Marktplatzangebote
18 Angebote ab € 1,30 €
Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • Originaltitel: My Year Off
  • Seitenzahl: 239
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 396g
  • ISBN-13: 9783827002464
  • ISBN-10: 382700246X
  • Artikelnr.: 24396263
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Bebend im Nebenbett
Vom Schlag getroffen und das Treffen glücklich geschlagen: Robert McCrums Begegnung mit dem eigenen Untergang / Von Michael Allmaier

Eine Szene wie aus der Feder eines Kafka-Epigonen: Der Verlagslektor Robert McCrum wacht eines Morgens aus unruhigen Träumen auf und stellt fest, daß er seine linke Körperhälfte nicht mehr bewegen kann. Am Abend zuvor war er noch kerngesund gewesen, bis auf die Kopfschmerzen vielleicht und diesen Rausch nach den zwei Gläsern Champagner. Nun liegt er hilflos zappelnd in seinem Bett und bald darauf noch hilfloser auf dem Fußboden. Er ist nicht eigentlich besorgt deshalb, eher schon wegen seines Terminplans, der durch diese unvorhergesehene Störung durcheinanderzukommen droht. Unten im Wohnzimmer klingelt andauernd das Telefon. McCrum fällt ein, daß er auch gern telefonieren würde, aber mit wem?

Die Szene ist nicht erfunden; und Robert McCrum verwandelt sich auch nicht in ein Ungeziefer, obwohl er sich in den darauffolgenden Monaten mitunter so fühlen wird. Sein Schicksal ist viel alltäglicher. Er wurde das Opfer eines Schlaganfalls, der ihn für fast ein Jahr zum Pflegefall degradiert. Der Cheflektor des englischen Verlags Faber & Faber, der Autoren wie Milan Kundera und Mario Vargas Llosa betreut hatte, mußte nun zur Anregung seiner Hirntätigkeit bunte Plastikbuchstaben sortieren.

Das war vor drei Jahren. Inzwischen hat sich McCrum weitgehend erholt. Er leitet die Literaturredaktion des "Observer" und ist kürzlich Vater geworden. Doch die Erfahrung der Todesnähe zeichnet ihn noch immer so sehr, daß er beschloß, sie in einem Buch festzuhalten. "My Year Off" hat er es genannt - ein Titel, der kaum zu übersetzen ist. Der deutsche Verlag hat es mit "Mein Jahr draußen" versucht, was ein wenig nach den Memoiren eines entlaufenen Sträflings klingt. Dabei geht es natürlich um ein Jahr drinnen, in der Gefangenschaft von Krankenzimmern und Rollstühlen.

Wenn man dem Autor glauben darf, verdankt das Buch seine Entstehung einem Zufall: Sowohl McCrum als auch seine Frau Sarah, die ebenfalls Journalistin ist, haben während dieser Zeit ein Tagebuch geführt. "Mein Jahr draußen" besteht aus einer Gegenüberstellung ihrer Notizen, die der Verfasser aus dem Abstand eines weiteren Jahres kommentiert. Alle drei Stimmen stehen gleichberechtigt nebeneinander; und so befangen jede einzelne von ihnen ist, vermitteln sie gemeinsam doch eine erstaunlich nüchterne Einschätzung der Situation.

Das Werk versteht sich als Hilfe für jüngere Menschen, die wie der Autor ganz unerwartet einen Schlaganfall erlitten haben und in der bestehenden sozialmedizinischen Betreuung ihren Platz nicht finden. Für den unbeteiligten Leser stellt es sich anders dar: als der Versuch eines Intellektuellen, den ungewissen Kampf um seine Gesundheit zumindest auf seinem eigenen Terrain zu führen. Warum gerade ich, fragt McCrum wie wohl beinahe jeder in seiner Situation. Doch er meint es ernst, und seine Mittel erlauben es ihm, oft zu fragen. Aber keine Untersuchung kann klären, was das Blutgerinnsel auslöste, das eine Ader in seinem Hirn verstopfte und ihn an den Rand des Todes brachte.

Er teilt damit das Schicksal vieler Apoplektiker, die niemals erfahren, wie es zu ihrem Anfall kam, und nur mit der Ahnung leben, daß weitere folgen können. Schlimmer als die Angst vor einem nahen Tod wirkt dabei wohl die Ungewißheit. Wer an einem Leiden wie Krebs erkrankt, wird auf seine Leiblichkeit zurückgeworfen. Er spürt den Verlauf der Krankheit und die Wirkung der Therapie. Das mag alles andere als tröstlich sein, aber es gibt dem Denken Nahrung.

Der Apoplexie-Patient hingegen findet sich seinem Körper entfremdet. Er verliert von einem Tag auf den anderen selbstverständlich geglaubte Fähigkeiten wie die, zu sprechen oder aufrecht zu stehen. Er wird unter Umständen feststellen müssen, daß seine Persönlichkeit sich verändert hat. Und er wird sich darüber klarwerden, daß für ihn eine verschärfte Version der conditio humana gilt: Er wird sterben und kann nichts dagegen tun.

Robert McCrum war in seinem Gewerbe wohl das, was einem Macher noch am nächsten kommt. Kein Infarktkandidat, wie man ihn sich vorstellt, aber doch ein Mensch, der mehr als andere leidet, wenn er, statt zu handeln, nur mehr behandelt wird. Sein Buch beschreibt sein verzweifeltes Ringen um die verlorene Selbstsicherheit. Zwar scheint es, als sei manches an den Aufzeichnungen geschönt worden. Vor allem Sarah geht bis zur Farblosigkeit in ihrer Rolle der treusorgenden Gattin auf. Doch neben der emsigen Mutmacherei, die man im Genre der Ratgeber von Überlebenden kennt, nimmt McCrums Werk sich frappierend ehrlich aus. Es schildert auch die Deformationen seines Charakters, die Wutanfälle und Weinkrämpfe, die Ängste, im Abseits zu enden oder den Verstand zu verlieren, mit einer Offenheit, die an Jan Philipp Reemtsmas Bericht aus dem Keller erinnert.

Ist es nur ein anthropologischer Zufall, daß man die Krankheit wie die Weisheit vornehmlich dem Alter zuschreibt, oder stärkt der Verfall des Körpers womöglich sogar den Geist? Robert McCrum hat zuviel gelesen, um diese Frage ganz den Dichtern zu überlassen. Der Schlaganfall hat ihn, wie man so sagt, um Jahre altern lassen. Er hat ihm nach seinem Empfinden auch mehr Einsicht in die Natur von Leben und Tod gegeben.

Wenn man es so sieht, ist die Wendung vom "Jahr draußen" gar nicht so verkehrt. Es war tatsächlich ein Jahr außerhalb seines gewohnten Körpers und frei von der Gedankenlosigkeit des Gesunden. Das mag auch ein Grund dafür sein, daß die Verständigung zwischen beiden so oft mißlingt. Der Kranke sieht im Gesunden die eigene Vergangenheit, die Naivität, die ihn, wie es nun scheint, unvorbereitet in sein Elend stürzen ließ. Der Gesunde sieht jemanden, der sich kraft seiner persönlichen Leidensgeschichte zum Lehrer erhebt.

Der Autor vermittelt, so gut es geht, und kann doch nicht immer verleugnen, daß er manches besser zu wissen meint, weil es ihm schlechter ging. Sein Rückgriff auf die Literatur erinnert manchmal an den Stil von Managerfibeln. Er spickt seine Ausführungen mit großen Worten großer Männer von Shakespeare bis Beckett und münzt sie auf seine Situation. Ein bißchen peinlich, denkt sich der Gesunde. Aber der Verfasser würde dem wohl entgegnen, daß die edlen Kranken der Dichtung nicht edler leiden als jedermann sonst, daß vor dem Tod tatsächlich alle gleich sind.

Schwere Krankheiten verändern das Sprachverhalten. Anders als manche seiner Leidensgenossen hat Robert McCrum seine Sprache nicht verloren. Aber er mußte lernen, mit einer halb gelähmten Zunge zu sprechen. Und er mußte lernen, "ich" zu sagen, als wüßte er noch genau, was dieses Ich denn sei. Der Stil seines Werks spiegelt die Stimmungsschwankungen, denen ein Kranker ausgesetzt sein mag. Man findet darin schwülstige Auslassungen über die Liebe, aber auch sarkastische Einsichten in den Unernst der Lage.

Da gibt es etwa den Augenblick, in dem er bemerkt, daß seine besorgte Frau heimlich sein Tagebuch liest: "Ich tat, als würde ich schlafen, während ich beobachtete, wie sie die letzten Eintragungen durchsah und vermutlich nach verräterischem Nonsens suchte. Ich war sehr versucht, ein oder zwei Seiten mit ,Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen' zu füllen, wie der Verrückte, den Jack Nicholson in ,Shining' spielt."

Das Buch lebt vom Esprit des Verfassers; und man möchte ihn beruhigen, wenn er argwöhnt, auch sein Witz könne durch den Hirnschlag gelitten haben. Allerdings fällt auf, daß McCrum den Sinn für das gesunde Maß noch nicht ganz wiedererlangt zu haben scheint. Man stößt auf manche Eigentümlichkeiten. Das können Blicke zurück auf sein bewegtes Leben sein, die Empfehlungen namentlich genannter Ärzte oder auch die seltenen Stellen, an denen er sich mit sterbenskranken Schwerstbehinderten vergleicht. Doch auch diese Fiebrigkeit gibt dem Bericht seine Kraft. Man spürt die Enge des Krankenhauszimmers, wenn der Patient ein Jahr nach seiner Entlassung noch die Markennamen der Möbel aufzählt wie eine lohnende Lektüre.

Das ganze Buch ist Tagebuch, auch dort, wo es das nicht sein will. Und es ist kein durchweg sympathischer Mensch, der sich darin offenbart. Robert McCrum erscheint wie der Patient im Nachbarbett, der das alles schon durchgemacht hat und dauernd davon erzählt, der im Grunde davon überzeugt ist, daß alles Leiden nur ein Abbild seines Leidens sei, der einem mit seiner Krankenweisheit gehörig auf die Nerven geht. Und trotzdem ist man heilfroh, daß es ihn gibt und daß man ihn noch hören kann.

Robert McCrum: "Mein Jahr draußen". Wiederentdeckung des Lebens nach einem Schlaganfall. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Berlin Verlag, Berlin 1998. 240 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr