"Schon die Entgeisterung in meinem Umfeld, als ich auf mein erstes Udo-Jürgens-Konzert ging! Kaum etwas in meinem Leben hat zu so ambivalenten Reaktionen geführt" - so erinnert sich Andreas Maier, als er zum ersten Mal Udo Jürgens live erlebte. Im November 2014 besuchte er in Frankfurt zum letzten Mal eines von dessen Konzerten. In seinem Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, "wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss". Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat, ein Jahr lang erschien seine Kolumne auf dem Logbuch des Suhrkamp Verlags unter dem Titel "Mein Jahr ohne Udo Jürgens". Nach einem Jahr der intensiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen UJ diagnostizierte er in seiner letzten Kolumne im Dezember 2015: "Jetzt weiß ich: Die Musik von Udo Jürgens wäre sofort peinlich, hätte sie ein anderer gemacht, ein Nachgeborener, einer, der nicht diese langen Zeiten überbrücken kann, sondern post festum plagiiert. Udo-Jürgens-Musik setzte immer voraus, dass sie Udo Jürgens machte."
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Christian Thomas hält diesen abseits von der großen Wetterau-Saga des Autors als Suhrkamp-Logbuch entstandenen Text von Andreas Maier keinesfalls für ein Nebenwerk. Im Gegenteil scheint ihm der Autor hier grundsätzlich und von der Sprache her nicht nur ein radikales Bekenntnis zu Udo Jürgens zu formulieren, sondern auch gleich eins zum Strukturalismus. Dadaistisch und "strukturböse" kann Maier werden in seiner "Jürgens-Stochastik", warnt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2015Die Nicht-Partei
Der Schriftsteller Andreas Maier hat Udo Jürgens ein liebevolles Buch gewidmet
Als vor einem Jahr, am 21. Dezember 2014, Udo Jürgens starb, es war der vierte Advent, saß der Schriftsteller Andreas Maier an seinem Stammtisch in der "Buchscheer", einer Apfelweinwirtschaft in Frankfurt am Main. "Sehen wir uns vorher noch?", hatten ihn, wie jedes Jahr vor Weihnachten, all jene gefragt, denen er in diesen Tagen über den Weg gelaufen war, ganz so, als gäbe es kein Danach, was dazu geführt hatte, dass er vor dem 24. Dezember eigentlich Tag für Tag in der Wirtschaft saß und Freunde sah. Der 21. Dezember 2014 war also ein "Tag des Hineinfeierns, des Auf-Weihnachten-zu-Feierns, des ,Sehen wir uns vorher noch'-Feierns" - als um 18.11 Uhr sein Telefon brummte und er zwei Nachrichten bekam. Die erste lautete: "Er ist tot." Die zweite lautete: "Udo Jürgens ist tot." Allein die erste aber hätte gereicht. Beim Blick auf die Absenderin war klar, dass "Er" niemand anderes als Udo Jürgens sein konnte, der an diesem Tag bei einem Spaziergang in der Schweiz zusammengebrochen war. Die Nachricht verbreitete sich in der "Buchscheer". An den Tischen fingen sie an, die Lieder zu singen. Es war historisch, und jeder wusste es: "Etwas Großes war gegangen."
Andreas Maier, das muss man wissen, gehört nicht gerade zu denen, die früher schon Udo Jürgens gehört haben. Er und seine Freunde, Anfang der achtziger Jahre war das, hörten selbstverständlich Led Zeppelin, Deep Purple, Motörhead oder Pink Floyd, weil das "unsere Musik" war, "gute Musik", die "für etwas stand", ein "Lebensgefühl oder was auch immer". Und fünfzig Meter weiter saß eine andere Gruppe, die Gegengruppe, und hörte Zeug, von dem Maier und seine Freunde meinten, dass kein Mensch sich das anhören konnte, also Sweet oder Smokie oder T. Rex. Sie hörten es allerdings aus denselben Gründen, weil es "ihre Musik", ihr "Lebensgefühl" war. "Lebensgefühl ist einfach immer Scheiße. Lebensgefühl ist immer Verarsche. Bei Lebensgefühl glaubt man immer, es gehe um Freiheit, aber es geht immer ums Geld", stellt Andreas Maier rückblickend fest und sieht sich die Plattenfirmenbosse von damals die Hände reiben. Aber das ist nicht der Punkt.
Der Punkt ist, dass er die Gruppensituation von damals nimmt, um zu begreifen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass Udo Jürgens in seinem Leben lange gar nicht vorkam. Die Musik von Udo Jürgens, sagt er, habe zu den Dingen, aus denen sich Gruppenzugehörigkeit, Identifikation und Abgrenzung bilden, nämlich nie beigetragen. Sie war immer vollendeter Mainstream. Weil sie für gar nichts Besonderes stand, hatte man den interpretatorischen Umweg erfunden, die Udo-Jürgens-Musik als Schlagermusik abzutun, also als Musik für diejenigen, "die das hören, was man nicht nur selbst nicht hört, sondern gegen das man sich nicht einmal abgrenzen muss, weil es sowieso nicht infrage kam". Deshalb wurde Udo Jürgens nicht gehört. Und diejenigen, die - wie Andreas Maier - später im Leben zu ihm hingingen, machten das vermutlich nicht zuletzt, um "vor dem üblichen Parteiungs-Schwachsinn" einfach mal ihre Ruhe zu haben: "Udo Jürgens, die komplette Nicht-Partei."
"Mein Jahr ohne Udo Jürgens" heißt das Buch zum ersten Todestag, das aus einer Kolumne hervorgegangen ist, die Maier im Logbuch des Suhrkamp-Verlags veröffentlicht hat. Es ist ein sehr schönes Buch, eines, das mit charmanter Beiläufigkeit daherkommt. Ein Buch, das man eine Liebeserklärung an Udo Jürgens nennen kann, das sich aber nicht als Beichte versteht. An keiner Stelle hat man den Eindruck, Andreas Maier wolle gestehen (oder sich ironisch davon distanzieren), dass er Udo Jürgens toll findet.Völlig unironisch findet er ihn toll und versucht zu fassen, was das genau ist, was er da so mag. Eine Art Selbst-Gespräch ist "Mein Jahr ohne Udo Jürgens" deshalb und die Beschreibung jenes Schlüsselmoments, als der Autor das erste Mal "Mein Bruder ist ein Maler" hört und nichts mehr zwischen ihm und dem Lied zu stehen scheint, die Vermittlungsstufen fehlen, und er (immerzu ist Apfelwein im Spiel) in Tränen ist am Ende dieses Lieds.
Dass Maier, wenn er in mehreren Kapiteln eine "Merci Chérie"-Exegese betreibt, ein bisschen ins Oberseminarhafte abdriftet und ihm ab und zu auch diese für das Oberseminar typischen Nonsens-Sätze unterlaufen ("Der Koitus ist hier aber gedacht als etwas, in dem beide Personen sich in gegenseitiger Offenheit, des gesellschaftlichen Rollenspiels entkleidet, als Menschen in ihrem Eigenwert überhaupt erst wirklich begegnen können, und zwar gerade aufgrund des beide Personen gleichermaßen auf Augenhöhe würdigenden Vertragsabschlusses"), man also einfach nur denkt: "Hä?" - dann stört das. Immerhin vergisst man diese Sätze aber schnell, weil beim Weiterlesen die schönen Beobachtungen überwiegen.
Etwa wenn der Autor die Menschen im Publikum eines Udo-Jürgens-Konzerts beschreibt, die man "an gar nichts" erkennt, weil es alle sein können. Wenn er erzählt, wie auf einem dieser Konzerte, obwohl es in Udo-Jürgens-Liedern nie um Sex geht (und übrigens auch nicht um Tod), es ihm so vorkommt, als wollten noch während dieses Konzerts alle unbedingt sofort mit irgendwem ins Bett, auch wenn sie das vielleicht schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gemacht hatten oder bislang noch nie.
Oder wenn er den letzten Auftritt von Udo Jürgens zusammen mit Helene Fischer beschreibt, die bei der Show zu seinem achtzigsten Geburtstag für ihn "eine Art Hochleistungssport-Variante" von "Merci Chérie" sang, eine Version, die eigentlich zeigte, dass sie nicht wirklich wusste, wovon sie da sang - während Udo Jürgens auf der Bühne einfach nur sehr verknallt war in Helene Fischer.
JULIA ENCKE
Andreas Maier: "Mein Jahr ohne Udo Jürgens". Suhrkamp-Verlag, 220 Seiten, 17,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller Andreas Maier hat Udo Jürgens ein liebevolles Buch gewidmet
Als vor einem Jahr, am 21. Dezember 2014, Udo Jürgens starb, es war der vierte Advent, saß der Schriftsteller Andreas Maier an seinem Stammtisch in der "Buchscheer", einer Apfelweinwirtschaft in Frankfurt am Main. "Sehen wir uns vorher noch?", hatten ihn, wie jedes Jahr vor Weihnachten, all jene gefragt, denen er in diesen Tagen über den Weg gelaufen war, ganz so, als gäbe es kein Danach, was dazu geführt hatte, dass er vor dem 24. Dezember eigentlich Tag für Tag in der Wirtschaft saß und Freunde sah. Der 21. Dezember 2014 war also ein "Tag des Hineinfeierns, des Auf-Weihnachten-zu-Feierns, des ,Sehen wir uns vorher noch'-Feierns" - als um 18.11 Uhr sein Telefon brummte und er zwei Nachrichten bekam. Die erste lautete: "Er ist tot." Die zweite lautete: "Udo Jürgens ist tot." Allein die erste aber hätte gereicht. Beim Blick auf die Absenderin war klar, dass "Er" niemand anderes als Udo Jürgens sein konnte, der an diesem Tag bei einem Spaziergang in der Schweiz zusammengebrochen war. Die Nachricht verbreitete sich in der "Buchscheer". An den Tischen fingen sie an, die Lieder zu singen. Es war historisch, und jeder wusste es: "Etwas Großes war gegangen."
Andreas Maier, das muss man wissen, gehört nicht gerade zu denen, die früher schon Udo Jürgens gehört haben. Er und seine Freunde, Anfang der achtziger Jahre war das, hörten selbstverständlich Led Zeppelin, Deep Purple, Motörhead oder Pink Floyd, weil das "unsere Musik" war, "gute Musik", die "für etwas stand", ein "Lebensgefühl oder was auch immer". Und fünfzig Meter weiter saß eine andere Gruppe, die Gegengruppe, und hörte Zeug, von dem Maier und seine Freunde meinten, dass kein Mensch sich das anhören konnte, also Sweet oder Smokie oder T. Rex. Sie hörten es allerdings aus denselben Gründen, weil es "ihre Musik", ihr "Lebensgefühl" war. "Lebensgefühl ist einfach immer Scheiße. Lebensgefühl ist immer Verarsche. Bei Lebensgefühl glaubt man immer, es gehe um Freiheit, aber es geht immer ums Geld", stellt Andreas Maier rückblickend fest und sieht sich die Plattenfirmenbosse von damals die Hände reiben. Aber das ist nicht der Punkt.
Der Punkt ist, dass er die Gruppensituation von damals nimmt, um zu begreifen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass Udo Jürgens in seinem Leben lange gar nicht vorkam. Die Musik von Udo Jürgens, sagt er, habe zu den Dingen, aus denen sich Gruppenzugehörigkeit, Identifikation und Abgrenzung bilden, nämlich nie beigetragen. Sie war immer vollendeter Mainstream. Weil sie für gar nichts Besonderes stand, hatte man den interpretatorischen Umweg erfunden, die Udo-Jürgens-Musik als Schlagermusik abzutun, also als Musik für diejenigen, "die das hören, was man nicht nur selbst nicht hört, sondern gegen das man sich nicht einmal abgrenzen muss, weil es sowieso nicht infrage kam". Deshalb wurde Udo Jürgens nicht gehört. Und diejenigen, die - wie Andreas Maier - später im Leben zu ihm hingingen, machten das vermutlich nicht zuletzt, um "vor dem üblichen Parteiungs-Schwachsinn" einfach mal ihre Ruhe zu haben: "Udo Jürgens, die komplette Nicht-Partei."
"Mein Jahr ohne Udo Jürgens" heißt das Buch zum ersten Todestag, das aus einer Kolumne hervorgegangen ist, die Maier im Logbuch des Suhrkamp-Verlags veröffentlicht hat. Es ist ein sehr schönes Buch, eines, das mit charmanter Beiläufigkeit daherkommt. Ein Buch, das man eine Liebeserklärung an Udo Jürgens nennen kann, das sich aber nicht als Beichte versteht. An keiner Stelle hat man den Eindruck, Andreas Maier wolle gestehen (oder sich ironisch davon distanzieren), dass er Udo Jürgens toll findet.Völlig unironisch findet er ihn toll und versucht zu fassen, was das genau ist, was er da so mag. Eine Art Selbst-Gespräch ist "Mein Jahr ohne Udo Jürgens" deshalb und die Beschreibung jenes Schlüsselmoments, als der Autor das erste Mal "Mein Bruder ist ein Maler" hört und nichts mehr zwischen ihm und dem Lied zu stehen scheint, die Vermittlungsstufen fehlen, und er (immerzu ist Apfelwein im Spiel) in Tränen ist am Ende dieses Lieds.
Dass Maier, wenn er in mehreren Kapiteln eine "Merci Chérie"-Exegese betreibt, ein bisschen ins Oberseminarhafte abdriftet und ihm ab und zu auch diese für das Oberseminar typischen Nonsens-Sätze unterlaufen ("Der Koitus ist hier aber gedacht als etwas, in dem beide Personen sich in gegenseitiger Offenheit, des gesellschaftlichen Rollenspiels entkleidet, als Menschen in ihrem Eigenwert überhaupt erst wirklich begegnen können, und zwar gerade aufgrund des beide Personen gleichermaßen auf Augenhöhe würdigenden Vertragsabschlusses"), man also einfach nur denkt: "Hä?" - dann stört das. Immerhin vergisst man diese Sätze aber schnell, weil beim Weiterlesen die schönen Beobachtungen überwiegen.
Etwa wenn der Autor die Menschen im Publikum eines Udo-Jürgens-Konzerts beschreibt, die man "an gar nichts" erkennt, weil es alle sein können. Wenn er erzählt, wie auf einem dieser Konzerte, obwohl es in Udo-Jürgens-Liedern nie um Sex geht (und übrigens auch nicht um Tod), es ihm so vorkommt, als wollten noch während dieses Konzerts alle unbedingt sofort mit irgendwem ins Bett, auch wenn sie das vielleicht schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gemacht hatten oder bislang noch nie.
Oder wenn er den letzten Auftritt von Udo Jürgens zusammen mit Helene Fischer beschreibt, die bei der Show zu seinem achtzigsten Geburtstag für ihn "eine Art Hochleistungssport-Variante" von "Merci Chérie" sang, eine Version, die eigentlich zeigte, dass sie nicht wirklich wusste, wovon sie da sang - während Udo Jürgens auf der Bühne einfach nur sehr verknallt war in Helene Fischer.
JULIA ENCKE
Andreas Maier: "Mein Jahr ohne Udo Jürgens". Suhrkamp-Verlag, 220 Seiten, 17,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dieses Buch ist das richtige Geschenk für alle, die damals geweint haben.«
Kolja Mensing, Deutschlandfunk Kultur 03.12.2015
Kolja Mensing, Deutschlandfunk Kultur 03.12.2015