Augustin Feinlein, Chef des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Scherblingen, weiß, was Älterwerden bedeutet. Ab dreiundsechzig hat er mit dem Zählen der Geburtstage aufgehört und sein Lebenscredo gefunden: "Glauben heißt lieben." Scherblingen war bis 1803 ein Kloster. Der letzte Abt war ein Vorfahr von Augustin Feinlein. Der hat, als er noch ein junger Arzt war, ein Seminar besucht, um sein Latein zu verbessern. Im Seminar unangefochtene Beste war Eva Maria Gansloser. Die beiden sind dann so gut wie verlobt. Aber Eva Maria heiratet den Grafen Wigolfing, der an der Eiger Nordwand erfriert. Darauf heiratet sie den 18 Jahre jüngeren Dr. Bruderhofer. Das erregende Moment: Dr. Bruderhofer ist Oberarzt unter Augustin Feinlein. Eva Maria schickt gelegentlich Postkarten, die Feinlein sagen sollen, sie könne ihn so wenig vergessen wie er sie. Kann er das glauben? Er glaubt es. "Eine Sekunde Glauben ist mit tausend Stunden Zweifel und Verzweiflung nicht zu hoch bezahlt." So Feinlein. Und:
"Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt." Das wird zu Feinleins Daseinsgefühl. Der Vorfahr hat geschrieben, es sei nicht wichtig, ob die Reliquien, an die die Menschen glauben, echt sind. Augustin Feinleins Jenseits entsteht durch Glaubensleistungen. Und vom Vorfahr hat er gelernt: "Wir glauben mehr als wir wissen." Das ist der Kernsatz dieser Lebensgeschichte.
"Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt." Das wird zu Feinleins Daseinsgefühl. Der Vorfahr hat geschrieben, es sei nicht wichtig, ob die Reliquien, an die die Menschen glauben, echt sind. Augustin Feinleins Jenseits entsteht durch Glaubensleistungen. Und vom Vorfahr hat er gelernt: "Wir glauben mehr als wir wissen." Das ist der Kernsatz dieser Lebensgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2010Literatur I Ja, er wird langsam komisch, Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein, Chef des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Scherblingen und Held von Martin Walsers jüngster Novelle "Mein Jenseits" (Berlin University Press, 120 Seiten, 19,90 Euro). Sehr komisch. Aber zum Glück, dort unten am Bodensee, da gibt es noch eine Art Kultur im Umgang mit Komischwerdenden. Man schätzt die Komischwerdenden, berichtet sich untereinander ihre neuesten Komischkeiten, und am Ende kommen alle zur Beerdigung des Komischen. Um unseren Feinlein steht es nicht gut: Eva Maria, die aus der Ferne geliebte ein Leben lang, nimmt ihn nicht ernst, sein Todfeind hat sie bekommen, jetzt will der auch noch seinen Job. Feinlein sucht sein Glück im Glauben, einem entschlossenen Wunsch-Glauben: "Egal ob es Gott gibt oder nicht, ich brauche ihn." Und er begeht - eine religiöse Wahnsinnstat. Ein Werk in wilder Altersfreiheit. Sehr komisch.
vw
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Arno Widmann preist es als "Glück" für Autor und Leser, dass Martin Walser als etablierter Schriftsteller ungestört von besserwisserischen Lektoren so schreiben kann, wie er lustig ist. Seine neue Novelle kümmert sich dann auch nicht um die Gesetze des Genres, sondern erzählt, wie der Rezensent feststellt, die Geschichte als eine sich notwendig aus der Erzählsituation ergebende. Und die dreht sich, wie uns Widmann erklärt, um den Raub einer Reliquie und wird mit allerhand jenseitigen Gedanken, mal im Ernst und mal mit viel Ironie und Spiellust ausgepolstert. Wegen allerlei mysteriösen Begegnungen in dieser Novelle über das "Älter- und Altwerden" kommt es dem Rezensenten in den Sinn, dass Walser sich mit diesem Buch vielleicht vor der durch ihren Hang zur Mystik bekannten Suhrkamp-Chefin Ulla Berkewicz verbeugt. Aber dieser Gedanke des Rezensenten gerät ins Wanken, denn der in der Geschichte auftretende Tod beispielsweise entpuppt sich am Ende, nachdem ihn Walser mit "dicker Schminke" schon fast clownesk beschworen habe, als harmloser Reisender.
© Perlentaucher Medien GmbH
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