Produktdetails
- Verlag: Ammann
- Deutsch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 756g
- ISBN-13: 9783250104988
- ISBN-10: 3250104981
- Artikelnr.: 14161656
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Verzückte Augen im See von Strophen
Ralph Dutli, Robert Hass, Lorand Gaspar, Les Murray: Dichtung im Tetrapack / Von Thomas Poiss
Dichter der mittleren Generation dilettieren derzeit gern in Hirnforschung - als ob sich schöpferisches Sprachbewußtsein je anders als sprachlich darstellen, geschweige denn messen ließe. Welche Wortnuance im Kontext aktualisiert wird, ob eine Metapher erhellend oder bloß peinlich ist, darüber entscheidet individuelle Kultur, und sehr oft werden gebildete Geister uneins sein über denselben Sachverhalt. Etwa darüber, wie klug es war, vier völlig unterschiedliche Dichter in knalligem Layout in eine Kassette zu stecken und dieser den Titel von Hans Benders Anthologie zur Lyriktheorie von 1955 zu geben. Die grelle Formel "Mein Gedicht ist mein Messer" paßt auf keinen der vier Dichter, und trotzdem ist ein erfreuliches Wunder anzuzeigen. Denn das unfreiwillige Quartett enthält Solisten, die mehr vom Menschen erfahren lassen, als sich Hirngläubige je träumen lassen.
Das Entscheidende im Menschen ist unwägbar und doch ganz irdisch. Zum Beispiel die Vita von Lorand Gaspar: geboren 1925 in Rumänien als Kind einer ungarisch-armenisch-jüdischen Familie, gequält in deutschen Straflagern, ab 1945 in Frankreich zum Arzt ausgebildet, dann in Israel als Chirurg tätig. Im Sechstagekrieg wurde sein Haus zerstört, und Gaspar wanderte schließlich 1970 nach Tunesien aus, wo er heute noch lebt, am Rand jener Wüste, die dem Band "Erde aller Erden / Sol absolu" den Namen gibt. Naturwissenschaftlich exakte Beschreibungen, zum Teil Exzerpte aus Fachtexten, kontrastieren darin mit subjektiv-lyrischen Passagen.
"Subjektiv" bedeutet aber im Falle Gaspars etwas Besonderes. Seine Wüste ist eine erfahrene, nicht eine imaginierte oder touristisch entschärfte, und die Konfrontation mit den anorganischen Gewalten von Sand, Wind, Dürre, Licht und Nacht relativiert selbst eine extreme Lebensgeschichte. Dadurch, daß Gaspar alle private Biographie ausspart, gleicht er das Menschenleben den extremen Lebensformen der Wüste an: den niemals trinkenden Mäusen und Spinnen, den Wüstenfischen, deren befruchtete Eier Trockenperioden überstehen, den tiefwurzelnden oder gepanzerten Pflanzen.
Diese Welt, in der selbst organischer Dung einen Wert darstellt, ist biblisch rein und hart. Sie wird auch dem medizinischen Blick erhaben durch das, was den Menschen vor kristallinem Staub und genügsamer Kreatur auszeichnet, die Poetik des aufrechten Ganges und des Gesangs: "Deine Schwerkraft hat frei. Der Gesang schmilzt in der Dichte der verschlossenen Welt." Joachim Sartorius hat den Text makellos übersetzt, nur im Beiwerk des Bandes knirscht es. Zugrunde liegt nicht, wie im Impressum angegeben, die Textfassung von 1972, sondern eine stark überarbeitete; das Wort "Wüste" erscheint in "ugaritischer", nicht "ungarischer" Schrift. Aber das sind Krümel am Rand der Erschließung eines Dichters, dessen Gesamtwerk eine Übersetzung verlangt.
Gleiches gilt im denkbar unähnlichen Fall von Robert Hass. Dieser führt das selige Westküsten-Leben eines 1941 in San Francisco geborenen Literaturprofessors in Berkeley, auf das nur der düstere Schatten des Vietnamkrieges fiel. Vier nicht sehr umfangreiche Lyrikbände zwischen 1973 und 1996 genügten, um Hass Ruhm und Rang eines "poeta laureatus" einzubringen. Als Berkeley-Kollege wurde er Freund und Übersetzer von Czeslaw Milosz, und überall präsent in Hass' Werk ist die Ästhetik japanischer Haikus, die er gleichfalls übersetzt hat. "Basho: Ein Abschied / Der Sommer geht, wir / brechen auf, wie Augenlider, / wie Muschelschalen."
Diese Ästhetik vergänglicher Schönheit ermöglicht es Hass, "das Privileg zu sein" vor falschem Pathos wie vor Selbstgenuß zu bewahren. Die lange Kette der "Lieder, den Sommer zu überstehen", mündet direkt in die Erkenntnis des Todes: "er ist / alles, was unablässig / im absichtslosen Gebrauch / durch den Menschen erstrahlt". Gerade das, was eine beschönigende Alltagsästhetik dem Tod entgegenstellt, wird mit ihm identifiziert. Ähnlich gebaut ist das "Lied" über einen paradiesischen Nachmittag, in dem die Worte stehen: "wer entblößt sich mehr / als ein Mann / der ,Hey, ich bin wieder daheim!' in einem leeren Haus ruft?" Plötzlich implodiert ein Familienidyll, ohne daß man sagen könnte, ob das Gedicht nun das Glück oder das Nichts als Kontext impliziert. Solch transparente Ambivalenzen, Analysen unserer Freuden und Konventionen, doch ohne jeden zynischen Nebenton, verweisen auf eine amerikanische Tugend, die Glück wie Dichtung braucht: Großzügigkeit. Dieser Grundton des in Deutschland endlich in einer Auswahl zu entdeckenden Dichters ist von Hans Jürgen Balmes meist gut getroffen, bloß zwischen "make love" und "Liebe machen" liegt weiterhin ein ganzes Meer.
Der problematischste Teilnehmer des Quartetts kommt aus dem deutschen Sprachraum. Der Schweizer Übersetzer Ralph Dutli, dem wir die große Mandelstam-Ausgabe verdanken, bekennt sich im Nachwort zu einem "schamanistischen Verständnis von Poesie". Als Übersetzer könne er zwischen eigenen Gedichten und fremden, die ihn bewohnen, gar nicht mehr unterscheiden. Wie kokett das ist, geht freilich aus der Tatsache hervor, daß ein Großteil der Gedichte Auftragsarbeiten für Events wie Museumseröffnungen, Literaturstipendien oder das Petrarca-Jahr sind, als ob Schamanengeist und Intellekt sich herbeipfeifen ließen. Die in eigener Stimme verfaßten Texte schlingern daher hart am Rande angestrengter Animiertheit. Kalauer wie das in den Petrarca-Variationen sich findende "Ka-Laura" gehören allein in die Mündlichkeit der Belustigung. Auch die Sequenz über Böcklins Gemälde "Die Muse des Anakreon" fällt allenfalls in die Rubrik Allotria. Böcklins Tochter Clara muß folgenden Ulk ertragen: "Na Musen-Müschen o Möschen / in deinem Donnerhöschen". Schwamm drüber. Erfreulich frisch hingegen wirken Dutlis Übersetzungen aus dem Renaissance-Englisch Thomas Campions und Andrew Marvells, so daß sich eine Entschamanisierung empfiehlt: Aus nüchterner Distanz sind eigene und fremde Kunst leicht zu unterscheiden.
Säßen die vier Dichter in einem Boot, so neigte sich dieses auf die Seite Les Murrays, so groß ist sein poetisches Gewicht. Der massige Mann, geboren 1938 in Australien, hat sich im Titelgedicht "Traumbabwe" listig maskiert: "Triefend taucht ein Flußpferd auf / wie der Kopf eines Menschen, / der sich mit noch verzückten Augen / erhebt aus einem See von Strophen." Das glänzt auf der Ebene pittoresker Anschaulichkeit, enthält aber Murrays poetische Theorie. Die Spiegellinie von Wasser und Luft markiert die Bewußtseinszustände Traum und Wachen, und das, was sie unwillkürlich überschreitet, ist der Körper. Die labilen Übergänge zwischen diesen drei Bereichen - Körper, Wachen, Traum - bilden den Raum von Murrays Dichtung. Sie ist erfüllt von lustvollem Staunen über die Durchdringung von Geist und Materie, oder anders gewendet: über das Mysterium der Inkarnation. Murray ist bekennender Katholik, doch nur die Widmung all seiner Bücher "To the glory of God" (die im Auswahlband fehlt) verweist auf diesen persönlichen Glauben. Alles andere bleibt der Aufmerksamkeit des Lesers überlassen.
So entspricht das Gedicht "Die Trancen" keiner Orthodoxie. Es handelt von Schamanen, aber ernsthaft. Diese frühesten Entdecker mentaler Zustände seien es, die den Menschen aus der Eiszeit, also definitiv aus Natur und Tierreich zu einem anderen Bewußtseinsgrad führten. Dichter, auch die modernsten, operieren in ihrem Gebiet. Mit grimmigem Humor führt Murray den Beweis für die Heiligkeit des Metiers: "es bringt Unglück, uns zu zahlen". Aber dies nur am Rande. In Les Murrays Sprache ist Heiliges und Profanes, Wortwitz und Soziologie, Geschichte und Sinnlichkeit aufs engste verdichtet, ohne daß je ein Gedicht dem anderen gliche. Murray hat keine Methode. Er beobachtet und gestaltet Bewußtseinsübergänge, in denen der Zweck von Poesie liegt, "immer über die eigene Intelligenz / hinaus zu arbeiten". Margitt Lehbert, die 1996 bereits eine erste Auswahl aus Murrays großem lyrischen OEuvre vorlegte, hat das Menschenmögliche getan, sein reiches Englisch ins Deutsche zu holen - und wir tauchen "mit verzückten Augen" in einen "See von Strophen".
"Mein Gedicht ist mein Messer". Vier Bände mit Gedichten von Ralph Dutli ("Novalis im Weinberg"), Robert Hass ("Die Wünsche der Menschen"), Lorand Gaspar ("Erde aller Erden"), Les Murray ("Traumbabwe"). Ammann Verlag, Zürich 2005. 4 Bde. im Schuber, zus. ca. 440 S., br., 49,90 [Euro]; einzeln je 16,80 [Euro].
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Ralph Dutli, Robert Hass, Lorand Gaspar, Les Murray: Dichtung im Tetrapack / Von Thomas Poiss
Dichter der mittleren Generation dilettieren derzeit gern in Hirnforschung - als ob sich schöpferisches Sprachbewußtsein je anders als sprachlich darstellen, geschweige denn messen ließe. Welche Wortnuance im Kontext aktualisiert wird, ob eine Metapher erhellend oder bloß peinlich ist, darüber entscheidet individuelle Kultur, und sehr oft werden gebildete Geister uneins sein über denselben Sachverhalt. Etwa darüber, wie klug es war, vier völlig unterschiedliche Dichter in knalligem Layout in eine Kassette zu stecken und dieser den Titel von Hans Benders Anthologie zur Lyriktheorie von 1955 zu geben. Die grelle Formel "Mein Gedicht ist mein Messer" paßt auf keinen der vier Dichter, und trotzdem ist ein erfreuliches Wunder anzuzeigen. Denn das unfreiwillige Quartett enthält Solisten, die mehr vom Menschen erfahren lassen, als sich Hirngläubige je träumen lassen.
Das Entscheidende im Menschen ist unwägbar und doch ganz irdisch. Zum Beispiel die Vita von Lorand Gaspar: geboren 1925 in Rumänien als Kind einer ungarisch-armenisch-jüdischen Familie, gequält in deutschen Straflagern, ab 1945 in Frankreich zum Arzt ausgebildet, dann in Israel als Chirurg tätig. Im Sechstagekrieg wurde sein Haus zerstört, und Gaspar wanderte schließlich 1970 nach Tunesien aus, wo er heute noch lebt, am Rand jener Wüste, die dem Band "Erde aller Erden / Sol absolu" den Namen gibt. Naturwissenschaftlich exakte Beschreibungen, zum Teil Exzerpte aus Fachtexten, kontrastieren darin mit subjektiv-lyrischen Passagen.
"Subjektiv" bedeutet aber im Falle Gaspars etwas Besonderes. Seine Wüste ist eine erfahrene, nicht eine imaginierte oder touristisch entschärfte, und die Konfrontation mit den anorganischen Gewalten von Sand, Wind, Dürre, Licht und Nacht relativiert selbst eine extreme Lebensgeschichte. Dadurch, daß Gaspar alle private Biographie ausspart, gleicht er das Menschenleben den extremen Lebensformen der Wüste an: den niemals trinkenden Mäusen und Spinnen, den Wüstenfischen, deren befruchtete Eier Trockenperioden überstehen, den tiefwurzelnden oder gepanzerten Pflanzen.
Diese Welt, in der selbst organischer Dung einen Wert darstellt, ist biblisch rein und hart. Sie wird auch dem medizinischen Blick erhaben durch das, was den Menschen vor kristallinem Staub und genügsamer Kreatur auszeichnet, die Poetik des aufrechten Ganges und des Gesangs: "Deine Schwerkraft hat frei. Der Gesang schmilzt in der Dichte der verschlossenen Welt." Joachim Sartorius hat den Text makellos übersetzt, nur im Beiwerk des Bandes knirscht es. Zugrunde liegt nicht, wie im Impressum angegeben, die Textfassung von 1972, sondern eine stark überarbeitete; das Wort "Wüste" erscheint in "ugaritischer", nicht "ungarischer" Schrift. Aber das sind Krümel am Rand der Erschließung eines Dichters, dessen Gesamtwerk eine Übersetzung verlangt.
Gleiches gilt im denkbar unähnlichen Fall von Robert Hass. Dieser führt das selige Westküsten-Leben eines 1941 in San Francisco geborenen Literaturprofessors in Berkeley, auf das nur der düstere Schatten des Vietnamkrieges fiel. Vier nicht sehr umfangreiche Lyrikbände zwischen 1973 und 1996 genügten, um Hass Ruhm und Rang eines "poeta laureatus" einzubringen. Als Berkeley-Kollege wurde er Freund und Übersetzer von Czeslaw Milosz, und überall präsent in Hass' Werk ist die Ästhetik japanischer Haikus, die er gleichfalls übersetzt hat. "Basho: Ein Abschied / Der Sommer geht, wir / brechen auf, wie Augenlider, / wie Muschelschalen."
Diese Ästhetik vergänglicher Schönheit ermöglicht es Hass, "das Privileg zu sein" vor falschem Pathos wie vor Selbstgenuß zu bewahren. Die lange Kette der "Lieder, den Sommer zu überstehen", mündet direkt in die Erkenntnis des Todes: "er ist / alles, was unablässig / im absichtslosen Gebrauch / durch den Menschen erstrahlt". Gerade das, was eine beschönigende Alltagsästhetik dem Tod entgegenstellt, wird mit ihm identifiziert. Ähnlich gebaut ist das "Lied" über einen paradiesischen Nachmittag, in dem die Worte stehen: "wer entblößt sich mehr / als ein Mann / der ,Hey, ich bin wieder daheim!' in einem leeren Haus ruft?" Plötzlich implodiert ein Familienidyll, ohne daß man sagen könnte, ob das Gedicht nun das Glück oder das Nichts als Kontext impliziert. Solch transparente Ambivalenzen, Analysen unserer Freuden und Konventionen, doch ohne jeden zynischen Nebenton, verweisen auf eine amerikanische Tugend, die Glück wie Dichtung braucht: Großzügigkeit. Dieser Grundton des in Deutschland endlich in einer Auswahl zu entdeckenden Dichters ist von Hans Jürgen Balmes meist gut getroffen, bloß zwischen "make love" und "Liebe machen" liegt weiterhin ein ganzes Meer.
Der problematischste Teilnehmer des Quartetts kommt aus dem deutschen Sprachraum. Der Schweizer Übersetzer Ralph Dutli, dem wir die große Mandelstam-Ausgabe verdanken, bekennt sich im Nachwort zu einem "schamanistischen Verständnis von Poesie". Als Übersetzer könne er zwischen eigenen Gedichten und fremden, die ihn bewohnen, gar nicht mehr unterscheiden. Wie kokett das ist, geht freilich aus der Tatsache hervor, daß ein Großteil der Gedichte Auftragsarbeiten für Events wie Museumseröffnungen, Literaturstipendien oder das Petrarca-Jahr sind, als ob Schamanengeist und Intellekt sich herbeipfeifen ließen. Die in eigener Stimme verfaßten Texte schlingern daher hart am Rande angestrengter Animiertheit. Kalauer wie das in den Petrarca-Variationen sich findende "Ka-Laura" gehören allein in die Mündlichkeit der Belustigung. Auch die Sequenz über Böcklins Gemälde "Die Muse des Anakreon" fällt allenfalls in die Rubrik Allotria. Böcklins Tochter Clara muß folgenden Ulk ertragen: "Na Musen-Müschen o Möschen / in deinem Donnerhöschen". Schwamm drüber. Erfreulich frisch hingegen wirken Dutlis Übersetzungen aus dem Renaissance-Englisch Thomas Campions und Andrew Marvells, so daß sich eine Entschamanisierung empfiehlt: Aus nüchterner Distanz sind eigene und fremde Kunst leicht zu unterscheiden.
Säßen die vier Dichter in einem Boot, so neigte sich dieses auf die Seite Les Murrays, so groß ist sein poetisches Gewicht. Der massige Mann, geboren 1938 in Australien, hat sich im Titelgedicht "Traumbabwe" listig maskiert: "Triefend taucht ein Flußpferd auf / wie der Kopf eines Menschen, / der sich mit noch verzückten Augen / erhebt aus einem See von Strophen." Das glänzt auf der Ebene pittoresker Anschaulichkeit, enthält aber Murrays poetische Theorie. Die Spiegellinie von Wasser und Luft markiert die Bewußtseinszustände Traum und Wachen, und das, was sie unwillkürlich überschreitet, ist der Körper. Die labilen Übergänge zwischen diesen drei Bereichen - Körper, Wachen, Traum - bilden den Raum von Murrays Dichtung. Sie ist erfüllt von lustvollem Staunen über die Durchdringung von Geist und Materie, oder anders gewendet: über das Mysterium der Inkarnation. Murray ist bekennender Katholik, doch nur die Widmung all seiner Bücher "To the glory of God" (die im Auswahlband fehlt) verweist auf diesen persönlichen Glauben. Alles andere bleibt der Aufmerksamkeit des Lesers überlassen.
So entspricht das Gedicht "Die Trancen" keiner Orthodoxie. Es handelt von Schamanen, aber ernsthaft. Diese frühesten Entdecker mentaler Zustände seien es, die den Menschen aus der Eiszeit, also definitiv aus Natur und Tierreich zu einem anderen Bewußtseinsgrad führten. Dichter, auch die modernsten, operieren in ihrem Gebiet. Mit grimmigem Humor führt Murray den Beweis für die Heiligkeit des Metiers: "es bringt Unglück, uns zu zahlen". Aber dies nur am Rande. In Les Murrays Sprache ist Heiliges und Profanes, Wortwitz und Soziologie, Geschichte und Sinnlichkeit aufs engste verdichtet, ohne daß je ein Gedicht dem anderen gliche. Murray hat keine Methode. Er beobachtet und gestaltet Bewußtseinsübergänge, in denen der Zweck von Poesie liegt, "immer über die eigene Intelligenz / hinaus zu arbeiten". Margitt Lehbert, die 1996 bereits eine erste Auswahl aus Murrays großem lyrischen OEuvre vorlegte, hat das Menschenmögliche getan, sein reiches Englisch ins Deutsche zu holen - und wir tauchen "mit verzückten Augen" in einen "See von Strophen".
"Mein Gedicht ist mein Messer". Vier Bände mit Gedichten von Ralph Dutli ("Novalis im Weinberg"), Robert Hass ("Die Wünsche der Menschen"), Lorand Gaspar ("Erde aller Erden"), Les Murray ("Traumbabwe"). Ammann Verlag, Zürich 2005. 4 Bde. im Schuber, zus. ca. 440 S., br., 49,90 [Euro]; einzeln je 16,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Erfreut zeigt sich Rezensent Andreas Dorschel über dieses "lyrisches Paket", das in schöner Aufmachung Dichtungen von Ralph Dutli, Les Murray, Robert Hass und Lorand Gaspar präsentiert. So unterschiedlich die Arbeiten dieser Lyriker auch sein mögen, gefallen haben sie Dorschel allesamt. Ralph Dutli lobt er für seine "höchst musikalische Lyrik". Auch wenn seine Welt heil erscheine, "so jedenfalls nicht auf die fade Art". Les Murrays Welt dagegen findet Dorschel keinen Moment lang heil. Murray entwerfe ein Panoramen der Zerstörung, sein Australien sei ein durch Tourismus und Geschäft seiner Geheimnisse beraubtes Land. Den Kalifornier Robert Hass, der in Hans Jürgen Balmes einen glänzenden deutschen Übersetzer gefunden habe, preist Dorschel als einen "Lyrikvirtuosen". "Wer einen lyrischen Sound sucht, der über alles hinwegträgt", verspricht der Rezensent, "findet hier sein Genussmittel." Als ein "erstaunliches Werk" würdigt er schließlich Lorand Gaspars Langgedicht "Sol absolu" aus dem Jahr 1972, das Joachim Sartorius unter dem Titel "Erde aller Erde" ins Deutsche gebracht hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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