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Bulat Okudschawa (1924-1997) war ein regimekritischer Moskauer Dichter, Chansonnier und Schriftsteller. Sein Vater wurde unter Stalin als angeblicher Trotzkist erschossen, die Mutter verbrachte achtzehn Jahre in den Lagern Sibiriens.Ende der 1950er Jahre begann Bulat Okudschawa, seine Gedichte zur Gitarre vorzutragen. Mit Bella Achmadulina, Jewgenij Jewtuschenko und Andrej Wosnesenskij wurde er zum Sprachrohr der Tauwettergeneration. Seine Lieder behandeln unter anderem das staatlich tabuisierte Leid der Stalinzeit und des Krieges. Sie wurden nachgesungen und von Tonband zu Tonband überspielt…mehr

Produktbeschreibung
Bulat Okudschawa (1924-1997) war ein regimekritischer Moskauer Dichter, Chansonnier und Schriftsteller. Sein Vater wurde unter Stalin als angeblicher Trotzkist erschossen, die Mutter verbrachte achtzehn Jahre in den Lagern Sibiriens.Ende der 1950er Jahre begann Bulat Okudschawa, seine Gedichte zur Gitarre vorzutragen. Mit Bella Achmadulina, Jewgenij Jewtuschenko und Andrej Wosnesenskij wurde er zum Sprachrohr der Tauwettergeneration. Seine Lieder behandeln unter anderem das staatlich tabuisierte Leid der Stalinzeit und des Krieges. Sie wurden nachgesungen und von Tonband zu Tonband überspielt und erreichten ein Millionenpublikum. Bulat Okudschawa war mit vielen Dissidenten befreundet und ein wichtiger Vorbereiter von Glasnost und Perestroika.In der DDR und bis heute haben sich vor allem Wolf Biermann sowie Ekkehard Maaß als Übersetzer, Interpreten und Freunde um Bulat Okudschawa und sein Werk verdient gemacht. Das Buch erscheint zu dessen hundertstem Geburtstag und enthält fünfzig seiner bekanntesten Lieder und Gedichte.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Auch hundert Jahre nach seinem Geburtstag hat der Dichter und Dissident Bulat Okudschawa seine Aktualität bewahrt, meint Christiane Pöhlmann. Die Neuübersetzung einiger seiner Gedichte sei trotz der großen Herausforderung, die Okudschawas zungenbrecherische Lyrik stellt, gelungen. In Zeiten von Paraden und Massenorchestrierung habe Okudschawa die kleine Form gewagt, habe mit seiner Gitarre eine vom System geraubte Intimität zu artikulieren gewusst. Das könne heute nicht anders sein, gibt Pöhlmann, ein zentrales Motiv von Okudschwas Lyrik andeutend, zu denken und fragt sich, ob am 9. Mai, zu dessen Geburtstag, in einem russischen Haushalt wohl jemand seine Gitarrenakkorde erklingen lassen werde.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2024

Aus der Küche auf die Bühne
Zum hundertsten Geburtstag ist Bulat Okudschawa unverändert aktuell: "Mein Jahrhundert" versammelt Texte des russischen Sängers

Schon das Instrument ist Ausdruck des Protests: die Gitarre, das "Verdächtige Instrument", wie Bulat Okudschawa einen Prosatext betitelt, in dem sich sein Alter Ego hinter dem Allerweltsnamen Iwan Iwanowytsch versteckt. Dieser Iwan beherrscht auf der Klampfe gerade mal drei Akkorde, was verzeihlich gewesen wäre, hätte er sich nicht zu deutlich schlimmeren Fehlgriffen hinreißen lassen, indem er "erstens über sich sang, über mehr nicht, und zweitens sehr traurig sang, weil es viel Grund für Traurigkeit gab", noch dazu in Liedern mit viel Doppeldeutigkeit und Tod, aber wenig bedingungslosem Glauben. Mit diesen Untaten legte Okudschawa selbst mit Mitte dreißig los, als er zunächst in verqualmten Moskauer Küchen, später in den kurzen Tauwetterzeiten auf großen Bühnen seine vertonten Gedichte darbot.

Im Zuge der ersten Rehabilitationen nach der Stalinzeit kam es allen Ernstes zu einer Wiederanerkennung der Gitarre, die in "der UdSSR der 30er und 40er Jahre", wie Katja Lebedewa in einem kurzen Abriss zum Genre der Gitarrenlyrik am Ende von Bulat Okudschawas "Mein Jahrhundert - Lieder und Gedichte" schreibt, "als Symbol des Zigeunertums und der Gaunerwelt offiziell verfemt worden" war. Doch auch die kabarettistische Tradition dürfte nicht gerade Anklang gefunden haben bei den "Parteigrößen". Im deutschen Sprachraum ist an eine Linie von Frank Wedekind mit seiner scharfen Zunge bis hin zum sogenannten Blödelbarden Otto Waalkes zu denken, dessen Texte oft genug von Absolventen der Neuen Frankfurter Schule stammten.

In der UdSSR war es Bulat Okudschawa, der 1956 in dem Gedicht "Wahre Menschen gibt es sehr wenig" für Russland nur einen einzigen benennt: seine Mutter. Es war auch Wladimir Wyssozki, der in seinen Liedern stilistisch radikaler war als Okudschawa, ruppiger noch, Umgangssprache ebenso aufnahm wie Jargon und dessen Beerdigung während der Olympischen Spiele von 1980 in Moskau einmal mehr zu einer Manifestation nicht nur der Trauer und des Schmerzes, sondern auch der politischen Position wurde. Und es war Jewgeni Jewtuschenko, kein Sänger, aber ein stadienfüllender Lyriker, der 1961 in seinem Gedicht "Babyn Jar" erstmals den Antisemitismus in der UdSSR zur Sprache brachte.

Die Tonbandrevolution ermöglichte eine Verbreitung der Werke jener Barden, die in einer offiziell massenverzückten Gesellschaft allein mit Gitarre auftraten und damit vor großem Publikum das "Geheimnis der Intimität" wahrten. Und Okudschawa hatte jede Menge Grund, traurig zu sein. Sein Vater wurde 1937 hingerichtet, seine Mutter zu insgesamt achtzehn Jahren Lager verurteilt. Beide glühten im kommunistischen Elan, waren, wie Ekkehard Maaß in "Mein Jahrhundert" schreibt, zuvor selbst in Verbrechen der Tscheka verstrickt. Durch diese Urteile wurde Okudschawa als Teenager zum "Sohn eines Volksfeindes", ein "Makel", den er 1942 loswerden wollte, indem er sich zur Armee meldete. Ob er da bereits durchschaut hatte, dass er einem Rechtssystem gegenüberstand, das nicht Tat oder Untat des Einzelnen verfolgt, sondern Kinder für Eltern haften lässt und umgekehrt?

Nach dem Krieg zog er zu einer Tante in Tbilissi und machte Abitur. Er arbeitete als Lehrer, dichtete, schauspielerte, schriftstellerte - die übliche kreative Gemengelage. In seinen historischen Romanen geht es um Revolutionsbegeisterung samt anschließender Enttäuschung, allen voran in "Begegnung mit Bonaparte". Nimmt man dazu noch seine Aussage, das Heute habe viel mit dem Gestern gemeinsam, denn "hartnäckig wiederholen wir uns selbst", oder die letzte Zeile aus dem Gedicht "Kaum dass ich ein wenig schlummere", 1979 bereits unter Breschnew entstanden, in der es heißt: "Stalins Schuld ist unerreicht", dürfte klar sein, warum den "Parteigrößen" bedingungsloser Glaube in seinen Gedichten fehlte. Da er 1968 obendrein politisch eindeutige Protestnoten gegen den Einmarsch in Prag unterschrieb, musste er bald zurück in die Küche. Mit der Perestroika erlebte er seine Rehabilitation, Jelzin holte ihn in seine Begnadigungskommission.

Was ihn neben der Trauer prägte, war der "Hoffnung winziges Orchester", das sich, ebenfalls zum Missfallen der "Parteigrößen", in Ironie ausdrückte. In "Mein Jahrhundert" versammelt Maaß (zweisprachig) Evergreens wie die Lieder zum Arbat. Diese Moskauer Straße - und nicht etwa die große Sowjetunion - war Okudschawa Heimat und Zuhause. Maaß hat die meisten Gedichte selbst übersetzt und einige kommentiert, Wolf Biermann neben Lebedewa einen Text beigesteuert, Moritz Götze Illustrationen, wobei die persönlichen Reminiszenzen großen Gewinn bedeuten.

Bei den deutschen Fassungen hat sich Maaß gut geschlagen, denn Okudschawas Lyrik ist mühelos zu verstehen, aber verdammt schwer zu übersetzen: So paradox es klingt, aber gerade Werke, die sprachlich unambitioniert daherkommen, bergen oft die größten Herausforderungen. Zungenbrecherische Zeilen gehen bei ihm mitunter verloren, aus "Kashdy pischet, kak on slyschit, / kashdy slyschit, kak on dyschit, / kak on dyschit, tak i pischet, / ne starajas ugodit . . ." wird: "Jeder schreibt, so wie er hört, / Jeder hört, so wie er atmet, / Wie er atmet, so auch schreibt er, / Nicht bemüht, jemandem zu gefallen." Kurt Demmler hatte da eine stärkere Orientierung am Lautlichen gewagt: "Denn man dichtet, was man sichtet. / Und man sichtet, wie mans lichtet. / Wie mans lichtet, so mans dichtet, / ganz egal, störts andre hier."

Die Gedichte (oder Lieder) sind chronologisch angeordnet, umspannen die Jahre von 1956 bis 1985. Neben zeit- und ortloser Schönheit wie in der letzten Strophe vom "Mitternachtstrolleybus" in der Übertragung von Sarah Kirsch: "Zu Mitternacht schwimm, blauer Bus, deinen Kreis! / Wird's hell, gleich verläuft sich das Wasser, / und Vogel Schmerz aus der Schläfe ist leis / verflogen, / verflogen" finden sich Zeilen von bedrückender Aktualität: "Und wieder stampfen Stiefel durch das Land. / Die Vögel sind verstört und fliegen auf. / Und Frauen schauen unterm Schirm der Hand / Den kahl geschorenen, runden Köpfen nach."

Der unbeugsame Bulat Okudschawa wurde vor hundert Jahren, am 9. Mai, der später als Tag des Sieges in die Geschichte der Sowjetunion eingehen sollte, geboren. Ob in der einen oder anderen russischen Küche morgen jemand seine drei Akkorde auf der Gitarre anstimmt? CHRISTIANE PÖHLMANN

Bulat Okudschawa: "Mein Jahrhundert". Lieder und Gedichte.

Lukas Verlag, Berlin 2024. 136 S., br., 20,- Euro.

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