ZUGÄNGLICHE, VIELFACH PREISGEKRÖNTE LYRIK IN FORM EINES REISETAGEBUCHSDie Welt in Gedichten erfassen, vermeintlich im Vorübergehen, und doch an DAS WESEN DER DINGE rühren - MICHAEL KRÜGER hat diese Kunst zur Meisterschaft gebracht in seiner Jahrzehnte währenden Arbeit als Lyriker. In "Mein Europa" zeigt er sich auf intime Weise als ENTHUSIAST DES STILLEN BEOBACHTENS, als EINGEWEIHTER IM GESPRÄCH DER TIERE, als Skeptiker der menschlichen Natur, als Kenner vielfältiger Traditionen, Kulturen und Sprachen - und nicht zuletzt als GLÜHENDER ANHÄNGER DES EUROPÄISCHEN GEDANKENS. GEDICHTE VON ORTEN IN GANZ EUROPA, VON DEN ZENTREN BIS IN DIE PERIPHERIEÜber den Zeitraum von eineinhalb Jahren hat Michael Krüger AN ALL DEN ORTEN, DIE ER BEREISTE, GEDICHTE VERFASST. Es sind die Orte der Peripherie, an denen er mehr über sich und das Leben vernimmt als im Trubel der großen Städte. Entstanden ist ein SEHR PERSÖNLICHER ATLAS EUROPAS, chronologisch unterteilt in die VIER JAHRESZEITEN, in dem man MIT DEM BLICK DES AUTORS IN DIE WELT EBENSO WIE IN SEINE GANZ PRIVATE UMGEBUNG schaut. ___________________________________________________Erscheint IN BIBLIOPHILER AUSSTATTUNG und ist AUCH ALS NUMMERIERTE UND SIGNIERTE VORZUGSAUSGABE ERHÄLTLICH.___________________________________________________Pressestimmen:"Michael Krüger ist mir als Leserin ein immer anregender Autor verblüffender Romane und berührender Gedichte gewesen und ist das noch. Er ist gescheit, witzig, melancholisch, weltläufig." FOCUS, Elke Heidenreich (aus den Pressestimmen zu "Vorübergehende")"Ein besonders feiner, ironischer, sowie melancholischer Betrachter menschlichen Treibens."Bayrischer Rundfunk, Bernhard Setzwein (aus den Pressestimmen zu "Das Irrenhaus")
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2020Lernen, niemand zu sein
Michael Krügers Gedichtband „Mein Europa“
Ein Blick auf eine Straße, Spatzen in der Sonne, ein alter Mann auf einer Parkbank liest in einem Buch, die Gewitterwolke über dem See: alltägliche Beobachtungen, die sich dem entwickelnden Erzählen wundersam entziehen, während sie im Gedicht suggestiv wirken können. Michael Krüger hat einmal moniert, dass die Menschen zwar „dicke langweilige Romane“ jederzeit lesen, aber vor einem Gedicht zurückschrecken, ja, es sogar als „Zumutung“ empfinden. Vielleicht liegt es an der Verknappung des Gesehenen und des Assoziierten, die bei manchen Scheu vor Gedichten hervorruft. Vielleicht, weil die Poeme geradezu provokant fordern, die in ihnen eingefangenen Gefühlsmomente und Erkenntnisgewinne zu entfalten, also selbst einzusteigen in jene Gedankengänge, die sich in jenen lyrischen Komprimierungen verbergen.
Michael Krügers „Mein Europa“ macht es einem da nahezu leicht, weil er in diesem Band „Gedichte aus dem Tagebuch“ versammelt, die nicht mehr sein wollen. Das Unterwegssein prägt alle Texte ganz bewusst schon durch die Ortsangaben, an denen sich das poetische Notat gleichsam kristallisiert, aus dem spontanen Entdecken heraus. Städte, Dörfer oder auch Gemäldegalerien können es sein, in denen der melancholische Flaneur fündig wird und sich lyrisch über den Fund vergewissert.
Das kann extrem knapp geschehen wie in „Marseille“, weil jedes beschreibende Wort die gewollte Schärfe mildert: „In der rue Paradis, / der zweitlängsten Straße der Stadt, / wurde gefoltert, / eine Blutspur hat sich erhalten.“ In dieser Straße befand sich während der deutschen Besatzungszeit das Gestapo-Quartier. Oder es wird eine nahezu romantische Wanderung „den halben Tag … flussabwärts“: „Kaum hat man die Stadt hinter sich gelassen, / kriegt man den reinen Blick, wie Kinder ihn haben.“ Und der entdeckt „Erlen und Eschen, / die selbst bei Windstille ihren Chor singen, / als würde die Welt, wie sie hier bekannt ist, / nicht benutzt werden. Sie ist einfach da.“
Ob die Ainmillerstraße in München oder der Romeral de San Marcos in Segovia, ob ein „Vogelbeerbaum“ in Berg am Starnberger See oder die Königliche Akademie in Madrid, Krügers schlendernde Aufmerksamkeit bleibt so wach wie zeichnerisch. Seine immer durch Gesehenes ausgelösten lyrischen Anmerkungen und Assoziationen wirken in der Anordnung zu einem persönlichen Europa leichthin und sprunghaft: etwa von Madrid unvermittelt nach Vomp in Tirol, von Gdańsk in den Englischen Garten ans Wehr, von den Isarauen nach Lancaster, von Marburg nach Nantes, von Bar am Fuße des Ätna nach Lübeck, von Wangen im Allgäu nach Odessa.
An diesem geradezu unbeschwerten, sehr persönlichen Hin und Her über den Kontinent, wobei München, der Starnberger See, Berlin, Tiroler Ortschaften ebenso wie Schweizer Örtlichkeiten deutlich häufiger vorkommen, ändert auch das großräumige Ordnungsmuster der Jahreszeiten nichts, es beginnt mit einem Herbst, dann dem Winter, worauf dann noch einmal ein ganzer Jahreszeitentenzyklus folgt.
Michael Krügers „Europa“ entsteht aus seiner nimmermüden Bereitschaft, in „fremden Städten am liebsten in aller Frühe einen Spaziergang“ zu „machen, ganz egal, ob es sich um Hannover oder Madrid handelt …“ So beginnt das Nachwort, das selbst wieder bei allem Erläuterungswillen in großen Teilen einem langen Gedicht gleicht. Als Gewährsmann für dieses „interesse- und ziellos“ durch die Straßen erwachender Städte Schlendern verweist er auf den „wunderbaren Reisenden“ Claudio Magris, der es so formuliert: „Auf Reisen, fremd unter Fremden, lernt man gründlich, Niemand zu sein, man begreift konkret, dass man Niemand ist.“
Krüger selbst spricht von einem „etwas pompösen Titel“. Aber der Widerspruch zwischen „Mein Europa“ und den im Wandern rasch und unprätentiös notierten „Impressionen, Erfahrungen, Erlebnissen und Gedanken“ ist insofern fruchtbar, als Krüger tatsächlich ganz unabhängig von Nationalgrenzen den Kontinent durchstreift als einen, der an jedem Fluss oder Platz, in jedem Garten und jeder Landschaft, seien sie noch so unterschiedlich, gleichsam zu ihm spricht. Daher lässt sich das Buch auch ohne Umschweife einfach an jeder Stelle öffnen und lesen, ob vor oder zurück spielt dabei keine Rolle: Immer bewegen wir uns frei in diesen lyrischen Notizen, die im besten Sinne an Lieder eines fahrenden Gesellen erinnern können, allerdings ohne dramatische Zuspitzungen à la Gustav Mahler.
HARALD EGGEBRECHT
Michael Krüger: Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch. Haymon Verlag, Innsbruck/Wien 2019. 248 Seiten, 24 Euro.
Der Kontinent spricht in
jedem Garten und jeder
Landschaft gleichsam zu ihm
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Krügers Gedichtband „Mein Europa“
Ein Blick auf eine Straße, Spatzen in der Sonne, ein alter Mann auf einer Parkbank liest in einem Buch, die Gewitterwolke über dem See: alltägliche Beobachtungen, die sich dem entwickelnden Erzählen wundersam entziehen, während sie im Gedicht suggestiv wirken können. Michael Krüger hat einmal moniert, dass die Menschen zwar „dicke langweilige Romane“ jederzeit lesen, aber vor einem Gedicht zurückschrecken, ja, es sogar als „Zumutung“ empfinden. Vielleicht liegt es an der Verknappung des Gesehenen und des Assoziierten, die bei manchen Scheu vor Gedichten hervorruft. Vielleicht, weil die Poeme geradezu provokant fordern, die in ihnen eingefangenen Gefühlsmomente und Erkenntnisgewinne zu entfalten, also selbst einzusteigen in jene Gedankengänge, die sich in jenen lyrischen Komprimierungen verbergen.
Michael Krügers „Mein Europa“ macht es einem da nahezu leicht, weil er in diesem Band „Gedichte aus dem Tagebuch“ versammelt, die nicht mehr sein wollen. Das Unterwegssein prägt alle Texte ganz bewusst schon durch die Ortsangaben, an denen sich das poetische Notat gleichsam kristallisiert, aus dem spontanen Entdecken heraus. Städte, Dörfer oder auch Gemäldegalerien können es sein, in denen der melancholische Flaneur fündig wird und sich lyrisch über den Fund vergewissert.
Das kann extrem knapp geschehen wie in „Marseille“, weil jedes beschreibende Wort die gewollte Schärfe mildert: „In der rue Paradis, / der zweitlängsten Straße der Stadt, / wurde gefoltert, / eine Blutspur hat sich erhalten.“ In dieser Straße befand sich während der deutschen Besatzungszeit das Gestapo-Quartier. Oder es wird eine nahezu romantische Wanderung „den halben Tag … flussabwärts“: „Kaum hat man die Stadt hinter sich gelassen, / kriegt man den reinen Blick, wie Kinder ihn haben.“ Und der entdeckt „Erlen und Eschen, / die selbst bei Windstille ihren Chor singen, / als würde die Welt, wie sie hier bekannt ist, / nicht benutzt werden. Sie ist einfach da.“
Ob die Ainmillerstraße in München oder der Romeral de San Marcos in Segovia, ob ein „Vogelbeerbaum“ in Berg am Starnberger See oder die Königliche Akademie in Madrid, Krügers schlendernde Aufmerksamkeit bleibt so wach wie zeichnerisch. Seine immer durch Gesehenes ausgelösten lyrischen Anmerkungen und Assoziationen wirken in der Anordnung zu einem persönlichen Europa leichthin und sprunghaft: etwa von Madrid unvermittelt nach Vomp in Tirol, von Gdańsk in den Englischen Garten ans Wehr, von den Isarauen nach Lancaster, von Marburg nach Nantes, von Bar am Fuße des Ätna nach Lübeck, von Wangen im Allgäu nach Odessa.
An diesem geradezu unbeschwerten, sehr persönlichen Hin und Her über den Kontinent, wobei München, der Starnberger See, Berlin, Tiroler Ortschaften ebenso wie Schweizer Örtlichkeiten deutlich häufiger vorkommen, ändert auch das großräumige Ordnungsmuster der Jahreszeiten nichts, es beginnt mit einem Herbst, dann dem Winter, worauf dann noch einmal ein ganzer Jahreszeitentenzyklus folgt.
Michael Krügers „Europa“ entsteht aus seiner nimmermüden Bereitschaft, in „fremden Städten am liebsten in aller Frühe einen Spaziergang“ zu „machen, ganz egal, ob es sich um Hannover oder Madrid handelt …“ So beginnt das Nachwort, das selbst wieder bei allem Erläuterungswillen in großen Teilen einem langen Gedicht gleicht. Als Gewährsmann für dieses „interesse- und ziellos“ durch die Straßen erwachender Städte Schlendern verweist er auf den „wunderbaren Reisenden“ Claudio Magris, der es so formuliert: „Auf Reisen, fremd unter Fremden, lernt man gründlich, Niemand zu sein, man begreift konkret, dass man Niemand ist.“
Krüger selbst spricht von einem „etwas pompösen Titel“. Aber der Widerspruch zwischen „Mein Europa“ und den im Wandern rasch und unprätentiös notierten „Impressionen, Erfahrungen, Erlebnissen und Gedanken“ ist insofern fruchtbar, als Krüger tatsächlich ganz unabhängig von Nationalgrenzen den Kontinent durchstreift als einen, der an jedem Fluss oder Platz, in jedem Garten und jeder Landschaft, seien sie noch so unterschiedlich, gleichsam zu ihm spricht. Daher lässt sich das Buch auch ohne Umschweife einfach an jeder Stelle öffnen und lesen, ob vor oder zurück spielt dabei keine Rolle: Immer bewegen wir uns frei in diesen lyrischen Notizen, die im besten Sinne an Lieder eines fahrenden Gesellen erinnern können, allerdings ohne dramatische Zuspitzungen à la Gustav Mahler.
HARALD EGGEBRECHT
Michael Krüger: Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch. Haymon Verlag, Innsbruck/Wien 2019. 248 Seiten, 24 Euro.
Der Kontinent spricht in
jedem Garten und jeder
Landschaft gleichsam zu ihm
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2020Du willst es schwärzer
Gedichte, die einer schrieb, nachdem er flanierend der Zivilisation entsagte und Zuflucht in Natur und Romantik suchte: Michael Krügers "Mein Europa"
Michael Krügers Gedichtbuch "Mein Europa" ist ein Buch des Abschieds, und das in gleich zweifacher Hinsicht: des Abschieds von einem Europa, das, wie es im Nachwort heißt, kollektiv "den Verstand verloren" habe und sich als große, freiheitsstiftende und -bewahrende Idee gegenwärtig selbst zersetze; und des Abschieds von einem Leben, das nunmehr "ganz" am "Schluss" stehe, wie gleich zu Beginn mit einem Zitat aus Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" verkündet wird.
Es sind weit mehr als zweihundert Gedichte, die von 2017 bis 2019 als Tagebucheinträge entstanden sind. Erhalten hat sich der Entstehungsprozess - zumindest andeutungsweise - in der Gliederung des Bandes nach den Jahreszeiten. Die Titel der Gedichte benennen die Orte, an denen sie verfasst worden sind: große und kleine Städte, Gegenden und Landschaften, die fast über den ganzen Kontinent verstreut sind (nur der Norden, jenseits von Lübeck, bleibt ausgespart). Das Zentrum des lyrisch kartierten Europas ist München und seine Umgebung: der Englische Garten mit seinem Wehr, die Moore zwischen Starnberger See und Gebirge. Hier ist Michael Krüger zu Hause.
Es sind flanierende Gedichte, die in diesem Band zusammengetragen sind. Sie fangen den Moment eines kurzen Innehaltens ein, jenen Moment, in dem ein Spaziergänger einem Gedanken nachgeht, sich einer Beobachtung widmet, um seinen Gang daraufhin gleich fortzusetzen: "Tagesmüd binden die Kellner / die Blumenkübel fest / vor der Cigale, / und die Loire, tagesmüd auch, / hält die Stadt zusammen", so etwa beginnt das Gedicht "Nantes". Neben solchen alltäglichen Stadtszenen, die zwangsläufig an Baudelaire denken lassen, richtet sich der Blick häufig auf Altes, Sakrales und immer wieder auf Erscheinungen jenseits der Alltagsnorm: "Heute sah ich wieder den Schneeflockenzähler / mit seinem blinden Hund. / Er arbeitet an einem Glossar der Kristalle". Für metrische Feinheiten, für Strophenformen oder Reime gar bleibt in dieser Poetik keine Zeit. Frei wie die Bewegung des Flanierenden im Raum sind die Verse der meist recht kurzen Gedichte.
Die Leichtigkeit in der Form kontrastiert mit der Schwermut, die für den Gedichtband in weiten Teilen bestimmend ist und sich manchmal in vehemente Zeitkritik verwandelt. "Man muss Mut und Ausdauer haben / um heute zu Fuß eine Stadt zu verlassen, / sich durch die Möbelhallen und Autohäuser zu schlagen, / die jede Ansiedelung im Würgegriff halten", klagt das Ich in einem Gedicht. Es kulminiert in dem bleischweren Satz: "Offen gesagt, gebe ich keinen Cent / mehr auf diese Zivilisation". Aber es bleibt nicht bei der Totalabsage, die übrigens einen besonderen Akzent setzt auf Umwelt- und Klimaschäden ("wo die Borke von den schimmligen Birken platzt, / weil sie den Diesel nicht unterbringen / in den alten Gesetzen der Photosynthese"). Das Ich hält sich fest an einem "kleinen Geviert" jenseits der modernen Lebensrealität, "wo der blanke Mond / in all seiner Unschuld zu sehen ist / ein winziger Fleck" nur, dem aber nichts Geringeres zugetraut wird, als "uns" zu "retten". Gar nicht so leise klingt in diesen Versen die liedhafte Waldmetaphysik des späten Eichendorff an, und auch in Krügers Nature Writing - in der Zwiesprache mit Bäumen ("Ich bin doch auch nur, weil du bist") und Bergen ("Bruder Berg / nimm all deine Steine zusammen / und leg mir den Kiesel aufs Aug") - finden sich Spuren der Romantik.
Aber was außerhalb der bedrohten Natur vermag dem Ich noch Halt zu geben? Von den Göttern jedenfalls ist nicht mehr zu hören als ein "schüchternes Krächzen". Und der Glaube? Er ist ebenso "zerfleddert" wie der "Unglaube", das allein sei "gewiss". Ja, nicht einmal in sich selbst setzt das Ich noch Vertrauen: "Ich bin doch auch nur ein alter Idiot", flüstert es im graubündischen Parpan zwei "blinden, stocktauben Hunden" zu. Der Wunsch, nach dem nicht mehr fernen Ableben kein Grab zu erhalten, sondern namenlos als Asche verstreut zu werden (denn "die Birke hat Asche nötig"), erscheint da nur konsequent.
"You Want it Darker": Der Titel, den Leonard Cohen dem letzten Album seines Lebens gegeben hat, benennt vielleicht am besten die spätzeitliche Stimmung, von der "Mein Europa" gekennzeichnet ist. Und ähnlich wie Cohens Songs sind auch Krügers Gedichte nicht ganz leicht zu ertragen, zumal nicht in diesem langen, zähen Winter (der noch nicht einmal ein richtiger Winter ist). Selbst die Lakonie, die sich ganz selten in ihnen findet, ist getränkt in schwarze Galle: "Jetzt, wo es fast vorbei ist, fängt man an, / sich an das Leben zu gewöhnen."
KAI SINA
Michael Krüger
"Mein Europa". Gedichte aus dem Tagebuch.
Haymon Verlag, Innsbruck 2019. 256 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gedichte, die einer schrieb, nachdem er flanierend der Zivilisation entsagte und Zuflucht in Natur und Romantik suchte: Michael Krügers "Mein Europa"
Michael Krügers Gedichtbuch "Mein Europa" ist ein Buch des Abschieds, und das in gleich zweifacher Hinsicht: des Abschieds von einem Europa, das, wie es im Nachwort heißt, kollektiv "den Verstand verloren" habe und sich als große, freiheitsstiftende und -bewahrende Idee gegenwärtig selbst zersetze; und des Abschieds von einem Leben, das nunmehr "ganz" am "Schluss" stehe, wie gleich zu Beginn mit einem Zitat aus Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" verkündet wird.
Es sind weit mehr als zweihundert Gedichte, die von 2017 bis 2019 als Tagebucheinträge entstanden sind. Erhalten hat sich der Entstehungsprozess - zumindest andeutungsweise - in der Gliederung des Bandes nach den Jahreszeiten. Die Titel der Gedichte benennen die Orte, an denen sie verfasst worden sind: große und kleine Städte, Gegenden und Landschaften, die fast über den ganzen Kontinent verstreut sind (nur der Norden, jenseits von Lübeck, bleibt ausgespart). Das Zentrum des lyrisch kartierten Europas ist München und seine Umgebung: der Englische Garten mit seinem Wehr, die Moore zwischen Starnberger See und Gebirge. Hier ist Michael Krüger zu Hause.
Es sind flanierende Gedichte, die in diesem Band zusammengetragen sind. Sie fangen den Moment eines kurzen Innehaltens ein, jenen Moment, in dem ein Spaziergänger einem Gedanken nachgeht, sich einer Beobachtung widmet, um seinen Gang daraufhin gleich fortzusetzen: "Tagesmüd binden die Kellner / die Blumenkübel fest / vor der Cigale, / und die Loire, tagesmüd auch, / hält die Stadt zusammen", so etwa beginnt das Gedicht "Nantes". Neben solchen alltäglichen Stadtszenen, die zwangsläufig an Baudelaire denken lassen, richtet sich der Blick häufig auf Altes, Sakrales und immer wieder auf Erscheinungen jenseits der Alltagsnorm: "Heute sah ich wieder den Schneeflockenzähler / mit seinem blinden Hund. / Er arbeitet an einem Glossar der Kristalle". Für metrische Feinheiten, für Strophenformen oder Reime gar bleibt in dieser Poetik keine Zeit. Frei wie die Bewegung des Flanierenden im Raum sind die Verse der meist recht kurzen Gedichte.
Die Leichtigkeit in der Form kontrastiert mit der Schwermut, die für den Gedichtband in weiten Teilen bestimmend ist und sich manchmal in vehemente Zeitkritik verwandelt. "Man muss Mut und Ausdauer haben / um heute zu Fuß eine Stadt zu verlassen, / sich durch die Möbelhallen und Autohäuser zu schlagen, / die jede Ansiedelung im Würgegriff halten", klagt das Ich in einem Gedicht. Es kulminiert in dem bleischweren Satz: "Offen gesagt, gebe ich keinen Cent / mehr auf diese Zivilisation". Aber es bleibt nicht bei der Totalabsage, die übrigens einen besonderen Akzent setzt auf Umwelt- und Klimaschäden ("wo die Borke von den schimmligen Birken platzt, / weil sie den Diesel nicht unterbringen / in den alten Gesetzen der Photosynthese"). Das Ich hält sich fest an einem "kleinen Geviert" jenseits der modernen Lebensrealität, "wo der blanke Mond / in all seiner Unschuld zu sehen ist / ein winziger Fleck" nur, dem aber nichts Geringeres zugetraut wird, als "uns" zu "retten". Gar nicht so leise klingt in diesen Versen die liedhafte Waldmetaphysik des späten Eichendorff an, und auch in Krügers Nature Writing - in der Zwiesprache mit Bäumen ("Ich bin doch auch nur, weil du bist") und Bergen ("Bruder Berg / nimm all deine Steine zusammen / und leg mir den Kiesel aufs Aug") - finden sich Spuren der Romantik.
Aber was außerhalb der bedrohten Natur vermag dem Ich noch Halt zu geben? Von den Göttern jedenfalls ist nicht mehr zu hören als ein "schüchternes Krächzen". Und der Glaube? Er ist ebenso "zerfleddert" wie der "Unglaube", das allein sei "gewiss". Ja, nicht einmal in sich selbst setzt das Ich noch Vertrauen: "Ich bin doch auch nur ein alter Idiot", flüstert es im graubündischen Parpan zwei "blinden, stocktauben Hunden" zu. Der Wunsch, nach dem nicht mehr fernen Ableben kein Grab zu erhalten, sondern namenlos als Asche verstreut zu werden (denn "die Birke hat Asche nötig"), erscheint da nur konsequent.
"You Want it Darker": Der Titel, den Leonard Cohen dem letzten Album seines Lebens gegeben hat, benennt vielleicht am besten die spätzeitliche Stimmung, von der "Mein Europa" gekennzeichnet ist. Und ähnlich wie Cohens Songs sind auch Krügers Gedichte nicht ganz leicht zu ertragen, zumal nicht in diesem langen, zähen Winter (der noch nicht einmal ein richtiger Winter ist). Selbst die Lakonie, die sich ganz selten in ihnen findet, ist getränkt in schwarze Galle: "Jetzt, wo es fast vorbei ist, fängt man an, / sich an das Leben zu gewöhnen."
KAI SINA
Michael Krüger
"Mein Europa". Gedichte aus dem Tagebuch.
Haymon Verlag, Innsbruck 2019. 256 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main