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'Sterben die Deutschen aus?' fragte der Spiegel im Jahre 2000. Bevölkerungspolitische Themen waren aber auch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik schon Gegenstand großer Aufmerksamkeit. Die demografischen Veränderungen im Zuge der Modernisierung und ihre Folgen für die Nation bildeten das Zentrum des bürgerlichen Bevölkerungsdiskurses. Seinen Schwerpunkten Bevölkerungs-, Siedlungs-, Gesundheits- und Rassenpolitik widmet sich das Buch von Matthias Weipert. In den Debatten über deutsche Zukunft spielte die Bevölkerungsproblematik eine zentrale Rolle. Warum gingen die Geburten zurück? Wie…mehr

Produktbeschreibung
'Sterben die Deutschen aus?' fragte der Spiegel im Jahre 2000. Bevölkerungspolitische Themen waren aber auch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik schon Gegenstand großer Aufmerksamkeit. Die demografischen Veränderungen im Zuge der Modernisierung und ihre Folgen für die Nation bildeten das Zentrum des bürgerlichen Bevölkerungsdiskurses. Seinen Schwerpunkten Bevölkerungs-, Siedlungs-, Gesundheits- und Rassenpolitik widmet sich das Buch von Matthias Weipert. In den Debatten über deutsche Zukunft spielte die Bevölkerungsproblematik eine zentrale Rolle. Warum gingen die Geburten zurück? Wie würde sich der Rückgang auf Deutschlands Stellung in der Welt auswirken? Sollten die Menschen auf dem Land oder in der Stadt leben? Sollten sie ihren Unterhalt in der Fabrik oder auf dem Bauernhof erwerben? Wie war es um ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit bestellt? Wie um ihren 'rassenhygienischen Wert'? Die Antworten suchten die Zeitgenossen, wie der Autor zeigt, in bevölkerungspolitischen Maßnahmen, mit denen sie die 'aus der Bahn geratene' Modernisierung aufs rechte Gleis zurücksetzen und die Position der deutschen Nation wieder stärken zu können glaubten.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2007

Vor lauter Kraft marschieren wollen
Das Reden über Bevölkerung und Nation in Wilhelminischer Zeit und während der Weimarer Republik

Vor nicht allzu langer Zeit konnte nur derjenige das Gütesiegel eines akademischen Historikers für sich beanspruchen, der sich durch gewaltige Berge von Akten hindurchgearbeitet und möglichst viele ungedruckte Quellen aufgestöbert hatte. Mit der Hinwendung zur Kulturgeschichte hat sich die Materialbasis der Geschichtswissenschaft verschoben. Wer sich für "handlungsorientierende Sinnkonfigurationen" (Thomas Luckmann) interessiert, für den gewinnen zum Zwecke der Mitteilung verfasste Texte aller Art gleichwertigen Quellencharakter. Damit einher geht die quellenmäßige Veredelung nicht zuletzt publizistischer Texte. Eine kulturhistorisch inspirierte Durchleuchtung der darin steckenden Sinngehalte kann wichtige Aufschlüsse darüber vermitteln, wie gedankliche Ordnungen konstruiert wurden, die von erheblicher politischer Relevanz waren. Dazu zählt ohne Zweifel die Konstituierung der "Bevölkerung" als ein Gegenstand des öffentlichen Redens, dessen Genese in Deutschland um 1900 anzusiedeln ist und dessen Karriere in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik gipfelte.

Matthias Weipert verschweigt auch nicht die Probleme seines diskursanalytischen Ansatzes. Er hütet sich vor der Sackgasse einer strukturalistischen Kulturtheorie, die historische Wirklichkeit mit der einer Eigenlogik gehorchenden Welt der Texte gleichsetzt, deswegen jede Bodenhaftung an den sozialen und politischen Umständen, unter denen öffentliches Reden stattfindet, verliert und sich in luftige Höhen abstrakter Spekulation verliert. Weipert weist den Texten eine produktive Eigenleistung bei der Strukturierung der Wirklichkeit zu, will sie aber an ihre konkreten Entstehungsbedingungen rückbinden: "Diskurse haben einen Ort, eine Zeit sowie spezifische Produzenten und Rezipienten." Damit entwickelt er ein ambitioniertes Programm, dem er aber nur teilweise gerecht wird.

Dies liegt gewiss nicht allein daran, dass das von ihm gewählte Quellencorpus überschaubar ist. Er beschränkt sich auf die Auswertung von Texten aus vier Kulturzeitschriften, in denen der Gegenstand "Bevölkerung" thematisiert wird, und zieht daneben noch Einträge in elf Konversationslexika heran. In den von ihm ausgewählten Rundschauzeitschriften meldete sich eine intellektuelle Elite zu Wort, deren politisches Spektrum von der sogenannten "konservativen Revolution" über den politischen Katholizismus bis hin zum Linksliberalismus reichte. Dezidiert sozialistische oder gar kommunistische Stimmen sind allerdings kaum zu vernehmen. Auf diese Weise erhält der Verfasser eine Sammlung von 357, zumeist zwei- bis zehnseitigen Zeitschriftenbeiträgen, die in den späten achtziger Jahren des Kaiserreiches einsetzen, ab 1914 an Zahl zunehmen und bis 1933 reichen. Über die Produzenten - zumindest die besonders häufig vorkommenden Autoren dieser Aufsätze - erfährt der Leser allerdings kaum Näheres. Unklar bleibt auch, inwieweit die ausgewählten Texte eine halbwegs repräsentative Gesamtschau vermitteln.

Den Hauptteil der Untersuchung bildet die Systematisierung des Bevölkerungsdiskurses. Der Verfasser destilliert aus den Texten vier Argumentationsmuster heraus, die einen starken Bezug zu "Bevölkerung" besaßen: einmal ein quantitativer bevölkerungspolitischer Bezug (der seit 1912 registrierte Rückgang der Geburtenziffer in Deutschland), dann eine siedlungspolitische Querverbindung (Stärkung der "Volkskraft" durch Reagrarisierung), weiterhin eine gesundheitspolitische Konnotation (nur ein "gesunder Einzelkörper" schaffe einen "leistungsfähigen Volkskörper") und schließlich eine rassenpolitische Ausrichtung (Hebung der "Volkskraft" durch rassenhygienische Auslese). Den einigermaßen mit der Materie vertrauten Leser erwarten hierbei kaum Überraschungen und originelle Einsichten. Auch deswegen ist es erforderlich, dass der Verfasser nicht bei der Präsentation der Diskurse stehenbleibt, sondern sich der sich geradezu aufdrängenden Frage stellt, wie politikmächtig denn die von ihm herauspräparierten Argumentationsmuster waren.

Die Ergebnisse dieser lobenswerten Wirkungsgeschichte der Diskurse fallen jedoch einigermaßen ernüchternd aus. In den meisten Argumentationsfeldern klafften das öffentliche Reden und das politische Handeln weit auseinander. Zwar erkannten alle politischen Kräfte den Geburtenrückgang als Problem, doch daraus erwuchs keine parteiübergreifende pronatalistische Politik. Gewiss erfreuten sich agrarromantische Vorstellungen einer nicht unerheblichen Resonanz, doch die Erfolge der Siedlungspolitik fielen angesichts der Erwartungen eher bescheiden aus. Wenn der Verfasser dabei die nationalsozialistische Agrarpolitik mit einbezogen hätte, wäre überdies die Diskrepanz zwischen öffentlichem Beschwören einer Rückkehr zur Scholle und den bis 1939 ernüchternden praktischen Ergebnissen "innerer Kolonisation" noch viel deutlicher geworden. Im Falle des rassenhygienischen Diskurses wartet der Verfasser allerdings mit einem Ergebnis auf, welches den hier und da verbreiteten Eindruck von einer schon vor 1933 datierenden Diskurshegemonie rassenhygienischer Vorstellungen korrigiert. Weiperts Textanalyse ergibt weiterhin den Befund, dass auch in der Gesundheits- und Sozialpolitik eugenische Positionen bis 1933 nicht dominant waren.

Auf den letzten 30 Seiten seiner Darstellung fragt Weipert danach, welche Erkenntnisse aus der Debatte über die Bevölkerung für die Nationalismus- und Bürgertumsforschung erwachsen. Wenig überzeugend ist hier allerdings sein Ansatz, die Karriere des Bevölkerungsbegriffs zu verbinden mit einer vermeintlichen Krise bürgerlicher Existenz seit 1900. Seine Befunde lassen sich umgekehrt viel plausibler als Versuch des Bürgertums deuten, mit Hilfe des Bevölkerungsdiskurses naturwissenschaftlich induzierte Erkenntnisse so zurechtzuschneiden, dass sie an die auf kulturelle Parameter ausgerichtete Weltdeutung des Bildungsbürgertums anschlussfähig blieben. Viel spricht also dafür, in dem Sprechen über "Bevölkerung" auch den Betrag einer bürgerlichen Selbstbehauptungsstrategie in einem immer mehr von den Natur- und Technikwissenschaften dominierten Kampf um Weltdeutung zu erblicken, der - worauf von Seiten der Literaturwissenschaft jüngst verstärkt hingewiesen wird - letztlich in die Konstruktion von Weltanschauung mündete.

Aber auch in Hinblick auf die Konstruktion von Nation verdient das Reden über "Bevölkerung" Beachtung - und Weipert gebührt das Verdienst, systematisch die Beziehungen zwischen "Bevölkerung" und "Nation" ausgeleuchtet zu haben. Nation war das Deutungsangebot mit der weitaus stärksten vergemeinschaftenden Potenz. Als Willens- und Bekenntnisgemeinschaft bedurfte die Nation nicht unbedingt der Zulieferdienste einer gezielten Bevölkerungspolitik. Doch wenn immer stärker die Vorstellung von nationaler Machtentfaltung in die Nationsvorstellung einsickerte, wie es seit dem Wilhelminischen Kaiserreich geschah, dann erhielt die Bevölkerung als "Fortpflanzungs-, Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft" einen eigenen Stellenwert als nationaler Machtfaktor. Diese Feststellung mag für den bundesdeutschen Sonderweg einer Entkoppelung von Bevölkerungspolitik und Nation weniger relevant sein als für die nicht wenigen Schauplätze, in denen eine gezielte Bevölkerungspolitik auch heute dazu dienen soll, die eigene Nation machtpolitisch aufzuwerten.

WOLFRAM PYTA.

Matthias Weipert: Mehrung der Volkskraft. Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933. Schöningh Verlag, Paderborn 2006. 267 S., 36,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sehr verdienstvoll findet Rezensent Wolfram Pyta diese Arbeit des Historikers Matthias Weipert, der darin der Frage nachgeht, wie sich der Begriff der Bevölkerung in Deutschland zwischen 1890 bis 1933 konstituierte. Wie Pyta darstellt, will der Autor dabei nicht neue Quelle auftun, sondern entwickelt seine Überlegungen anhand einschlägiger Veröffentlichungen, die das politische Spektrum weithin abdecken. Diskursfelder sind dabei die Bevölkerungspolitik, Siedlungspolitik, Gesundheitspolitik und aufkommende "rassenhygienische" Vorstellungen.  Als Erkenntnis zog der Rezensent dabei mehrerlei: Zum einen klaffte "öffentliches Reden und politisches Handeln weit auseinander"; weiter kann Weipert in seinem Buch überzeugend darlegen, dass rassenhygienische Vorstellung vor 1933 in Deutschland nicht dominant waren, und schließlich erhellt der Autor, wie Pyta lobt, wie sich der Begriff der Bevölkerung als "Fortpflanzungs- Witschafts- und verteidigungsgemeinschaft" gegenüber der Nation als "Willens- und Bekenntnisgemeinschaft" durchsetzte.

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