Seine Lesereisen haben Wladimir Kaminer in die entlegensten Winkel des Landes geführt. In "Dschungelbuch Deutschland" berichtet er mit seinem unnachahmlichen Humor von seinen abenteuerlichsten und unglaublichsten Erlebnissen - eine irrwitzige Reise durch ein Deutschland, wie es kaum einer kennt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2003Das Glück wohnt in Osnabrück
Wladimir Kaminers amüsanter Beitrag zur Völkerverständigung
"Wie gefällt es Ihnen hier bei uns in Deutschland?" Kann man es dem Autor Wladimir Kaminer verübeln, daß er dieses Land abenteuerlich und absurd findet, wenn er, was oft passiert, bei seinen Lesereisen immer wieder mit diesem Satz begrüßt wird. Der gebürtige Moskauer Kaminer ist längst Deutscher, lebt und schreibt seit 1990 in Berlin und ist mit "Russendisko", "Militärmusik" und "Die Reise nach Trulala" einer der erfolgreichsten Gegenwartsautoren heimischer Zunge geworden. Daß der Klappentext von "Mein deutsches Dschungelbuch" den Star allen Ernstes als "Jungautor" vorstellt, ist wohl als ungelenker Versuch eines Kompliments zu werten.
Sein verdienter Erfolg hat Kaminer Hunderte von Einladungen in Buchhandlungen quer durch die Republik eingebracht (am Ende erzählt er auch von Dutzenden von Einladungen in weltweite Goethe-Institute, aber den globalen Dschungel verwahrt er sich für ein künftiges Buch). Hier spricht der Dichter nur von seinem neuen Heimatland, denn "Russe", wie Kaminer gerne betitelt wird, ist er nach dem Verlust der sowjetischen Staatsangehörigkeit ohnehin nie geworden; wahrscheinlich strebt er das nicht einmal an. Mit großem Amüsement erzählt er deshalb von einer anderen Begrüßungsformel, die ihn regelmäßig aus Lokalblättern und von Veranstaltungsplakaten entgegenlacht: "Der Russe kommt." Soviel zum deutschen Eingeborenenhumor.
Seine literarischen Annäherungen an die deutsche Provinz basieren auf dem Staunen des Ahnungslosen. Kaminer, das gibt er selbst zu, hatte lange Berlin, namentlich den Prenzlauer Berg, für das Zentrum der Republik gehalten und wundert sich nun, daß nicht nur viele Millionen Menschen in Northeim, Regenstauf, Dormagen, Oberhausen et cetera leben, sondern fast noch mehr darüber, daß sie dort überaus glücklich sind und ihre Wohnorte für das Zentrum der Welt halten. Nicht zufällig hat eine soziologische Großumfrage nach Erscheinen dieses Buchs ergeben, daß die glücklichsten Deutschen in Osnabrück leben. Hätte Kaminer das gewußt, hätte er im Dschungelbuch gewiß den deutschen Schlager "Ich fand das Glück mit dir im Zug nach Osnabrück" zitiert. So begnügt er sich mit der korrekten Einschätzung der blühenden Bahnhofsgastronomie und der Aussage eines Lokalreporters: "Was die Kultur betrifft, ist hier wirklich viel los."
Man sieht, die Geschichten kombinieren Überraschendes und Merkwürdiges zu einem durchweg zutreffenden Patchwork der deutschen Lande, wobei der staunende Kaminer mit der Zeit zugeben muß, daß in der Nation der Konfessionsspaltung, der unterschiedlichsten Weinanbaugebiete, der Mauer, der Mittelgebirge, der Nord- und Ostseeinseln so etwas wie eine homogene Kultur wohl gar nicht existiert. Eher sei die Frage gestattet, wo denn in Deutschland keine Provinz, wo denn eigentlich die Zentrale sei. Im fast schon britischen Hamburg? Im abspalterischen München? Gar im bankrotten Berlin?
Kaminer, dem wohl längst schwant, daß Deutschland mit Ausnahme von Fontane nur Weltliteratur in Klein- und Randstädten (Weimar, Wunsiedel, Braunschweig, Lübeck, Danzig) hervorgebracht hat, umreißt achtungsvoll ein neues Panorama: Da wird es plötzlich wichtig, daß im Hotel zu Oldenburg - er läßt offen, ob Oldenburg in Oldenburg oder Oldenburg in Holstein - Himalaja-Wochen veranstaltet werden, weshalb es in der Küche nicht nach Grünkohl und Pinkel, sondern nach exotischen Medikamenten riecht. In Rothenburg stehen einsame Japaner an Straßenecken und träumen ganzjährig von Tannenbäumen, in Kiel ist die Förde (hier fälschlich "Fjorde") vor lauter Nebel nicht zu sehen, in Northeim beeindrucken ihn ein Tiroler Viermann-Trio und ein Foto von Roberto Blanco, der - ein reiselustiger Kaminer des deutschen Stimmungsliedes - ihn ohnehin durch die Republik und ihre Hotels zu verfolgen scheint.
Gewiß, durch die Gleichförmigkeit der Erlebnisse - Anreise, fremde Stadt, Buchhändlergespräch, Abreise - droht dann und wann Langeweile, aber Kaminer kann das als routinierter Erzähler immer wieder durch urkomische Dialoge oder überraschende Beobachtungen abbiegen, etwa wenn er in Wiesloch ein Irrenhaus vermutet, in dem Dutzende von Wehrmachtssoldaten verwahrt werden, die noch nicht kapituliert haben. Oder wenn er mutmaßt, bei Bayer Leverkusen würden die Arbeiter nach russischem Vorbild in Naturalien, also in Schmerztabletten, ausbezahlt, was manches in der Stadt erklären würde. Halle, auch das eine bedenkenswerte Idee, soll nach seiner Meinung in "Spielhalle" umbenannt werden, weil die Stadt auch so aussieht.
Baden-Baden wähnt er ganz korrekt von greisen Millionären bevölkert, die, Brunnenwasser trinkend, Unsterblichkeit suchen. In Chemnitz wird ihm das historische Glück zuteil, einem Gartenzwergfestival beizuwohnen, was ihn zu berechtigten Vergleichen mit dem Bart von Karl Marx inspiriert, der ja auch, zumindest im alten Karl-Marx-Stadt, wie ein Gartenzwerg der Historie wirkt. Daß das zerbombte Hildesheim tatsächlich Weltkulturerbe geworden ist, kann den Profi Kaminer genausowenig erschüttern wie ein komplett danebengegangenes Fernsehgespräch mit dem Popdichter Wondrascheck und einem trutzigen Literaturkritiker in "Gestapo-Hochform".
Indem er sich fraternisierend den allpräsenten russischen Straßenmusikanten zuwendet ("Wir Russen kommen überall durch") und bewundernswert offen immer aufs neue das Gespräch mit Medien und Leserschaft sucht, baut Kaminer - diesmal kein Roberto Blanco, sondern eher ein Iwan Rebroff der Literatur - immer noch bestehende Russenängste ab und trägt nachhaltig zur Völkerfreundschaft bei. Seine Stories, allzeit durchtränkt von tiefem Wissen um die Relativität allen Seins, leben vom ethnographischem Blick auf Gesamtdeutschland und lassen sich auch sehr gut laut vor größerem Publikum vorlesen - eine Eigenschaft, die der gleichnamigen, von Kaminer selbst vorgetragenen Hörbuch-Fassung zugute kommt (Random House Audio). Und vor allem: Kaminer schreibt so komisch, wie es ihm derzeit wohl kein anderer deutscher Großschriftsteller (nicht einmal Grass oder Walser) nachzutun vermöchte. Das Buch hat nur einen klitzekleinen Nachteil: Der Autor war noch nicht in Soest.
DIRK SCHÜMER
Wladimir Kaminer: "Mein deutsches Dschungelbuch". Manhattan im Goldmann Verlag, München 2003. 255 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wladimir Kaminers amüsanter Beitrag zur Völkerverständigung
"Wie gefällt es Ihnen hier bei uns in Deutschland?" Kann man es dem Autor Wladimir Kaminer verübeln, daß er dieses Land abenteuerlich und absurd findet, wenn er, was oft passiert, bei seinen Lesereisen immer wieder mit diesem Satz begrüßt wird. Der gebürtige Moskauer Kaminer ist längst Deutscher, lebt und schreibt seit 1990 in Berlin und ist mit "Russendisko", "Militärmusik" und "Die Reise nach Trulala" einer der erfolgreichsten Gegenwartsautoren heimischer Zunge geworden. Daß der Klappentext von "Mein deutsches Dschungelbuch" den Star allen Ernstes als "Jungautor" vorstellt, ist wohl als ungelenker Versuch eines Kompliments zu werten.
Sein verdienter Erfolg hat Kaminer Hunderte von Einladungen in Buchhandlungen quer durch die Republik eingebracht (am Ende erzählt er auch von Dutzenden von Einladungen in weltweite Goethe-Institute, aber den globalen Dschungel verwahrt er sich für ein künftiges Buch). Hier spricht der Dichter nur von seinem neuen Heimatland, denn "Russe", wie Kaminer gerne betitelt wird, ist er nach dem Verlust der sowjetischen Staatsangehörigkeit ohnehin nie geworden; wahrscheinlich strebt er das nicht einmal an. Mit großem Amüsement erzählt er deshalb von einer anderen Begrüßungsformel, die ihn regelmäßig aus Lokalblättern und von Veranstaltungsplakaten entgegenlacht: "Der Russe kommt." Soviel zum deutschen Eingeborenenhumor.
Seine literarischen Annäherungen an die deutsche Provinz basieren auf dem Staunen des Ahnungslosen. Kaminer, das gibt er selbst zu, hatte lange Berlin, namentlich den Prenzlauer Berg, für das Zentrum der Republik gehalten und wundert sich nun, daß nicht nur viele Millionen Menschen in Northeim, Regenstauf, Dormagen, Oberhausen et cetera leben, sondern fast noch mehr darüber, daß sie dort überaus glücklich sind und ihre Wohnorte für das Zentrum der Welt halten. Nicht zufällig hat eine soziologische Großumfrage nach Erscheinen dieses Buchs ergeben, daß die glücklichsten Deutschen in Osnabrück leben. Hätte Kaminer das gewußt, hätte er im Dschungelbuch gewiß den deutschen Schlager "Ich fand das Glück mit dir im Zug nach Osnabrück" zitiert. So begnügt er sich mit der korrekten Einschätzung der blühenden Bahnhofsgastronomie und der Aussage eines Lokalreporters: "Was die Kultur betrifft, ist hier wirklich viel los."
Man sieht, die Geschichten kombinieren Überraschendes und Merkwürdiges zu einem durchweg zutreffenden Patchwork der deutschen Lande, wobei der staunende Kaminer mit der Zeit zugeben muß, daß in der Nation der Konfessionsspaltung, der unterschiedlichsten Weinanbaugebiete, der Mauer, der Mittelgebirge, der Nord- und Ostseeinseln so etwas wie eine homogene Kultur wohl gar nicht existiert. Eher sei die Frage gestattet, wo denn in Deutschland keine Provinz, wo denn eigentlich die Zentrale sei. Im fast schon britischen Hamburg? Im abspalterischen München? Gar im bankrotten Berlin?
Kaminer, dem wohl längst schwant, daß Deutschland mit Ausnahme von Fontane nur Weltliteratur in Klein- und Randstädten (Weimar, Wunsiedel, Braunschweig, Lübeck, Danzig) hervorgebracht hat, umreißt achtungsvoll ein neues Panorama: Da wird es plötzlich wichtig, daß im Hotel zu Oldenburg - er läßt offen, ob Oldenburg in Oldenburg oder Oldenburg in Holstein - Himalaja-Wochen veranstaltet werden, weshalb es in der Küche nicht nach Grünkohl und Pinkel, sondern nach exotischen Medikamenten riecht. In Rothenburg stehen einsame Japaner an Straßenecken und träumen ganzjährig von Tannenbäumen, in Kiel ist die Förde (hier fälschlich "Fjorde") vor lauter Nebel nicht zu sehen, in Northeim beeindrucken ihn ein Tiroler Viermann-Trio und ein Foto von Roberto Blanco, der - ein reiselustiger Kaminer des deutschen Stimmungsliedes - ihn ohnehin durch die Republik und ihre Hotels zu verfolgen scheint.
Gewiß, durch die Gleichförmigkeit der Erlebnisse - Anreise, fremde Stadt, Buchhändlergespräch, Abreise - droht dann und wann Langeweile, aber Kaminer kann das als routinierter Erzähler immer wieder durch urkomische Dialoge oder überraschende Beobachtungen abbiegen, etwa wenn er in Wiesloch ein Irrenhaus vermutet, in dem Dutzende von Wehrmachtssoldaten verwahrt werden, die noch nicht kapituliert haben. Oder wenn er mutmaßt, bei Bayer Leverkusen würden die Arbeiter nach russischem Vorbild in Naturalien, also in Schmerztabletten, ausbezahlt, was manches in der Stadt erklären würde. Halle, auch das eine bedenkenswerte Idee, soll nach seiner Meinung in "Spielhalle" umbenannt werden, weil die Stadt auch so aussieht.
Baden-Baden wähnt er ganz korrekt von greisen Millionären bevölkert, die, Brunnenwasser trinkend, Unsterblichkeit suchen. In Chemnitz wird ihm das historische Glück zuteil, einem Gartenzwergfestival beizuwohnen, was ihn zu berechtigten Vergleichen mit dem Bart von Karl Marx inspiriert, der ja auch, zumindest im alten Karl-Marx-Stadt, wie ein Gartenzwerg der Historie wirkt. Daß das zerbombte Hildesheim tatsächlich Weltkulturerbe geworden ist, kann den Profi Kaminer genausowenig erschüttern wie ein komplett danebengegangenes Fernsehgespräch mit dem Popdichter Wondrascheck und einem trutzigen Literaturkritiker in "Gestapo-Hochform".
Indem er sich fraternisierend den allpräsenten russischen Straßenmusikanten zuwendet ("Wir Russen kommen überall durch") und bewundernswert offen immer aufs neue das Gespräch mit Medien und Leserschaft sucht, baut Kaminer - diesmal kein Roberto Blanco, sondern eher ein Iwan Rebroff der Literatur - immer noch bestehende Russenängste ab und trägt nachhaltig zur Völkerfreundschaft bei. Seine Stories, allzeit durchtränkt von tiefem Wissen um die Relativität allen Seins, leben vom ethnographischem Blick auf Gesamtdeutschland und lassen sich auch sehr gut laut vor größerem Publikum vorlesen - eine Eigenschaft, die der gleichnamigen, von Kaminer selbst vorgetragenen Hörbuch-Fassung zugute kommt (Random House Audio). Und vor allem: Kaminer schreibt so komisch, wie es ihm derzeit wohl kein anderer deutscher Großschriftsteller (nicht einmal Grass oder Walser) nachzutun vermöchte. Das Buch hat nur einen klitzekleinen Nachteil: Der Autor war noch nicht in Soest.
DIRK SCHÜMER
Wladimir Kaminer: "Mein deutsches Dschungelbuch". Manhattan im Goldmann Verlag, München 2003. 255 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wladimir Kaminer, soviel steht fest, ist ein großer Gewinn für die deutsche Literatur." Süddeutsche Zeitung
„Das ist Humor vom Feinsten."