"WIE BLÄTTER VOR DEM WIND" - ZWEI JUNGE MÄNNER IM ANGESICHT DES TODES
Eine glänzende akademische Karriere vor Augen, stürzt eine fatale Diagnose den jungen Wissenschaftler in tiefe Verzweiflung. Doch der allzu früh drohende Tod lässt ihn auch eine seltsame Gemeinschaft mit dem griechischen Helden Achill empfinden. Beide stehen in der Blüte ihres Lebens, beide müssen erfahren, dass sich das blinde Schicksal nicht für ihre Hoffnungen, Pläne und Wünsche interessiert. Die Konfrontation mit Achill wie in einem jahrtausendealten Spiegel wird für Jonas Grethlein zu einer existentiellen Erfahrung. So ist ein Buch entstanden, das sich keinem Genre unterwirft - persönliche Erzählung, brillante Homer-Interpretation und eine eindringliche Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Menschseins.
Rachsüchtig, zornig und gewalttätig - so erscheint Achill in der Ilias des Homer. Schwerlich eine Gestalt, der man sich in tiefer Verzweiflung auf der Suche nach Trost und Orientierungzuwendet. Und doch ist es ebendieser düstere Held, mit dem der Altphilologe Jonas Grethlein die Auseinandersetzung sucht, als er im Alter von 27 Jahren schwer erkrankt. Die Diagnose wischt mit einer schnellen Bewegung den Erwartungshorizont weg, der, über Jahre aufgebaut, seinen hoffnungsfrohen Lebensentwurf grundiert hatte - und sie lässt ihn zugleich die eisige Luft spüren, in der sich auch Achill in der Ilias bewegt. Im «Besten der Achaier», der, den eigenen Tod vor Augen, in die Schlacht um Troja zurückkehrt, erkennt der Autor das aus seiner Krankheitserfahrung erwachsende Bewusstsein existentieller Verletzlichkeit wieder. So kommt es zu einer Lektüre der Ilias, wie es sie noch nie gegeben hat. Auf zutiefst berührende Art und Weise verwebt Grethlein sein Schicksal mit den großen Fragen, die Homers Epos seit Jahrtausenden den Menschen stellt. Dabei zwingt die unhintergehbare Ernsthaftigkeit seiner Situation den Autor zu einer mitunter verstörenden Offenheit und Ehrlichkeit sich selbst und seinen Leserinnen und Lesern gegenüber. Aber sie lässt ihn auch ein tiefes Verständnis der Ilias als einer heute noch relevanten Reflexion über die Kontingenz allen menschlichen Lebens gewinnen.
Ein besonderer Erfahrungsbericht über den Umgang mit der Diagnose Krebs Ein lebenskluges Buch über die Grundbedingung des Menschseins Der Tod und das Lesen - Geschichte einer ungewöhnlichen Schicksalsbewältigung
Eine glänzende akademische Karriere vor Augen, stürzt eine fatale Diagnose den jungen Wissenschaftler in tiefe Verzweiflung. Doch der allzu früh drohende Tod lässt ihn auch eine seltsame Gemeinschaft mit dem griechischen Helden Achill empfinden. Beide stehen in der Blüte ihres Lebens, beide müssen erfahren, dass sich das blinde Schicksal nicht für ihre Hoffnungen, Pläne und Wünsche interessiert. Die Konfrontation mit Achill wie in einem jahrtausendealten Spiegel wird für Jonas Grethlein zu einer existentiellen Erfahrung. So ist ein Buch entstanden, das sich keinem Genre unterwirft - persönliche Erzählung, brillante Homer-Interpretation und eine eindringliche Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Menschseins.
Rachsüchtig, zornig und gewalttätig - so erscheint Achill in der Ilias des Homer. Schwerlich eine Gestalt, der man sich in tiefer Verzweiflung auf der Suche nach Trost und Orientierungzuwendet. Und doch ist es ebendieser düstere Held, mit dem der Altphilologe Jonas Grethlein die Auseinandersetzung sucht, als er im Alter von 27 Jahren schwer erkrankt. Die Diagnose wischt mit einer schnellen Bewegung den Erwartungshorizont weg, der, über Jahre aufgebaut, seinen hoffnungsfrohen Lebensentwurf grundiert hatte - und sie lässt ihn zugleich die eisige Luft spüren, in der sich auch Achill in der Ilias bewegt. Im «Besten der Achaier», der, den eigenen Tod vor Augen, in die Schlacht um Troja zurückkehrt, erkennt der Autor das aus seiner Krankheitserfahrung erwachsende Bewusstsein existentieller Verletzlichkeit wieder. So kommt es zu einer Lektüre der Ilias, wie es sie noch nie gegeben hat. Auf zutiefst berührende Art und Weise verwebt Grethlein sein Schicksal mit den großen Fragen, die Homers Epos seit Jahrtausenden den Menschen stellt. Dabei zwingt die unhintergehbare Ernsthaftigkeit seiner Situation den Autor zu einer mitunter verstörenden Offenheit und Ehrlichkeit sich selbst und seinen Leserinnen und Lesern gegenüber. Aber sie lässt ihn auch ein tiefes Verständnis der Ilias als einer heute noch relevanten Reflexion über die Kontingenz allen menschlichen Lebens gewinnen.
Ein besonderer Erfahrungsbericht über den Umgang mit der Diagnose Krebs Ein lebenskluges Buch über die Grundbedingung des Menschseins Der Tod und das Lesen - Geschichte einer ungewöhnlichen Schicksalsbewältigung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2022Sein, Zeit und Tod
Jonas Grethlein denkt über die Sterblichkeit und Homers "Ilias" nach
Im Alter von gerade einmal 29 Jahren erhielt Jonas Grethlein einen Ruf an die Heidelberger Universität als Professor für griechische Literaturwissenschaft. Dem vorausgegangen war eine akademische Karriere mit einem Tempo, das in den heutigen Geisteswissenschaften sicherlich als Ausnahme anzusehen ist: Promotion mit fünfundzwanzig, Habilitation mit siebenundzwanzig Jahren. Doch diese akademische Karriere als schlichtweg vorbildlich anzusehen, davor warnt ausgerechnet Grethlein selbst in seinem nun erschienenen Buch "Mein Jahr mit Achill".
Kurz nach dem Abschluss der Habilitation war bei ihm eine Krebserkrankung diagnostiziert worden: "Vielleicht war das Pensum der letzten zwei Jahre doch zu groß gewesen: das emsige Schreiben an der Habilitationsschrift (. . .), dann die Partys, in die ich mich am Wochenende gestürzt hatte, um am Montag wieder in das Korsett der Arbeitswoche zu schlüpfen." Die Erfahrung der Erkrankung wird für Grethlein Ausgangspunkt und Grundierung einer ganz persönlichen Interpretation von Homers "Ilias".
Wer einen rein wissenschaftlichen Beitrag zu den nach wie vor offenen Forschungsfragen zur "Ilias" sucht, ist hier nur unter Vorbehalt beim richtigen Buch gelandet. Zwar liefert Grethlein zahlreiche interessante Interpretationsansätze, beispielsweise zur filigranen Zeitstruktur und Homers gekonntem Spiel mit Erwartung und - nicht immer vorhandener - Auflösung. Doch stellen sie nicht den eigentlichen Kern des Buches dar.
Denn primär geht es darum, zu zeigen, wie Homers Epos mit dem scheinbar unnahbaren Achill im Zentrum für ihn in einer Zeit existenzieller Ängste zu einer Art literarischer Heimat wurde. Bei Homer fühlte er sich mit seiner Krebserkrankung und der intensiven Bewusstwerdung der Flüchtigkeit des menschlichen Lebens wiedererkannt und aufgehoben. Grethlein deutet die "Ilias" als eine große Reflexion über die Unausweichlichkeit des eigenen Todes, der uns jederzeit ereilen kann und dabei für uns unerreichbar, weil nicht erlebbar bleibt. Diese Unerreichbarkeit des Todes und die Unmöglichkeit, die eigene Geschichte als Ganzes zu betrachten, sieht Grethlein in der besonderen Zeitstruktur der "Ilias" umgesetzt, die durchzogen ist von Verweisen auf den Tod Achills und den Untergang Trojas, selbst wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt beider Ereignisse endet.
Grethlein taucht den "stärksten der Achaier" mit seiner Interpretation in ein gänzlich neues Licht: "Der Kern von Achills Heroismus ist die Annahme des Todes." Achills Verhalten zeigt für ihn, dass der Held der eigenen Sterblichkeit und Fragilität ins Auge sieht und so einen anderen Blick auf das Leben gewinnt: Materielle Dinge zählen da nur noch wenig, wie Achills Ablehnung der mit reichen Geschenken ausgestatteten Gesandtschaft Agamemnons belegt. Er sieht auch nichts Heroisches mehr im Tod, weder in seinem eigenen noch in dem anderer. Achill nimmt in der Interpretation Grethleins die ganze Fragilität des menschlichen Daseins uneingeschränkt an.
Diese Interpretation unterlegt Grethlein mit bisweilen etwas ausladenden Exkursionen in die Philosophiegeschichte. Heidegger kommt dabei eine zentrale Rolle zu, wenn Achill durch das Begreifen der eigenen Zeitlichkeit und des Todes als unüberholbare Grenze der "Held zum Tode" wird. Diese Deutung ist zwar faszinierend, aber es fällt mitunter doch schwer, ausgerechnet diesen kriegerischen Halbgott - der zudem ganz bewusst zwischen einem langen, glücklichen Leben ohne Ruhm und einem kurzen, dafür umso ruhmvolleren Leben wählen darf - als beispielhaft für menschliche Existenz zu nehmen. Und dass es ausgerechnet ein archaisches Kriegsepos ist, das durch eine Zeit existenzieller Ängste hilft, mag auch nicht allen einleuchten. Doch das ändert nichts daran, hier ein eindrückliches Beispiel vor sich zu haben, in Literatur Orientierung und Halt zu finden. PHILIP SCHÄFER.
Jonas Grethlein: "Mein Jahr mit Achill". Die Ilias, der Tod und das Leben.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 208 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jonas Grethlein denkt über die Sterblichkeit und Homers "Ilias" nach
Im Alter von gerade einmal 29 Jahren erhielt Jonas Grethlein einen Ruf an die Heidelberger Universität als Professor für griechische Literaturwissenschaft. Dem vorausgegangen war eine akademische Karriere mit einem Tempo, das in den heutigen Geisteswissenschaften sicherlich als Ausnahme anzusehen ist: Promotion mit fünfundzwanzig, Habilitation mit siebenundzwanzig Jahren. Doch diese akademische Karriere als schlichtweg vorbildlich anzusehen, davor warnt ausgerechnet Grethlein selbst in seinem nun erschienenen Buch "Mein Jahr mit Achill".
Kurz nach dem Abschluss der Habilitation war bei ihm eine Krebserkrankung diagnostiziert worden: "Vielleicht war das Pensum der letzten zwei Jahre doch zu groß gewesen: das emsige Schreiben an der Habilitationsschrift (. . .), dann die Partys, in die ich mich am Wochenende gestürzt hatte, um am Montag wieder in das Korsett der Arbeitswoche zu schlüpfen." Die Erfahrung der Erkrankung wird für Grethlein Ausgangspunkt und Grundierung einer ganz persönlichen Interpretation von Homers "Ilias".
Wer einen rein wissenschaftlichen Beitrag zu den nach wie vor offenen Forschungsfragen zur "Ilias" sucht, ist hier nur unter Vorbehalt beim richtigen Buch gelandet. Zwar liefert Grethlein zahlreiche interessante Interpretationsansätze, beispielsweise zur filigranen Zeitstruktur und Homers gekonntem Spiel mit Erwartung und - nicht immer vorhandener - Auflösung. Doch stellen sie nicht den eigentlichen Kern des Buches dar.
Denn primär geht es darum, zu zeigen, wie Homers Epos mit dem scheinbar unnahbaren Achill im Zentrum für ihn in einer Zeit existenzieller Ängste zu einer Art literarischer Heimat wurde. Bei Homer fühlte er sich mit seiner Krebserkrankung und der intensiven Bewusstwerdung der Flüchtigkeit des menschlichen Lebens wiedererkannt und aufgehoben. Grethlein deutet die "Ilias" als eine große Reflexion über die Unausweichlichkeit des eigenen Todes, der uns jederzeit ereilen kann und dabei für uns unerreichbar, weil nicht erlebbar bleibt. Diese Unerreichbarkeit des Todes und die Unmöglichkeit, die eigene Geschichte als Ganzes zu betrachten, sieht Grethlein in der besonderen Zeitstruktur der "Ilias" umgesetzt, die durchzogen ist von Verweisen auf den Tod Achills und den Untergang Trojas, selbst wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt beider Ereignisse endet.
Grethlein taucht den "stärksten der Achaier" mit seiner Interpretation in ein gänzlich neues Licht: "Der Kern von Achills Heroismus ist die Annahme des Todes." Achills Verhalten zeigt für ihn, dass der Held der eigenen Sterblichkeit und Fragilität ins Auge sieht und so einen anderen Blick auf das Leben gewinnt: Materielle Dinge zählen da nur noch wenig, wie Achills Ablehnung der mit reichen Geschenken ausgestatteten Gesandtschaft Agamemnons belegt. Er sieht auch nichts Heroisches mehr im Tod, weder in seinem eigenen noch in dem anderer. Achill nimmt in der Interpretation Grethleins die ganze Fragilität des menschlichen Daseins uneingeschränkt an.
Diese Interpretation unterlegt Grethlein mit bisweilen etwas ausladenden Exkursionen in die Philosophiegeschichte. Heidegger kommt dabei eine zentrale Rolle zu, wenn Achill durch das Begreifen der eigenen Zeitlichkeit und des Todes als unüberholbare Grenze der "Held zum Tode" wird. Diese Deutung ist zwar faszinierend, aber es fällt mitunter doch schwer, ausgerechnet diesen kriegerischen Halbgott - der zudem ganz bewusst zwischen einem langen, glücklichen Leben ohne Ruhm und einem kurzen, dafür umso ruhmvolleren Leben wählen darf - als beispielhaft für menschliche Existenz zu nehmen. Und dass es ausgerechnet ein archaisches Kriegsepos ist, das durch eine Zeit existenzieller Ängste hilft, mag auch nicht allen einleuchten. Doch das ändert nichts daran, hier ein eindrückliches Beispiel vor sich zu haben, in Literatur Orientierung und Halt zu finden. PHILIP SCHÄFER.
Jonas Grethlein: "Mein Jahr mit Achill". Die Ilias, der Tod und das Leben.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 208 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Burkhard Müller findet es höchst respektabel und nicht vermessen, wenn der klassische Philologe Jonas Grethlein in seinem Memoir über die eigene Krebserkrankung ganz nah an Homer und seinen Helden Achill heranrückt. Die Vertrautheit des Autors mit der "Illias" führt laut Müller zu einer neuen Lektüre des Klassikers, in der Parallelen zwischen Autor und antikem Held, wie das Wissen um die eigene Sterblichkeit und die Ermangelung einer "Jenseitsperspektive", aufscheinen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2022Wenn das Sterben das Lesen ändert
Der Altphilologe Jonas Grethlein erkrankt an Krebs und sieht Homers „Ilias“ mit neuen Augen
Dieses Buch beginnt mit einer Anmaßung: „Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben“ nennt der klassische Philologe Jonas Grethlein, der in Heidelberg lehrt, sein – ja, was? Am ehesten ist es wohl das, was man seit einiger Zeit Memoir nennt, im Singular und im Gegensatz zu den alten geruhsamen Memoiren im Plural. Mit diesem „Mein“ setzt er sich selbst noch vor den Namen des berühmtesten westlichen Helden aller Zeiten; und im Untertitel macht er klar, dass er sich jedenfalls nicht mit Kleinigkeiten aufhalten wird. Man darf also gespannt sein.
Der Autor, aus einer Gelehrtenfamilie stammend, schlägt selbst früh und mit Entschiedenheit diesen Weg ein. Mit nur 27 Jahren habilitiert er sich (über Homers „Ilias“, was sonst), geht an eine amerikanische Universität, lebt rasant und als ob am strahlenden Gelingen seines Lebens kein Zweifel möglich wäre. Da trifft ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Diagnose: Blasenkrebs. Auf einmal ist der Tod, den er wie alle zuvor nur vom Hörensagen kannte, ganz nah. Der Autor-Erzähler spricht ohne Rückhalt von seiner Angst und den so schmerzlichen wie beschämenden Eingriffen, die die Behandlung mit sich bringt. Unter dem unabweisbaren Zwang der Krankheit beginnt er das ihm vertrauteste Buch, eben die „Ilias“ des Homer, nun mit ganz anderen Augen zu lesen.
Angelpunkt seiner Lektüre, Grethlein zitiert dabei dankenswerterweise statt aus der zu Unrecht hochgeschätzten hexametrischen Ilias-Version von Voss, aus der jüngeren, freirhythmischen, archaisch-lebendigen Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, ist die Figur des Achill. Das liegt einerseits auf der Hand, denn die Ilias führt sich gleich im ersten Vers als das Lied vom Zorn des Achilleus ein. Andererseits aber muss man es doch eine ungewöhnliche Entscheidung nennen, denn Achill erscheint heute als der Fremdeste in diesem großen Aufgebot von Helden, fremder als der gewitzte Odysseus, der überforderte Heerführer Agamemnon, der verantwortungsbewusste Hektor.
Hektor vor allem, der kämpft, nicht weil er will, sondern weil er muss, um seine Mitbürger und seine Familie zu schützen, scheint die schlechthin gegenwartstaugliche Heldenfigur zu sein; Hektor, der, als er zum letzten Mal seiner Frau und seinem kleinen Sohn auf den Mauern von Troja begegnet und das Kind vor dem großen Helmbusch erschrickt, den Helm abnimmt und in Lachen und Weinen zugleich ausbricht: Er ist der eigentliche Antipode des Achill, der in ungezügeltem Affekt auf dem Schlachtfeld rast und in seinem Autismus keinerlei Konventionen und Ansprüche gelten lässt. „Achill das Vieh“ ist das stehende Beiwort, mit dem ihn etwa Christa Wolf in ihrer „Kassandra“ bedacht hat. Grethlein gesteht: „Dass ein Geisteswissenschaftler sich im ‚Besten der Achaier‘ wiederfindet, mag ähnlich lächerlich klingen, wie wenn ehemalige Zivildienstleistende für Ernst Jüngers ‚Marmorklippen‘ schwärmen oder Bürgerskinder aus Zehlendorf und Winterhude sich für Gangsterrap begeistern (...).“ Und doch gibt es da einen schmalen, aber bedeutsamen Überschneidungsbereich: die Intensität des Wissens von der eigenen Sterblichkeit.
Achill hat die Wahl gehabt, ob er lieber ein langes Leben oder den Ruhm wolle, und sich ohne zu zögern für den Ruhm entschieden; immer mehr verdichten sich, noch während er gegen die Feinde wütet, die Hinweise auf seinen eigenen baldigen Tod, und er weicht ihm nicht aus. Nachdem Achill seine Entscheidung getroffen hat, laufen die Ereignisse so unberechenbar und weitgehend unbeeinflussbar ab wie eine Krebserkrankung.
Grethlein spricht (und das wird zum Schlüsselwort, das ihn und Achill zusammenkettet) von „Schicksalskontingenz“: Das Wichtigste überhaupt, das eigene Leben und Überleben, hängt von Dingen ab, die keine tiefere Notwendigkeit besitzen, aber mit unwidersprechlicher Gewalt ihr Urteil fällen.
Und noch etwas verbindet die beiden durch drei Jahrtausende getrennten und verbundenen Schicksalsgenossen: Achill, vor der griechischen Philosophie und vor dem Christentum verortet, kennt noch keine echte Jenseitsperspektive; Grethlein, postchristlicher Spätling, kennt sie nicht mehr (obwohl er gelegentlich schwache Versuche zum Gebet unternimmt). Ihnen beiden bietet sich der Tod in seiner nackten Grässlichkeit dar.
Als Odysseus lang nach dem Trojanischen Krieg den toten Achill aus dem Hades beschwört und ihn fragt, wie es dort unten so sei, antwortet ihm der Beschworene (und Grethlein unterlässt nicht, es zu zitieren): „Ach Odysseus, lieber wäre ich auf Erden der letzte meiner Taglöhner als der König des Totenreichs.“
Der Tod ist, was keinen Trost zulässt und doch mit Würde getragen werden kann: Darin stimmen das älteste und das jüngste Denken überein. Grethlein testet auch das Buch Hiob und Heidegger (dem er sich gern anvertrauen würde, der ihn aber durch seinen Jargon abstößt); doch diese geläufigeren Referenzen haben ihm letztlich weniger zu bieten als die „eisige Luft“, in der sich der Achill der Ilias bewegt.
Grethlein hat mit seinem Krebs inzwischen mehr als ein Jahrzehnt überstanden. Das gibt Anlass zur Hoffnung; eine Garantie ist es nicht, jeder Tag kann die Wende zum Schlimmen bringen.
Und so muss man, trotz des Argwohns, den der grandiose Titel weckt, zum Schluss sagen: Doch, es geht, hier hat der Augenblick der akuten Krise eine alte – die älteste – Überlieferung zu einer neuen Perspektive geführt. So funktioniert idealerweise Tradition.
BURKHARD MÜLLER
Grethlein hat mit der Krankheit
inzwischen mehr als
ein Jahrzehnt überstanden
Jonas Grethlein: Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben. C.H. Beck, München 2022.
208 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Altphilologe Jonas Grethlein erkrankt an Krebs und sieht Homers „Ilias“ mit neuen Augen
Dieses Buch beginnt mit einer Anmaßung: „Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben“ nennt der klassische Philologe Jonas Grethlein, der in Heidelberg lehrt, sein – ja, was? Am ehesten ist es wohl das, was man seit einiger Zeit Memoir nennt, im Singular und im Gegensatz zu den alten geruhsamen Memoiren im Plural. Mit diesem „Mein“ setzt er sich selbst noch vor den Namen des berühmtesten westlichen Helden aller Zeiten; und im Untertitel macht er klar, dass er sich jedenfalls nicht mit Kleinigkeiten aufhalten wird. Man darf also gespannt sein.
Der Autor, aus einer Gelehrtenfamilie stammend, schlägt selbst früh und mit Entschiedenheit diesen Weg ein. Mit nur 27 Jahren habilitiert er sich (über Homers „Ilias“, was sonst), geht an eine amerikanische Universität, lebt rasant und als ob am strahlenden Gelingen seines Lebens kein Zweifel möglich wäre. Da trifft ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Diagnose: Blasenkrebs. Auf einmal ist der Tod, den er wie alle zuvor nur vom Hörensagen kannte, ganz nah. Der Autor-Erzähler spricht ohne Rückhalt von seiner Angst und den so schmerzlichen wie beschämenden Eingriffen, die die Behandlung mit sich bringt. Unter dem unabweisbaren Zwang der Krankheit beginnt er das ihm vertrauteste Buch, eben die „Ilias“ des Homer, nun mit ganz anderen Augen zu lesen.
Angelpunkt seiner Lektüre, Grethlein zitiert dabei dankenswerterweise statt aus der zu Unrecht hochgeschätzten hexametrischen Ilias-Version von Voss, aus der jüngeren, freirhythmischen, archaisch-lebendigen Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, ist die Figur des Achill. Das liegt einerseits auf der Hand, denn die Ilias führt sich gleich im ersten Vers als das Lied vom Zorn des Achilleus ein. Andererseits aber muss man es doch eine ungewöhnliche Entscheidung nennen, denn Achill erscheint heute als der Fremdeste in diesem großen Aufgebot von Helden, fremder als der gewitzte Odysseus, der überforderte Heerführer Agamemnon, der verantwortungsbewusste Hektor.
Hektor vor allem, der kämpft, nicht weil er will, sondern weil er muss, um seine Mitbürger und seine Familie zu schützen, scheint die schlechthin gegenwartstaugliche Heldenfigur zu sein; Hektor, der, als er zum letzten Mal seiner Frau und seinem kleinen Sohn auf den Mauern von Troja begegnet und das Kind vor dem großen Helmbusch erschrickt, den Helm abnimmt und in Lachen und Weinen zugleich ausbricht: Er ist der eigentliche Antipode des Achill, der in ungezügeltem Affekt auf dem Schlachtfeld rast und in seinem Autismus keinerlei Konventionen und Ansprüche gelten lässt. „Achill das Vieh“ ist das stehende Beiwort, mit dem ihn etwa Christa Wolf in ihrer „Kassandra“ bedacht hat. Grethlein gesteht: „Dass ein Geisteswissenschaftler sich im ‚Besten der Achaier‘ wiederfindet, mag ähnlich lächerlich klingen, wie wenn ehemalige Zivildienstleistende für Ernst Jüngers ‚Marmorklippen‘ schwärmen oder Bürgerskinder aus Zehlendorf und Winterhude sich für Gangsterrap begeistern (...).“ Und doch gibt es da einen schmalen, aber bedeutsamen Überschneidungsbereich: die Intensität des Wissens von der eigenen Sterblichkeit.
Achill hat die Wahl gehabt, ob er lieber ein langes Leben oder den Ruhm wolle, und sich ohne zu zögern für den Ruhm entschieden; immer mehr verdichten sich, noch während er gegen die Feinde wütet, die Hinweise auf seinen eigenen baldigen Tod, und er weicht ihm nicht aus. Nachdem Achill seine Entscheidung getroffen hat, laufen die Ereignisse so unberechenbar und weitgehend unbeeinflussbar ab wie eine Krebserkrankung.
Grethlein spricht (und das wird zum Schlüsselwort, das ihn und Achill zusammenkettet) von „Schicksalskontingenz“: Das Wichtigste überhaupt, das eigene Leben und Überleben, hängt von Dingen ab, die keine tiefere Notwendigkeit besitzen, aber mit unwidersprechlicher Gewalt ihr Urteil fällen.
Und noch etwas verbindet die beiden durch drei Jahrtausende getrennten und verbundenen Schicksalsgenossen: Achill, vor der griechischen Philosophie und vor dem Christentum verortet, kennt noch keine echte Jenseitsperspektive; Grethlein, postchristlicher Spätling, kennt sie nicht mehr (obwohl er gelegentlich schwache Versuche zum Gebet unternimmt). Ihnen beiden bietet sich der Tod in seiner nackten Grässlichkeit dar.
Als Odysseus lang nach dem Trojanischen Krieg den toten Achill aus dem Hades beschwört und ihn fragt, wie es dort unten so sei, antwortet ihm der Beschworene (und Grethlein unterlässt nicht, es zu zitieren): „Ach Odysseus, lieber wäre ich auf Erden der letzte meiner Taglöhner als der König des Totenreichs.“
Der Tod ist, was keinen Trost zulässt und doch mit Würde getragen werden kann: Darin stimmen das älteste und das jüngste Denken überein. Grethlein testet auch das Buch Hiob und Heidegger (dem er sich gern anvertrauen würde, der ihn aber durch seinen Jargon abstößt); doch diese geläufigeren Referenzen haben ihm letztlich weniger zu bieten als die „eisige Luft“, in der sich der Achill der Ilias bewegt.
Grethlein hat mit seinem Krebs inzwischen mehr als ein Jahrzehnt überstanden. Das gibt Anlass zur Hoffnung; eine Garantie ist es nicht, jeder Tag kann die Wende zum Schlimmen bringen.
Und so muss man, trotz des Argwohns, den der grandiose Titel weckt, zum Schluss sagen: Doch, es geht, hier hat der Augenblick der akuten Krise eine alte – die älteste – Überlieferung zu einer neuen Perspektive geführt. So funktioniert idealerweise Tradition.
BURKHARD MÜLLER
Grethlein hat mit der Krankheit
inzwischen mehr als
ein Jahrzehnt überstanden
Jonas Grethlein: Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben. C.H. Beck, München 2022.
208 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Das Buch der Stunde"
Die WELT, Andreas Rosenfelder
"Ja, das ist ein Buch über die 'Ilias'. Und vielleicht eines der schönsten, die ich kenne."
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Ribi
"Die Erfahrung der Erkrankung wird für Grethlein Ausgangspunkt und Grundierung einer ganz persönlichen Interpretation von Homers 'Ilias' ... ein eindrückliches Beispiel, in Literatur Orientierung und Halt zu finden"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Philip Schäfer
"In seinem schmalen Buch ..., das man schon nach den ersten Sätzen in einem Zug verschlingen will, gelingt Jonas Grethlein etwas, das selten geworden ist in der deutschen Wissenschaft ...: Er zeigt die Verwobenheit von Leben und Wissen, so wie es die großen Hermeneutiker des 19. und 20. Jahrhunderts taten."
Literarische Welt, Andreas Rosenfelder
"Sieht Homers ,Ilias' mit neuen Augen"
Süddeutsche Zeitung, Burkhard Müller
"Ein ungewöhnlicher Ansatz, aufschlussreich, einfühlsam und beispielhaft, wie Literatur Halt in schweren Zeiten bieten kann."
Wiener Zeitung, Christina Mondolfo
"Bewegendes wie wunderbar hoffnungsvolles Buch"
Kieler Nachrichten, Sebastian Fischer
"Erforscht ... unsere existenzielle Verletzlichkeit."
FOCUS
Die WELT, Andreas Rosenfelder
"Ja, das ist ein Buch über die 'Ilias'. Und vielleicht eines der schönsten, die ich kenne."
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Ribi
"Die Erfahrung der Erkrankung wird für Grethlein Ausgangspunkt und Grundierung einer ganz persönlichen Interpretation von Homers 'Ilias' ... ein eindrückliches Beispiel, in Literatur Orientierung und Halt zu finden"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Philip Schäfer
"In seinem schmalen Buch ..., das man schon nach den ersten Sätzen in einem Zug verschlingen will, gelingt Jonas Grethlein etwas, das selten geworden ist in der deutschen Wissenschaft ...: Er zeigt die Verwobenheit von Leben und Wissen, so wie es die großen Hermeneutiker des 19. und 20. Jahrhunderts taten."
Literarische Welt, Andreas Rosenfelder
"Sieht Homers ,Ilias' mit neuen Augen"
Süddeutsche Zeitung, Burkhard Müller
"Ein ungewöhnlicher Ansatz, aufschlussreich, einfühlsam und beispielhaft, wie Literatur Halt in schweren Zeiten bieten kann."
Wiener Zeitung, Christina Mondolfo
"Bewegendes wie wunderbar hoffnungsvolles Buch"
Kieler Nachrichten, Sebastian Fischer
"Erforscht ... unsere existenzielle Verletzlichkeit."
FOCUS