Rio de Janeiro - Berlin. Für Musikliebhaber und Liebhaber verrückter Lebensgeschichten. Der Brasilianer Chico Buarque, heute weltberühmter Samba-Sänger, steht am Anfang seiner Musikerkarriere, als er von seinem Halbbruder in Berlin erfährt. Dort lebte der Vater in den späten Zwanzigern und verschwieg, dass er fern von Rio einen Sohn hat. Also macht sich Chico selbst auf die Suche und findet die bezaubernd, verrückte Geschichte von Sergio Günther. Auch Sergio war Sänger, und zwar einer der bekanntesten der DDR. Mit brasilianischem Blick zeichnet Chico Buarque ein überraschendes und sehr persönliches Bild des ehemals geteilten Deutschlands.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Es ist ein schwindelerregender Reigen aus Fakt und Fiktion, was der Brasilianer Chico Buarque in seinem Roman "Mein deutscher Bruder" da treibt, verrät Martina Läubli. Wie der Autor Chico Buarque ist sein Erzähler Ciccio Sänger und Schriftsteller, und wie sein Erzähler ist Buarque in der Bibliothek seines Vaters auf einen Brief gestoßen, der ihm die Existenz eines Halbbruders in Deutschland enthüllte, erklärt die Rezensentin. Während Ciccio sich in Brasilien mit der Militärdiktatur herumschlagen muss - sein brasilianischer Bruder wird von der Polizei gesucht -, versucht er herauszufinden, was es mit dem verschollenen Halbbruder auf sich hat und malt sich die unterschiedlichsten Szenarien aus, fasst Läubli beeindruckt zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2016Der wegadoptierte Bruder
Chico Buarques neuer Roman führt von Brasilien in den Prenzlauer Berg
Ende der zwanziger Jahre reist ein brasilianischer Journalist nach Berlin, verliebt sich dort in ein hübsches Fräulein, zeugt zusammen mit diesem Fräulein einen Sohn und kehrt Deutschland mit einer Mischung aus politischer Vorahnung und Heimweh den Rücken. Sein Sohn wird in Abwesenheit des Vaters geboren. Die Mutter, eine gewisse Anne Ernst, schreibt einen Brief, informiert ihren Liebhaber über den Namen des Kindes: Sergio Ernst heißt der Sohn einer ledigen Mutter vermutlich jüdischer Herkunft, Sérgio Buarque de Hollander heißt der Vater dieses deutschen Sohnes.
Sérgio Buarque de Hollander spielt im Kulturleben Brasiliens als Verfasser von "Die Wurzeln Brasiliens", einem der wichtigsten Geschichtswerke der Nation, eine große Rolle. Sein zweiter Sohn, Chico Buarque, ist das sanfte Wunderkind des hochdekorierten Historikers. Als einer der jüngeren Interpreten des Bossa Nova hat er weltweit eine riesige Fangemeinde und steht bis heute mit irisierender Präsenz, blauäugig und kraushaarig auf der Bühne. Und auch als Autor mehrerer Romane hat Chico Buarque die Kritiker sofort für sich eingenommen. Zuletzt erschien sein schmaler Roman "Vergossene Milch" in Deutschland, und darin zeigte sich das Können dieses Autors. Die "Plasticitade", ein Ausdruck, den sein Vater für den typisch brasilianischen Ethnienmix geprägt hat, wurde von Chico Buarque in dieser amnestischen Erzählung eines hundertjährigen Abkömmlings der portugiesischen Upperclass ausbuchstabiert. Die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Familie Assumpção war so virtuos arrangiert, dass man geneigt war, die brasilianischen "Buddenbrooks" in diesem Werk zu sehen.
Nun gibt es ein neues Buch von Chico Buarque, und es handelt von dessen Halbbruder Sergio Ernst, der vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Adoption freigegeben wurde und in Obhut der Familie Günther zu einem Bürger der DDR heranwuchs. Wie Chico Buarque, der im Buch Ciccio heißt, bei einem Berlin-Besuch im Jahr 2013 herausfand, war auch sein Halbbruder Sergio Günther ein bekannter Sänger und arbeitete als Entertainer im Fernsehen der DDR. Ohne obsessive Züge anzunehmen, was die Sache unglaubwürdig und kitschig gemacht hätte, handelt "Mein deutscher Bruder" davon, wie Ciccio zufällig über eine Korrespondenz seines Vaters mit den NS-Behörden über eine mögliche Adoption von Sergio junior stolpert. Über diesen Fund entspinnt sich eine zwischen realen Ereignissen und Einbildungen mäandernde Phantasie über den unbekannten Verwandten. Dabei sind Teile der Geschichte wahr und andere hinzuerfunden, so dass eine Identifikation zwischen Erzähler und Autor nie ganz aufgeht. Dennoch schreibt Ciccio, schreibt Buarque: "Ich kann zum Beispiel einen Roman schreiben über die Geschichte der Anne Ernst, deren Foto mit meinem Bruder auf dem Schoß ich in der Hemdentasche trage und das anzusehen ich jeden Tag mehrmals das Bedürfnis habe."
Sergio Günther ist gewissermaßen das Missing Link zwischen einer europäischen Herkunftsgeschichte - die Hollanders stammen von Niederländern ab - und dem Trauma einer südamerikanischen Diktatur, wie sie auch Brasilien einige Jahre im Griff hatte. Im Buch hat Ciccio einen älteren Bruder, der reihenweise die Mädchen verführt und eine Art Antipode zu ihm ist. Er wird verlorengehen in den Wirren der Repression - ein Verlust, den die italienischstämmige Mutter des Romans nie verwinden wird. Als sich nach dem Tod ihres bibliophilen Mannes die Antiquare bei der Witwe einschmeicheln, gewährt sie dem einen oder anderen Einblick in ihre Schatzkammer voller Originalausgaben. "Einen Sammler so kostbare Werke sehen zu lassen, ihren mit Bienenwachs polierten Ledereinband, ist fast das Gleiche, als putzte man Engel für einen Sittenstrolch heraus."
Es wird viel gelesen in diesem Roman. Die Werke Ernst Jüngers lassen dem Vater die schwere Brille von der Nase rutschen. Der Sohn liest Fernando Pessoa, die Geliebte Rimbaud. Und doch ist dies kein Eingeweihtenroman, geradezu beiläufig wird die Suche nach Sergio Günther mit Lesefrüchten des brasilianischen Bruders und seiner Entourage garniert. Als die Suche nach Günther schließlich im Prenzlauer Berg des Jahres 2013 endet und man dort einiges über das Vorleben dieses Ost-Berliner Bezirks erfährt - zum Beispiel über die Existenz einer Zigarettenfabrik der Marke "Problem", erbaut von einem Sohn Sigmund Freuds -, hat man nicht das Gefühl, Zeuge eines Rührstücks über Adoptionen im "Dritten Reich" geworden zu sein. Dem wunderbar leichtfüßigen Erzähler Chico Buarque ist ein sensibles Geschichtsbild gelungen, irgendwo zwischen Dichtung und Dokumentation.
KATHARINA TEUTSCH.
Chico Buarque: "Mein deutscher Bruder". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin Schweder-Schreiner. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 255 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chico Buarques neuer Roman führt von Brasilien in den Prenzlauer Berg
Ende der zwanziger Jahre reist ein brasilianischer Journalist nach Berlin, verliebt sich dort in ein hübsches Fräulein, zeugt zusammen mit diesem Fräulein einen Sohn und kehrt Deutschland mit einer Mischung aus politischer Vorahnung und Heimweh den Rücken. Sein Sohn wird in Abwesenheit des Vaters geboren. Die Mutter, eine gewisse Anne Ernst, schreibt einen Brief, informiert ihren Liebhaber über den Namen des Kindes: Sergio Ernst heißt der Sohn einer ledigen Mutter vermutlich jüdischer Herkunft, Sérgio Buarque de Hollander heißt der Vater dieses deutschen Sohnes.
Sérgio Buarque de Hollander spielt im Kulturleben Brasiliens als Verfasser von "Die Wurzeln Brasiliens", einem der wichtigsten Geschichtswerke der Nation, eine große Rolle. Sein zweiter Sohn, Chico Buarque, ist das sanfte Wunderkind des hochdekorierten Historikers. Als einer der jüngeren Interpreten des Bossa Nova hat er weltweit eine riesige Fangemeinde und steht bis heute mit irisierender Präsenz, blauäugig und kraushaarig auf der Bühne. Und auch als Autor mehrerer Romane hat Chico Buarque die Kritiker sofort für sich eingenommen. Zuletzt erschien sein schmaler Roman "Vergossene Milch" in Deutschland, und darin zeigte sich das Können dieses Autors. Die "Plasticitade", ein Ausdruck, den sein Vater für den typisch brasilianischen Ethnienmix geprägt hat, wurde von Chico Buarque in dieser amnestischen Erzählung eines hundertjährigen Abkömmlings der portugiesischen Upperclass ausbuchstabiert. Die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Familie Assumpção war so virtuos arrangiert, dass man geneigt war, die brasilianischen "Buddenbrooks" in diesem Werk zu sehen.
Nun gibt es ein neues Buch von Chico Buarque, und es handelt von dessen Halbbruder Sergio Ernst, der vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Adoption freigegeben wurde und in Obhut der Familie Günther zu einem Bürger der DDR heranwuchs. Wie Chico Buarque, der im Buch Ciccio heißt, bei einem Berlin-Besuch im Jahr 2013 herausfand, war auch sein Halbbruder Sergio Günther ein bekannter Sänger und arbeitete als Entertainer im Fernsehen der DDR. Ohne obsessive Züge anzunehmen, was die Sache unglaubwürdig und kitschig gemacht hätte, handelt "Mein deutscher Bruder" davon, wie Ciccio zufällig über eine Korrespondenz seines Vaters mit den NS-Behörden über eine mögliche Adoption von Sergio junior stolpert. Über diesen Fund entspinnt sich eine zwischen realen Ereignissen und Einbildungen mäandernde Phantasie über den unbekannten Verwandten. Dabei sind Teile der Geschichte wahr und andere hinzuerfunden, so dass eine Identifikation zwischen Erzähler und Autor nie ganz aufgeht. Dennoch schreibt Ciccio, schreibt Buarque: "Ich kann zum Beispiel einen Roman schreiben über die Geschichte der Anne Ernst, deren Foto mit meinem Bruder auf dem Schoß ich in der Hemdentasche trage und das anzusehen ich jeden Tag mehrmals das Bedürfnis habe."
Sergio Günther ist gewissermaßen das Missing Link zwischen einer europäischen Herkunftsgeschichte - die Hollanders stammen von Niederländern ab - und dem Trauma einer südamerikanischen Diktatur, wie sie auch Brasilien einige Jahre im Griff hatte. Im Buch hat Ciccio einen älteren Bruder, der reihenweise die Mädchen verführt und eine Art Antipode zu ihm ist. Er wird verlorengehen in den Wirren der Repression - ein Verlust, den die italienischstämmige Mutter des Romans nie verwinden wird. Als sich nach dem Tod ihres bibliophilen Mannes die Antiquare bei der Witwe einschmeicheln, gewährt sie dem einen oder anderen Einblick in ihre Schatzkammer voller Originalausgaben. "Einen Sammler so kostbare Werke sehen zu lassen, ihren mit Bienenwachs polierten Ledereinband, ist fast das Gleiche, als putzte man Engel für einen Sittenstrolch heraus."
Es wird viel gelesen in diesem Roman. Die Werke Ernst Jüngers lassen dem Vater die schwere Brille von der Nase rutschen. Der Sohn liest Fernando Pessoa, die Geliebte Rimbaud. Und doch ist dies kein Eingeweihtenroman, geradezu beiläufig wird die Suche nach Sergio Günther mit Lesefrüchten des brasilianischen Bruders und seiner Entourage garniert. Als die Suche nach Günther schließlich im Prenzlauer Berg des Jahres 2013 endet und man dort einiges über das Vorleben dieses Ost-Berliner Bezirks erfährt - zum Beispiel über die Existenz einer Zigarettenfabrik der Marke "Problem", erbaut von einem Sohn Sigmund Freuds -, hat man nicht das Gefühl, Zeuge eines Rührstücks über Adoptionen im "Dritten Reich" geworden zu sein. Dem wunderbar leichtfüßigen Erzähler Chico Buarque ist ein sensibles Geschichtsbild gelungen, irgendwo zwischen Dichtung und Dokumentation.
KATHARINA TEUTSCH.
Chico Buarque: "Mein deutscher Bruder". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin Schweder-Schreiner. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 255 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem wunderbar leichtfüßigen Erzähler Chico Buarque ist ein sensibles Geschichtsbild gelungen, irgendwo zwischen Dichtung und Dokumentation. Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20160622