Wie klingt es, wenn einer Neunundachtzigjährigen das Herz bricht? Leise und zart, vermutet Lilly Bere. Ihr geliebter Enkel Bill hat sich nach dem Golfkrieg das Lebengenommen, und in ihrer Verzweiflung sieht sie nur einen Ausweg: ihm zu folgen. Zuvor aber, in den Tagen bis zu seiner Beerdigung, hält sie in ihrem großen Haushaltsbuch ihre Erinnerungen fest. Nicht zum ersten Mal ist Lillys Tod beschlossene Sache. Im Irland der Zwanzigerjahre hatte sich ihr Verlobter Tadg auf die falsche Seite geschlagen, Hals über Kopf waren die beiden vor der IRA nach Amerika geflohen. Als Tadg erschossen wird, taucht Lilly in Cleveland unter, wo sie, immer auf der Hut vor den Mördern, einen neuen Anfang wagt. Auf siebzig Jahre blickt Lilly zurück. Sie erinnert sich, wie es sich anfühlt, wenn Männer als bloße Schatten aus dem Krieg zurückkehren, wie entwürdigend es sein kann, im Land der Freiheit die falsche Hautfarbe zu haben, wie süß die erste Liebe schmeckt und wie bitter der Verrat eines Freundes. Lilly Beres Geschichte ist ein poetischer Klagegesang, der die Toten betrauert und das Leben feiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2012Giftige Zeitgeschichte
Mohnblumen und Nachtschattengewächse: Der Ire Sebastian Barry erzählt nur mäßig überzeugend vom jahrzehntelang wirksamen Würgegriff des Krieges.
Es gibt Romane, in welchen neben den Menschen, den Frauen und Männern und Kindern, etwas anderes spricht und wütet und handelt, fast wie eine eigenständige Figur. In den Romanen des Iren Sebastian Barry ist das der Krieg. Ohne direkt Schauplatz zu sein, hat dieser Krieg alle im Griff, auch diejenigen, die nicht daran teilnehmen müssen. Sie lässt Sebastian Barry sprechen, alte Frauen meist, welche erzählend und erinnernd die Scherben ihres Lebens zusammenkehren, während die Männer unter der Last der Eindrücke verstummen.
Mitunter ist dieser Krieg kaum mehr erkennbar, eine diffuse, schreckerstarrte Gegend ohne Geographie, obwohl Orte genannt werden - Irland, Vietnam, Afghanistan. Doch sind die Orte wie von einem Schleier verhangen, weil diese seidigen Frauen nur weitergeben können, was man an sie heranträgt, Bruchstücke eben. In Barrys 2009 auf Deutsch erschienenem Roman "Ein verborgenes Leben" findet ein Arzt die handgeschriebene Schilderung der Leidensgeschichte einer Frau, die früh unter dem Einfluss eines katholischen Priesters, quasi entmündigt, den quälenden Gang durch die Stationen diverser Krankenanstalten antreten muss. Barry deckte hier Missstände auf, welche lange tabuisiert wurden. In seinem neuen Roman "Mein fernes, fremdes Land" erzählt nun eine andere Trümmerfrau, die 89 Jahre alte Lilly Bere, aus dem amerikanischen Exil von ihrem Leben. Ihr Selbstgespräch beginnt an einem traurigen Tag nach dem Selbstmord des bei ihr aufgewachsenen Enkels Bill, auch er Opfer eines Krieges, der ihm die Lebensfreude nahm. Es habe "gebrannt wie der feurige Pfuhl", Erinnerungen, die er nicht loswird. Bill ist das vorerst letzte Glied einer aus Irland stammenden Familie, für die Amerika nicht ganz das Gelobte Land ist, nicht "Canaan's Side", wie der Roman in Anspielung an Gospels im Original heißt, sondern für viele nur ein weiterer, unsicherer Landstrich. Todesnachrichten von gefallenen Verwandten treffen ein. Und auch Lilly Bere folgt der Fluch der Geschichte bis hierhin, in den irischen Teil der Stadt Cleveland, wo sie lebt.
Während sie erzählt, von einer Kette aus Abbruch und Neubeginn, hört man die Angst als Lebensbegleitgeräusch. Sie hat als junge Frau, gerade in Amerika sesshaft geworden, erlebt, wie ihr Verlobter, mit dem sie über Nacht Irland verließ, als Folge seiner Verwicklung in den irischen Befreiungskrieg vor ihren Augen erschossen wurde. Sie verließ den Tatort und die Stadt und begann ein neues Leben unter der Ahnung, dass man auch sie verfolgen und eines Tages womöglich finden würde. Irland ist für sie "wie ein riesiger Friedhof, auf dem mein Vater und meine Schwestern begraben sind". Aus den Brocken dieses Lebens entspinnt sich eine weitverzweigte Familiengeschichte. Der 1955 in Dublin geborene, in Wicklow lebende, katholisch sozialisierte Sebastian Barry lässt seine Erzählerin mit allem, was ihr einst gewiss war, hadern. Lädt man Schuld auf sich? Woher kommt Gnade? Gab es im Leben, von rückwärts betrachtet, einen Moment, an welchem man hätte eingreifen können, und alles wäre ganz anders verlaufen?
Dem Rhythmus von Erinnerung und Reflexion folgt man zwar mit zunehmender Spannung, weil Barry es gut versteht, vieles nur anzudeuten. Die Auflösung erfolgt dann aber oft etwas abrupt, und auch auf sprachlicher Ebene kann man nicht alles mit dem leidenschaftlichen Charakter der Erzählerin entschuldigen. Es gibt zwar schöne Passagen in diesem expressiven Roman, aus mutigen Bildern, die knapp von Gewalt erzählen, von einer "Mohnblume Blut", oder weitsichtig von Liebe und ihrer irritierenden Nähe zum Tod: "Liebe wie Mord erfordern Intimität." Doch oft wirken die Bilder überladen, wenn etwa Kummer "Rost, wie Schleim ums Herz", ist, wenn ein wissbegieriges Kind als "helle wie ein Sonnenaufgang im Juni" beschrieben oder ein beseeltes Kinoerlebnis gar so zusammengefasst wird: "Wären wir zwei Eiscremes gewesen, wir wären auf den Sitzen dahingeschmolzen." Das trübt gelegentlich den Blick auf das eigentlich bewegende Schicksal dieser Erzählerin und ihrer Angehörigen. Es verstellt, was Sebastian Barry über die irritierende Dynamik von Krieg und Konflikten mitteilt: dass der Anlass verschwindet und niemand mehr recht weiß, wogegen oder wofür gekämpft wird. Was bleibt, sind das Wüten, die Ohnmacht und innerer Grimm, der die jeweils nächste Generation kontaminiert: "Das Gift, der Extrakt des tödlichen Nachtschattengewächses in mir war die Zeitgeschichte." Sebastian Barry seziert auch diesmal wieder mit kompositorischem Geschick die unheimliche Ordnung der Dinge, kann aber nicht so überzeugen wie mit seinen anderen Romanen.
ANJA HIRSCH
Sebastian Barry:
"Mein fernes, fremdes Land".
Roman.
Aus dem Englischen von Petra Kindler, Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2012. 314 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mohnblumen und Nachtschattengewächse: Der Ire Sebastian Barry erzählt nur mäßig überzeugend vom jahrzehntelang wirksamen Würgegriff des Krieges.
Es gibt Romane, in welchen neben den Menschen, den Frauen und Männern und Kindern, etwas anderes spricht und wütet und handelt, fast wie eine eigenständige Figur. In den Romanen des Iren Sebastian Barry ist das der Krieg. Ohne direkt Schauplatz zu sein, hat dieser Krieg alle im Griff, auch diejenigen, die nicht daran teilnehmen müssen. Sie lässt Sebastian Barry sprechen, alte Frauen meist, welche erzählend und erinnernd die Scherben ihres Lebens zusammenkehren, während die Männer unter der Last der Eindrücke verstummen.
Mitunter ist dieser Krieg kaum mehr erkennbar, eine diffuse, schreckerstarrte Gegend ohne Geographie, obwohl Orte genannt werden - Irland, Vietnam, Afghanistan. Doch sind die Orte wie von einem Schleier verhangen, weil diese seidigen Frauen nur weitergeben können, was man an sie heranträgt, Bruchstücke eben. In Barrys 2009 auf Deutsch erschienenem Roman "Ein verborgenes Leben" findet ein Arzt die handgeschriebene Schilderung der Leidensgeschichte einer Frau, die früh unter dem Einfluss eines katholischen Priesters, quasi entmündigt, den quälenden Gang durch die Stationen diverser Krankenanstalten antreten muss. Barry deckte hier Missstände auf, welche lange tabuisiert wurden. In seinem neuen Roman "Mein fernes, fremdes Land" erzählt nun eine andere Trümmerfrau, die 89 Jahre alte Lilly Bere, aus dem amerikanischen Exil von ihrem Leben. Ihr Selbstgespräch beginnt an einem traurigen Tag nach dem Selbstmord des bei ihr aufgewachsenen Enkels Bill, auch er Opfer eines Krieges, der ihm die Lebensfreude nahm. Es habe "gebrannt wie der feurige Pfuhl", Erinnerungen, die er nicht loswird. Bill ist das vorerst letzte Glied einer aus Irland stammenden Familie, für die Amerika nicht ganz das Gelobte Land ist, nicht "Canaan's Side", wie der Roman in Anspielung an Gospels im Original heißt, sondern für viele nur ein weiterer, unsicherer Landstrich. Todesnachrichten von gefallenen Verwandten treffen ein. Und auch Lilly Bere folgt der Fluch der Geschichte bis hierhin, in den irischen Teil der Stadt Cleveland, wo sie lebt.
Während sie erzählt, von einer Kette aus Abbruch und Neubeginn, hört man die Angst als Lebensbegleitgeräusch. Sie hat als junge Frau, gerade in Amerika sesshaft geworden, erlebt, wie ihr Verlobter, mit dem sie über Nacht Irland verließ, als Folge seiner Verwicklung in den irischen Befreiungskrieg vor ihren Augen erschossen wurde. Sie verließ den Tatort und die Stadt und begann ein neues Leben unter der Ahnung, dass man auch sie verfolgen und eines Tages womöglich finden würde. Irland ist für sie "wie ein riesiger Friedhof, auf dem mein Vater und meine Schwestern begraben sind". Aus den Brocken dieses Lebens entspinnt sich eine weitverzweigte Familiengeschichte. Der 1955 in Dublin geborene, in Wicklow lebende, katholisch sozialisierte Sebastian Barry lässt seine Erzählerin mit allem, was ihr einst gewiss war, hadern. Lädt man Schuld auf sich? Woher kommt Gnade? Gab es im Leben, von rückwärts betrachtet, einen Moment, an welchem man hätte eingreifen können, und alles wäre ganz anders verlaufen?
Dem Rhythmus von Erinnerung und Reflexion folgt man zwar mit zunehmender Spannung, weil Barry es gut versteht, vieles nur anzudeuten. Die Auflösung erfolgt dann aber oft etwas abrupt, und auch auf sprachlicher Ebene kann man nicht alles mit dem leidenschaftlichen Charakter der Erzählerin entschuldigen. Es gibt zwar schöne Passagen in diesem expressiven Roman, aus mutigen Bildern, die knapp von Gewalt erzählen, von einer "Mohnblume Blut", oder weitsichtig von Liebe und ihrer irritierenden Nähe zum Tod: "Liebe wie Mord erfordern Intimität." Doch oft wirken die Bilder überladen, wenn etwa Kummer "Rost, wie Schleim ums Herz", ist, wenn ein wissbegieriges Kind als "helle wie ein Sonnenaufgang im Juni" beschrieben oder ein beseeltes Kinoerlebnis gar so zusammengefasst wird: "Wären wir zwei Eiscremes gewesen, wir wären auf den Sitzen dahingeschmolzen." Das trübt gelegentlich den Blick auf das eigentlich bewegende Schicksal dieser Erzählerin und ihrer Angehörigen. Es verstellt, was Sebastian Barry über die irritierende Dynamik von Krieg und Konflikten mitteilt: dass der Anlass verschwindet und niemand mehr recht weiß, wogegen oder wofür gekämpft wird. Was bleibt, sind das Wüten, die Ohnmacht und innerer Grimm, der die jeweils nächste Generation kontaminiert: "Das Gift, der Extrakt des tödlichen Nachtschattengewächses in mir war die Zeitgeschichte." Sebastian Barry seziert auch diesmal wieder mit kompositorischem Geschick die unheimliche Ordnung der Dinge, kann aber nicht so überzeugen wie mit seinen anderen Romanen.
ANJA HIRSCH
Sebastian Barry:
"Mein fernes, fremdes Land".
Roman.
Aus dem Englischen von Petra Kindler, Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2012. 314 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Vom kompositorischen Können des Autors ist Anja Hirsch weiterhin überzeugt. Wie Sebastian Barry in seinem neuen Roman den Krieg als handelnde Figur installiert und aus dem erinnernden und reflektierenden Selbstgespräch einer im US-Exil lebenden irischen Trümmerfrau eine ganze vom Krieg geprägte Familiengeschichte vor dem Leser ausbreitet, hat ihr imponiert. Allerdings bleibt der Roman laut Hirsch sprachlich, bildlich hinter seiner kompositorischen Klasse zurück. Schade, meint die Rezensentin, über die unheimliche Ordnung der Dinge und die Dynamik des Krieges hätte der Autor nämlich durchaus etwas zu sagen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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