hatte. Das löste damals nicht nur unter Sportreportern erhebliches Gelächter aus, das Hingsen mit abenteuerlichen Erklärungen und Uneinsichtigkeit noch zu befeuern wusste. Man muss dazu wissen, dass dieser Lachnummer einer der spektakulärsten Dopingfälle vorausgegangen war: Der kanadische Sprinter Ben Johnson war bereits überführt und disqualifiziert worden. Sollten also die Fehlstarts, die anders fast nicht zu erklären sind, Absicht gewesen sein, weil Hingsen damit einer Dopingkontrolle entgehen wollte, dann stünde er doch etwas anders da als jener Depp der Nation, als der er in die Sportgeschichte einging.
Dies ist sicherlich auch ein literarischer Stoff. Das Scheitern großer Sportler, zu denen Hingsen durchaus zählte, in entscheidenden Momenten, das Zunichtewerden einer mühseligen und kostspieligen Vorbereitungszeit, die auf den einen Punkt hin ausgerichtet war - das hat etwas Bewegendes, das über das rein Sportliche hinausreicht und die unterschiedlichsten Köpfe zu Deutungen reizt.
Wenn nun Burkhard Spinnen einen Roman von nicht zu knappem Umfang über einen Zehnkämpfer vorlegt, dann macht das nicht nur den sportinteressierten Leser neugierig. Dieser preisgekrönte Autor, Jahrgang 1956, ist auf Grund seiner weit gestreuten Interessen ein gerngesehener Gast in den deutschen Feuilletons (auch dieser Zeitung) und hat sich dabei als Spezialist für Alltags- und Mentalitätsgeschichte erwiesen, ob nun für Modelleisenbahnen, Borussia Mönchengladbach oder Sabine Christiansen.
Ja, denkt man, bei Spinnen werden wir schon an den richtigen Mann geraten sein. Wenn man dann allerdings in seinem Zehnkampfroman "Mehrkampf" diesen Dialog liest, dann wird man gleich misstrauisch: ",Sie waren also auch Zehnkämpfer. Oder Zwanzigkämpfer? Als Sportlehrer muss man doch alle Sportarten kennen.' Er lacht. ,Ich kenne zehn.'" Hier spricht ein gewisser Roland Farwick, um dessen Scheitern es geht. Der Zehnkämpfer meint in dieser selbstbezüglichen Äußerung aber gar nicht zehn Sportarten, sondern Disziplinen; "Sportart" ist die allgemeine Kategorie, also Leichtathletik, innerhalb deren Zehnkampf eine Disziplin ist, und innerhalb dieser gibt es wiederum die zehn Disziplinen Sprint, Springen und so weiter. Ein Detail, gewiss, das man noch nicht überbewerten sollte. Aber es ist doch verräterisch.
Wir haben es also mit dem Zehnkämpfer Roland Farwick zu tun, der bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles im Weitsprung beim entscheidenden dritten Versuch übertritt, obwohl er damit, so wird es zumindest insinuiert, wahrscheinlich Weltrekord gesprungen wäre. Und dies ist schon die nächste Ungenauigkeit: Es ist zwar möglich, dass ein Zehnkämpfer in einer bestimmten Disziplin Weltrekord erzielt; aber es ist äußerst unwahrscheinlich. Beim Weitsprung kommt hinzu, dass seit 1968 und bis 1991 der Weltrekord Bob Beamons gültig war, von dem man sich lange gefragt hat, ob er überhaupt jemals gebrochen würde und wenn, dann bestimmt nicht von einem Zehnkämpfer.
Dass Spinnen kein Don DeLillo und kein Richard Ford ist, wusste man schon vorher; aber dass hier praktisch alles, was sportlich von Belang ist, blasse Behauptung bleibt, das ist schon ein Ärgernis: die Enttäuschung des Athleten über seinen Patzer; die Anteilnahme oder der Ärger der Sportzuschauer; die Konsequenz, die Farwick im zarten Zehnkämpferalter von vierundzwanzig Jahren daraus zieht, indem er, der ehemalige Weltrekordhalter, seine Karriere noch im Stadion beendet. Was hilft es da, wenn Spinnen bemüht ist, den Fall mit Bedeutung aufzuladen - vom fassungslosen Trainer gibt es angeblich ein "Foto, das um die Welt ging" -, wenn praktisch in allem an Wahrscheinlichkeit und Plausibilität mangelt? Dass Spinnen seinen haarsträubend konstruierten Fall an Hingsen anlehnt, wenn auch mit der zeitlichen Verschiebung von vier Jahren und der örtlichen von Seoul nach Los Angeles, ist bereits an einem Satz erkennbar: "Du wolltest nicht zur Dopingkontrolle." Statt der Spur dann auch nachzugehen, lässt Spinnen seinen Helden der Krankenschwester, die diesen Verdacht äußert, unter den Kittel greifen, bevor er sie dann auf dem Krankenbett, Zitat, "vögelt". Aber übergehen wir solche softpornographischen Einlagen und folgen wir dem Plot.
Roland Farwick wird zwanzig Jahre nach seiner Blamage in offensichtlich mörderischer Absicht angeschossen. Der Polizeibeamte Grambach, ein alter Bekannter und sportlich gleichfalls nicht ohne Ehrgeiz, gerät bei der Suche nach dem Schützen an Farwicks Ex-Frau, mit der er sich irgendwie sogar einlässt, an den Kinderbuchautor Pardon (allein der Name ist zum Haareraufen), der damals eine Biographie über den Vierundzwanzigjährigen (!) schreiben wollte, an den geheimnisvollen Weber, der sich schließlich selber eine Kugel in den Kopf jagt und insofern der Gesuchte sein könnte, und an weiteres Personal, das geradewegs dem Holzschnittfigurenkabinett des Doktor Spinnen entlaufen zu sein scheint, so ausgedacht wirkt das alles. Deswegen ist es auch egal, wie die Sache ausgeht: War es ein Verrückter oder der alte, seit Los Angeles vor Kummer kranke Trainer? War es etwa Grambach, oder hat Farwick den Schützen von sich aus angeheuert? Vielleicht hatte Spinnen, der sich sicherlich auch für das Kino interessiert, Kaurismäkis "I Hired A Contract Killer" vor Augen. Aber er geht lieber ins Netz und lässt Grambach umständlich und ermüdend mit Hilfe eines Internetspiels (selbstverständlich "das anspruchsvollste seiner Art") ermitteln, wobei man schon ein schlechtes Gewissen bekommt, weil man den offenbar intendierten Witz einer Parallelhandlung nicht richtig begreift.
Sport ist Mord - das ist es wohl, was Spinnen uns sagen will, weil sein Personal fortwährend von einem "Mörder" redet, obwohl es gar keinen Mord gibt. Eine andere Binsenweisheit besagt, dass gutes Deutsch Glückssache ist. Auch hier tritt Spinnen, wie sein komischer Held, kräftig über. Dass die pronominalen Bezüge oft nicht stimmen, wird man als Ausdruck einer Schwäche werten dürfen, die auch andere Gegenwartsautoren (und Lektoren) mittlerweile befallen hat. Hier erstaunt, wie viel schon auf engstem Raum nicht passt: "Er hält die Luft an und spannt die Muskeln, sie lacht, dann beißt sie ihn einmal in die Seite und nimmt ihn in den Mund. Seine Erektion ist wieder prompt und makellos." Wenn "sie" zunächst "ihn" in die Seite beißt, dann wird der Mann, also Farwick, gemeint sein und nicht etwas anderes, auf das sich das zweite "ihn" bezieht; es sei denn, die Krankenschwester kann einen ganzen Patienten in den Mund nehmen (vom adjektivischen Gebrauch des "prompt" zu schweigen). Und da, wo auf eigene Faust sentenzhaft Sinn gestiftet werden soll, geht die Sache ebenfalls schief: "Wer selbst noch ein Sohn ist, kann eigentlich nicht Vater werden." Das liest man und denkt: Stimmt das denn auch?
Keine Seite, ja, kaum ein Absatz ist ohne Stellen, die man nicht zumindest ankringeln muss: falsche oder fehlende Konjunktive ("tun wir, als ob nichts war"), fehlende Reflexivpronomina ("Er entscheidet, vollkommen ruhig zu bleiben"), Unsicherheiten bei festgefügten Wendungen, überhaupt jede Menge Schief- und Gestelztheiten sowie Ungenauigkeiten ("seitdem" statt "seit", "Objekt ihrer Vorsorge", "flammneu") und und und. Dabei ist Spinnen in Sprachkritik so verliebt wie jeder Schriftsteller, der auch nicht recht weiß, was er eigentlich erzählen will: "Aber der Satz kümmert sich einen Dreck um die Tatsache. Er kommt wie ein verwirrter Cousin zur Familienfeier. Stürmt ohne anzuklopfen herein und wirft ein paar Fotos und Papiere auf den Tisch, mit einer Geste, die sagt: Hier! Da habt ihr's jetzt schwarz auf weiß."
Ja, da haben wir's. Aber wer soll das eigentlich lesen? Spinnen ist promovierter Germanist und muss, wenn das Lektorat dergleichen schon durchwinkt (oder verschlimmbessert?), doch selber auf so etwas achten. Leider gibt es "Derrick" nicht mehr, sonst hätten Verlag und Autor diese einmaligen und überdies - eine Unart auch in anderen Verlagen - oft noch nicht einmal durch Anführungsstriche gekennzeichneten Dialoge dem ZDF andrehen können; aber die "Tatort"-Redaktion wird dafür sicherlich Verwendung haben. Einen spannenden Fernsehkrimi gibt die Sache vielleicht noch her; nur keinen Roman, jedenfalls nicht in dieser Form.
- Burkhard Spinnen: "Mehrkampf". Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2007. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kein gutes Haar lässt der Rezensent Edo Reents am neuen Roman von Burkhard Spinnen. Kleinigkeiten sind es zunächst, die ihn skeptisch stimmen - etwa die Verwechslung der Begriffe "Sportart" und "Disziplin" früh im Buch. Von einem Zehnkämpfer namens Roland Farwick erzählt Spinnen, dass der aber nur ums Haar im Jahr 1984 BobBeamons legendären Weitsprungweltrekord verfehlt haben soll - schon das hält Reents für wenig plausibel. Und so geht das dann auch zwanzig Jahre später weiter, als der Zehnkämpferheld angeschossen wird und Spinnen uns mit seinem Figurenarsenal bekannt macht, das der Rezensent als"Holzschnittfigurenkabinett" karikiert. Aber damit hat Reents noch lange nicht genug gemäkelt, denn mit Beispiel um Beispiel sucht er zu belegen, dass Burkhard Spinnen und sein Lektor mit der deutschen Sprache auf Kriegsfuß stehen - da komme es beinahe Seite für Seite zu kaum verzeihlichen Grammatik-Verfehlungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es sind die sparsam eingesetzten Gedankenspiele über Mittelmaß und Wahn, die Spinnens Roman zu einem intellektuellen Vergnügen machen.« Harry Nutt, Frankfurter Rundschau »Burkhard Spinnen ist ein furioser Roman über die Angst des mittelalten Mannes gelungen.« Denis Scheck, Deutschlandradio »Auf den ersten Blick ein spannender Krimi. Tatsächlich aber ein grandioser Roman über das Scheitern und unseren Umgang damit.« Wolfgang Niess, literaturblatt »Spinnen erzählt vom Kampf unter Männern. Beide versuchen den Traum ihrer Jugend festzuhalten, doch müssen sie erkennen: Sie haben ihn längst verloren.« Focus »Im Mittelpunkt steht nicht die alte 'Whodunnit'-Frage (...), sondern vielmehr die Geschichte zweier Mittvierzigern (...) - auf ebenso nüchterne wie kunstvolle Weise erzählt.« Marion Lühe, Rheinischer Merkur »Eine Geschichte, die Spinnen nach allen Regeln der Krimikunst entfaltet (...). Eine Gattung, deren Beherrschung Burkhard Spinnen nunmehr auch bewiesen hat.« Thomas Schaefer, Badische Zeitung »Es ist ein Vergnügen das Buch zu lesen. Spinnen hat einen wachen Blick für die Krisen jener Generation, der man eigentlich abspricht, Krisen haben zu dürfen (...).« Frankfurter Neue Presse »Spinnen gelingt das packende Porträt einer atomisierten Gesellschaft, in der Männer 'im besten Alter' nicht wissen, wohin mit sich selbst - geschweige denn mit anderen.« Nürnberger Nachrichten