In der Titelgeschichte "Mein erster Mörder" wird ein bis dahin unbescholtener Mann wegen Totschlags zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Was haben sein Vater und dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg mit dem Sohn und seiner Tat zu tun?
In insgesamt drei Geschichten zeichnet Vladimir Vertlib das Leben von Menschen, die zwischen politischer Willkür und schicksalhaften Gegebenheiten ihre Würde oder auch nur ihr nacktes Leben zu bewahren versuchen, nach: ganz ruhig und unaufgeregt, stets auf Augenhöhe mit den Menschen, ohne sich über sie zu erheben - und gerade deshalb umso spannender.
In insgesamt drei Geschichten zeichnet Vladimir Vertlib das Leben von Menschen, die zwischen politischer Willkür und schicksalhaften Gegebenheiten ihre Würde oder auch nur ihr nacktes Leben zu bewahren versuchen, nach: ganz ruhig und unaufgeregt, stets auf Augenhöhe mit den Menschen, ohne sich über sie zu erheben - und gerade deshalb umso spannender.
Geschichtsexhumierung: Die Geschichten von Vladimir Vertlib
Siebenundzwanzig Huscher habe der Vater, meint die Großtante. Die muß es wissen. Sie hat den Vater großgezogen, nachdem dessen Mutter an Tuberkulose gestorben war und der Erzeuger sich schon vorher aus dem Staub gemacht hatte. Was kann aus so einem schon werden. Die Huscher habe der Vater schon immer gehabt, aber nach Kriegsende sei es schlimmer geworden. "Huscher" sind zu gut deutsch Marotten. Das Bier mit der linken Hand einschenken oder die Handtücher pedantisch aufhängen, als seien sie von einem Flugzeug auf die Leinen am "Balkon", der eigentlich ein ausgebombtes Zimmer ist, geworfen worden.
Wien 1957. Der Krieg ist vorbei, noch stehen die Ruinen, in denen Ratten nisten und Menschen wohnen. Risse in den Wänden und den Seelen. Noch redet man vom "G'scherten aus Braunau" und daß es das oder jenes "früher nicht gegeben hätte". Das Fremde beginnt im nächsten Bezirk, der vierzehnjährige Leopold Ableitinger ist überall ein Fremder. In seiner proletarischen Familie, wo der Vater die Mutter schlägt, im Gymnasium, wo ihn die Lehrer perfide daran erinnern, daß einer wie er hier nicht hergehört, und wo ihn die Mitschüler nur in Ruhe lassen, weil er, der Klassenprimus, ihnen die Aufgaben macht.
In der Nachbarwohnung haust eine vulgär-aggressive ungarndeutsche Flüchtlingsfamilie, "Altösterreicher", wie es geschichtskaschierend heißt. "Ein dreckiges Volk", meint der Vater. Er müsse es ja wissen, stichelt die Großtante, worauf der Vater ihr den Mund zuhält. Leo beginnt die weißen Flecken in Vaters Biographie zu recherchieren. Über den Krieg, wo er sie vermutet, redet man wenig im Wien der fünfziger Jahre. In der Schulbibliothek, in der Stadtbücherei, überall lösen seine Fragen nach der "Verfolgung", nach den "Juden" betroffenes Schweigen aus. Im Tagebuch der bettlägerigen Großtante, mit der er sein Schlafzimmer teilt, wird er fündig: Im Frühjahr fünfundvierzig war der Vater als Volksstürmer dabei, als ungarische Juden auf einem Todesmarsch malträtiert, in eine Scheune getrieben und verbrannt wurden. Ist er ein Mörder? Leo schwankt zwischen abgrundtiefer Verachtung und mitleidiger Liebe zu dem Mann, von dem alle abschätzig reden, allen voran die Großtante. Als er den Vater zur Rede stellt, meint dieser unter Tränen, nur ein Mitläufer gewesen zu sein. Geschossen, gemordet haben die anderen. Die Großtante aber läßt keine Ruhe, bis der Neffe sie zum Schweigen bringt.
Ein Vierteljahrhundert später wird der zweiundvierzigjährige Familienvater Ableitinger auf einem Fahrradausflug das Mundstück seiner Pfeife ins Gehirn eines Mannes bohren, der ihn eher banal beleidigt hatte. Seine Geschichte erzählt er einem Salzburger Schriftsteller, nach Verbüßung der Haftstrafe.
Es ist eine klassische Vertlib-Geschichte, erzählt mit therapeutischer Gewalt, Wunden aufreißend, die nie verheilt sind. Nur daß hier die Rollen anders besetzt sind. Standen in den Romanen, zuletzt "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" (2001) und "Letzter Wunsch" (2003), Schicksale europäischer Juden im zwanzigsten Jahrhundert im Mittelpunkt, die Metamorphosen ihrer von Antisemitismus, Diktatur und Exil zerrissenen, bedrohten, zuweilen bizarr-grotesken Existenz, so ist in den nun erschienenen Erzählungen der Blick stärker auf die anderen, die Täter und ihre Kinder, gerichtet.
Das zentrale Motiv des 1966 in St. Petersburg geborenen Valdimir Vertlib, der mit seinen Eltern nach einer Odyssee über Israel, die Vereinigten Staaten, Österreich, die Niederlande und Italien heute in Salzburg lebt, ist die Verdrängung und Vergewaltigung der kollektiven und individuellen Geschichte, in der Diktatur und in ihren psychosozialen Wurmfortsätzen in der Demokratie, wo Grausamkeit und Haß durch Jovialität maskiert werden. Die Opfer exilieren sich zwangsläufig in eine Zwischenwelt, Parias, auf der Suche nach dem Leben, das immer anderswo ist. Hintergründig sind diese Erzählungen, mit Anklängen an Joseph Roth, Sàndor Màrai und die bitterbösen "Niederungen" der Herta Müller. Bei Vertlib schimmert bei aller Niedertracht am Ende irgendwie das Versöhnliche durch.
Beim Schreiben, so hat Vertlib einmal gesagt, greift er intuitiv auf den Rhythmus seiner russischen Muttersprache zurück. Das Vokabular und die Syntax, mit wienerischem Kolorit, sind so makellos komponiert und den Erzählenden so passend auf die Zunge gelegt, wie es nicht selten gerade jene translingualen, transkulturellen Autoren vermögen, die sich das Deutsche als Fremdsprache erlesen und erhört haben.
Die Erzählung "Ein schöner Bastard" beschreibt das tragikomische Schicksal einer deutsch-tschechischen Familie in Böhmen aus der Perspektive der Tochter, Renate. Der Vater, ein mit einer Tschechin verheirateter deutscher, getaufter Halbjude, muß sich in der Nazizeit verstecken, die Tochter wird vom deutschen Gymnasium relegiert. Nach Kriegsende kommt es genau andersherum, da galt die Familie als deutsch, die Tschechin als Nestbeschmutzerin. Haus und Geschäft gehen verloren, die Ehe zerbricht unter der Last fortgesetzter Demütigungen in zwei Diktaturen. Als der Vater, um Frau und Tochter zu schützen, schließlich nach Österreich ausreist, gerät die Mutter als vermeintliche Spionin ins Visier der kommunistischen Staatsmacht, wird schließlich verhaftet und ins Lager gesteckt. Gerettet hat sie eine kommunistische Funktionärin, die alsbald selbst den antisemitischen Schauprozessen Ende der vierziger Jahre zum Opfer fällt. Die Tochter wird Jahre später dem Vater nach Österreich folgen, nur um dort nach 1968 als Tschechin ohne Visa von der Ausweisung bedroht zu sein. Da hilft ein alter Nazi, und es kommt zu einem fast guten Ende.
Unter der Käseglocke aus nationaler Restauration und staatlich diktiertem Gedächtnisverlust, wie sie in ganz Ost- und Mitteleuropa nach dem Krieg grassierten, entdeckt Vertlib in seinen auf authentischen Schicksalen beruhenden Erzählungen Phobien, Ängste, Vorurteile, Dummheit, Antisemitismus und Perversion. Und trotzigen Widerstand. Seine Lebensgeschichten gleichen aus anonymen Massengräbern exhumierten Leichen, deren gerichtsmedizinische Untersuchung einfache Zuschreibungen in Frage stellt, eine Pathogenese der Intoleranz und Diktatur. Max Frischs "Andorra" kommt einem in den Sinn, und auch Vertlib läßt keinen Zweifel daran: Andorra ist überall.
SABINE BERKING
Vladimir Vertlib: "Mein erster Mörder". Lebensgeschichten. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2006. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Zunächst, gibt der Rezensent Adam Olschewski zu Protokoll, hätten ihn Zweifel befallen ob der Methode, derer Vladimir Vertlib sich in seinen drei, in der Zeit des Dritten Reiches angesiedelten biografischen Erzählungen bedient. Denn wie Vertlib selbst im Nachwort offenbare, habe er die Lebensläufe seiner Protagonisten in "Reportermanier" aufgenommen, und sie dann "verfremdet und angereichert (...) um der Dramaturgie willen". Doch Vertlibs im klaren und leicht lakonischen "Stil des Chronisten" gehaltenen Erzählstücke lassen jede Art von Zweifel vergessen, beteuert der Rezensent, und man möchte die "Geschichtslektion", die sie bereithalten, "ohne grössere Umstände gegen etliche etablierte Nachschlagewerke eintauschen". Vertlib bewege sich in seinen Schilderungen fernab von simplen Kausalitäten und beschränke sich vor allem nicht auf "die dramatische Schilderung der Nazizeit", sondern erforsche "nuancenreich" deren "Nachleben". Sein Talent, so das begeisterte Fazit des Rezensenten, liegt darin, "auf kleinem Raum Grosses zwingend zur Darstellung zu bringen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Vertlibs Erzählungen lesen sich wie konzentrierte Lehrstücke über die Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit des Amoralismus...Eine schmucklose und doch leidenschaftliche Prosa, die trotz aller Traumata keinen bitteren Sog entfaltet, sondern schnell und auch nicht ohne Humor von einer historischen Katastrophe zur nächsten eilt."
Christine Hamel, BR 2, 5.3.2005
"Vladimir Vertlib hat die Kraft, die Ironie des Lebens zu erkennen und sich ihr zu stellen, ist ein schmuckloser und sehr direkter Erzähler... ein großer Realist, er verbindet Geschichte, Politik und Alltagsleben."
Verena Auffermann, Süddeutsche Zeitung, 02.11.06
Christine Hamel, BR 2, 5.3.2005
"Vladimir Vertlib hat die Kraft, die Ironie des Lebens zu erkennen und sich ihr zu stellen, ist ein schmuckloser und sehr direkter Erzähler... ein großer Realist, er verbindet Geschichte, Politik und Alltagsleben."
Verena Auffermann, Süddeutsche Zeitung, 02.11.06