In der Reihe Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erscheint dieser Gedichtband von Charles Simic: Mit seinen lakonischen und trotzdem märchenhaften Gedichten und tragikkomischen Balladen ist der in Serbien geborene, in Amerika aufgewachsene und in New Hampshire lebende und lehrende Dichter Charles Simic zu einem der beliebtesten und am meisten übersetzten Dichter Amerikas geworden. Seine Verse von oft unheimlicher Spannung gehören längst zu den Klassikern moderner Poesie.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2007Tristesse und Glorie der Straße
Er wechselte einst die Sprache, damit noch mehr Mädchen seine Gedichte lesen können. Nun legt Charles Simic, der Meister der raffiniert gespaltenen Zunge, neue Scherze mit tieferer Bedeutung vor.
Von Harald Hartung
Ich mochte Amerika sofort", hat Charles Simic einmal bekannt: "Es war schrecklich hässlich und schön auf einmal." Das war offenbar die Initiation des sechzehnjährigen Immigranten, der eine Belgrader Kriegskindheit hinter sich hatte und vor sich die Verheißung einer Neuen Welt, in der alles möglich scheint - eben auch jene enorme literarische Karriere, die Simic 1990 zum Pulitzerpreis führte und jüngst auf den Posten des Poet Laureate der Vereinigten Staaten.
Dass er seine Muttersprache aufgab und amerikanisch schreibt, dafür liefert Simic eine Erklärung, die auf den ersten Blick entwaffnend naiv wirkt: "Als ich 1955 mit dem Dichten begann, waren alle Mädchen, denen ich meine Gedichte zeigen wollte, Amerikanerinnen. Und schon hatte es mich erwischt. Ich konnte nie mehr in meiner Muttersprache schreiben." Kein Scherz ohne tiefere Bedeutung. Simic wollte seine Gedichte nicht bloß den Mädchen zeigen, sondern einem größeren Publikum. Er blieb fleißig und wurde populär. Seine Gedichte füllen in den Originalausgaben etwa zwanzig Bände; und ein jedes von ihnen ist - nach des Autors Worten - eine Einladung zu einer Reise: "Wie im Leben reisen wir, um frische Ansichten zu sehen."
Hans Magnus Enzensberger, der Simic für den deutschen Sprachraum entdeckt und als Erster übersetzt hat, formulierte, was diese Lyrik so lebensvoll macht: "Seine Poesie", so schrieb er 1993 zu "Ein Buch von Göttern und Teufeln", "ist durch und durch vom amerikanischen Alltag getränkt, von der Tristesse und der Glorie der Straße." Simic liebt die Straßenszenen New Yorks. In "Grübelei im Rinnstein" (2000) werden sie ihm zu Epiphanien, die das Gewöhnliche geheimnisvoll machen. Ihm genügen drei strickende Frauen, um die Parzen zu evozieren. Der Schurz eines Metzgers ist die Karte der großen Kontinente des Blutes; eine Unbekannte, die ihm eine Semmel in die Hand drückt, wird zur Botin geheimen Wissens - die Weltstadt als Pandämonium.
In der von Wiebke Meier übersetzten neuen Auswahl "Mein lautloses Gefolge" erscheint der Dichter selbst als Anführer seiner Figuren: "Sie waren wie ein diskretes Gefolge / aus heimischen Engeln und Dämonen, / Die ich alle schon früher getroffen / Und seither fast vergessen hatte." In seinem "Selbstporträt im Bett" hält der Dichter für seine imaginären Besucher einen Stuhl bereit, "einen Stuhl aus Rattan, den ich im Sperrmüll fand". Das soll heißen: Unser Guru ist alles andere als elitär. Freilich hat dieser Stuhl Eigenheiten, die nicht jedem gefallen dürften: "Da, wo früher der Sitz war, war ein Loch, / Seine Beine wackelten, / Aber er sah immer noch würdevoll aus." Und der Dichter? Bei genauerer Betrachtung ist er nicht sonderlich auskunftsfreudig. Wir finden ihn, eine dicke Wollmütze über den Ohren, bei russischer Lektüre im Bett.
Umso erstaunlicher, dass Simic nun mit einem Buch kommt, das die denkbar gründlichste Aufklärung unserer Neugier verspricht. Unter dem Titel "Die Wahrnehmung des Dichters" handelt es von "Poesie und Wirklichkeit". Simic kokettiert ein wenig mit der Schwellenangst vor poetologischen Essays: "Wenn niemand mehr Dichtung liest, wie anscheinend sogar Leute meinen, die es besser wissen müssten, wer schert sich denn noch darum, Bücher über Dichtung zu lesen?" Wer auf diese Reservatio trifft, hat das Buch schon aufgeschlagen und sich festgelesen.
Es ist ein überaus erfrischendes Buch, ein kulinarisches Potpourri. Thomas Poiss hat es aus amerikanischen Ausgaben zusammengestellt und Texte, die bereits auf Deutsch vorlagen, neu übersetzt. Der Leser erfährt nicht bloß eine Menge über Poesie, sondern liest auch kluge und erinnerungsgesättigte Analysen über das vergangene Jugoslawien. Mehr noch: Simic ist auch ein verführerischer Gastrosoph. Ich habe noch nie so Schönes über Würste gelesen, nichts so Appetitanregendes über Tomaten. Die "Romanze in Wurst" lockt uns mit essbarer Poesie und macht uns - gegen alle Bedenken über Cholesterin-Werte - geneigt, dem Verein A.A.A.A.A. beizutreten, der "Association amicale des amateurs d'andoillettes authentiques". Und "Zerquetsch nicht die Tomaten!" ist mehr als ein freundschaftlicher Rat, es ist die Hymne über eine Frucht, deren aztekische Wurzel "toma-tl", das pralle Ding, auf den Liebesapfel führt.
Pomologie ist für Simic zugleich Poetologie. Zwar heißt es: "Die Zunge ist feinfühliger als das Wort", doch Simic fährt fort: "Wie die Dichter glaubt sie nicht an eine einzige Bedeutung. Steck dein Gesicht in die Schüssel, lautete der Rat meines Vaters." Es ist ein Rat, den auch der Poetologe beherzigt. Da ist er Koch und Gourmet zugleich. Er spricht von seiner "Küchenmetaphysik", sieht sich als "Mystiker meiner Bratpfanne" und bemerkt, man könne erstaunlich wohlschmeckende Gerichte aus den einfachsten Zutaten herstellen. Seine dichterischen Erkenntnisse lesen sich wie Küchengeheimnisse. "Dichtung hat mit Wiederholung zu tun, die niemals monoton wird."
Das gilt auch für das weite Feld von "Poesie und Wirklichkeit". Simic legt seine Quellen offen. Er weiß, dass unsere tiefsten Erfahrungen wortlos sind; dass es die Arbeit des Dichters ist, durch die Sprache auf das hinzuweisen, was nicht in Worte gefasst werden kann; dass also jede Dichtung Antidichtung ist. Simic nennt respektvoll Namen, doch sein großer Lehrer ist Vaco Popa. Er nennt ihn - nach Kafka, Borges, Michaux und Pound - den letzten großen Schöpfer. Popa erscheint fast als mythische Gestalt, als Riese, auf dessen Rücken sich der minor poet, der kleine Dichter hält.
Dieser charmiert uns durch sein Understatement, seinen Humor. Simic wundert sich, dass es ebenso viele Menschen ohne Humor gibt wie Menschen ohne ästhetischen Sinn. Er liebt die Invektiven, liebt die Entdeckung der schlimmen Wörter. Das Verlangen nach Respektlosigkeit habe ihn zum Dichten gebracht, das lyrische Gedicht sei oftmals die skandalöse Behauptung, und die Dichter waren immer schon Diebe. Und doch spüren wir, dass dieser freundliche und sensible Mann kein Schreckensmann ist. Ein Geständnis beim Lüften der Maske wollen wir indes sehr ernst nehmen: "Mein Leben ist meiner Dichtung ausgeliefert." In diese Frage spielt nicht bloß die Kriegskindheit des Dichters hinein, sondern auch "die unendlich gespaltene Zunge der Muttersprache", die für Kunst wie Leben folgenreiche Einsicht: "Zweisprachig zu sein bedeutet einzusehen, dass zwischen dem Namen und der Sache kein innerer Zusammenhang besteht. Es kann vorkommen, dass man sich in einem dunklen Loch zwischen den Sprachen wiederfindet." Das Paradox seiner Poesie will es, dass Simic aus ebendiesem Problem seine Stärken gewinnt, dass in das dunkle Loch zwischen den Sprachen seine Epiphanien hineinleuchten. Vielleicht kommen diese Bilder alle von einem frühen Urbild. Am Tag nach der Befreiung Belgrads trifft der Junge auf zwei tote deutsche Soldaten: "Ihre Stiefel waren weg, aber ein Helm war noch da, der zur Seite gefallen war." Das Kind wird zum Gespött der Familie: "Ein Kind, so dumm, dass es mit einem deutschen Helm voller Läuse herumspaziert. Sie krochen ja überall darauf herum! Ein Blinder hätte sie sehen können!"
Was heißt da Blindheit? Was heißt Sehen? Das Bild des verlausten Helms ist stärker als alle Erklärungen, alle Rationalisierungen, es ist ein Bild für ein Welterlebnis. Man begreift, was den Dichter an seine jugoslawische Herkunft bindet. Man begreift, wie der Schreibende auf das Finden von Bildern und Gestalten verwiesen wurde, die nur in einer zweiten Sprache erscheinen wollten. Poesie als Rettung, als letzte metaphysische Tätigkeit. Simic ist zu diskret, als dass er das metaphysische Problem in einen scherzhaften Ausruf kleidete: "Mist! Ich glaube an Bilder als Vehikel der Transzendenz, aber ich glaube nicht an Gott!" Ein sehr ernster Scherz, fast ein leiser Aufschrei. So groß kann ein minor poet sein.
- Charles Simic: "Die Wahrnehmung des Dichters". Über Poesie und Wirklichkeit. Ausgewählt u. übersetzt von Thomas Poiss. Edition Akzente. Carl Hanser Verlag, München 2007. 256 S., br., 21,50 [Euro].
- Charles Simic: "Mein lautloses Gefolge". Gedichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wiebke Meier. Carl Hanser Verlag, München 2006. 124 S., geb., 14,90 [Euro].
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Er wechselte einst die Sprache, damit noch mehr Mädchen seine Gedichte lesen können. Nun legt Charles Simic, der Meister der raffiniert gespaltenen Zunge, neue Scherze mit tieferer Bedeutung vor.
Von Harald Hartung
Ich mochte Amerika sofort", hat Charles Simic einmal bekannt: "Es war schrecklich hässlich und schön auf einmal." Das war offenbar die Initiation des sechzehnjährigen Immigranten, der eine Belgrader Kriegskindheit hinter sich hatte und vor sich die Verheißung einer Neuen Welt, in der alles möglich scheint - eben auch jene enorme literarische Karriere, die Simic 1990 zum Pulitzerpreis führte und jüngst auf den Posten des Poet Laureate der Vereinigten Staaten.
Dass er seine Muttersprache aufgab und amerikanisch schreibt, dafür liefert Simic eine Erklärung, die auf den ersten Blick entwaffnend naiv wirkt: "Als ich 1955 mit dem Dichten begann, waren alle Mädchen, denen ich meine Gedichte zeigen wollte, Amerikanerinnen. Und schon hatte es mich erwischt. Ich konnte nie mehr in meiner Muttersprache schreiben." Kein Scherz ohne tiefere Bedeutung. Simic wollte seine Gedichte nicht bloß den Mädchen zeigen, sondern einem größeren Publikum. Er blieb fleißig und wurde populär. Seine Gedichte füllen in den Originalausgaben etwa zwanzig Bände; und ein jedes von ihnen ist - nach des Autors Worten - eine Einladung zu einer Reise: "Wie im Leben reisen wir, um frische Ansichten zu sehen."
Hans Magnus Enzensberger, der Simic für den deutschen Sprachraum entdeckt und als Erster übersetzt hat, formulierte, was diese Lyrik so lebensvoll macht: "Seine Poesie", so schrieb er 1993 zu "Ein Buch von Göttern und Teufeln", "ist durch und durch vom amerikanischen Alltag getränkt, von der Tristesse und der Glorie der Straße." Simic liebt die Straßenszenen New Yorks. In "Grübelei im Rinnstein" (2000) werden sie ihm zu Epiphanien, die das Gewöhnliche geheimnisvoll machen. Ihm genügen drei strickende Frauen, um die Parzen zu evozieren. Der Schurz eines Metzgers ist die Karte der großen Kontinente des Blutes; eine Unbekannte, die ihm eine Semmel in die Hand drückt, wird zur Botin geheimen Wissens - die Weltstadt als Pandämonium.
In der von Wiebke Meier übersetzten neuen Auswahl "Mein lautloses Gefolge" erscheint der Dichter selbst als Anführer seiner Figuren: "Sie waren wie ein diskretes Gefolge / aus heimischen Engeln und Dämonen, / Die ich alle schon früher getroffen / Und seither fast vergessen hatte." In seinem "Selbstporträt im Bett" hält der Dichter für seine imaginären Besucher einen Stuhl bereit, "einen Stuhl aus Rattan, den ich im Sperrmüll fand". Das soll heißen: Unser Guru ist alles andere als elitär. Freilich hat dieser Stuhl Eigenheiten, die nicht jedem gefallen dürften: "Da, wo früher der Sitz war, war ein Loch, / Seine Beine wackelten, / Aber er sah immer noch würdevoll aus." Und der Dichter? Bei genauerer Betrachtung ist er nicht sonderlich auskunftsfreudig. Wir finden ihn, eine dicke Wollmütze über den Ohren, bei russischer Lektüre im Bett.
Umso erstaunlicher, dass Simic nun mit einem Buch kommt, das die denkbar gründlichste Aufklärung unserer Neugier verspricht. Unter dem Titel "Die Wahrnehmung des Dichters" handelt es von "Poesie und Wirklichkeit". Simic kokettiert ein wenig mit der Schwellenangst vor poetologischen Essays: "Wenn niemand mehr Dichtung liest, wie anscheinend sogar Leute meinen, die es besser wissen müssten, wer schert sich denn noch darum, Bücher über Dichtung zu lesen?" Wer auf diese Reservatio trifft, hat das Buch schon aufgeschlagen und sich festgelesen.
Es ist ein überaus erfrischendes Buch, ein kulinarisches Potpourri. Thomas Poiss hat es aus amerikanischen Ausgaben zusammengestellt und Texte, die bereits auf Deutsch vorlagen, neu übersetzt. Der Leser erfährt nicht bloß eine Menge über Poesie, sondern liest auch kluge und erinnerungsgesättigte Analysen über das vergangene Jugoslawien. Mehr noch: Simic ist auch ein verführerischer Gastrosoph. Ich habe noch nie so Schönes über Würste gelesen, nichts so Appetitanregendes über Tomaten. Die "Romanze in Wurst" lockt uns mit essbarer Poesie und macht uns - gegen alle Bedenken über Cholesterin-Werte - geneigt, dem Verein A.A.A.A.A. beizutreten, der "Association amicale des amateurs d'andoillettes authentiques". Und "Zerquetsch nicht die Tomaten!" ist mehr als ein freundschaftlicher Rat, es ist die Hymne über eine Frucht, deren aztekische Wurzel "toma-tl", das pralle Ding, auf den Liebesapfel führt.
Pomologie ist für Simic zugleich Poetologie. Zwar heißt es: "Die Zunge ist feinfühliger als das Wort", doch Simic fährt fort: "Wie die Dichter glaubt sie nicht an eine einzige Bedeutung. Steck dein Gesicht in die Schüssel, lautete der Rat meines Vaters." Es ist ein Rat, den auch der Poetologe beherzigt. Da ist er Koch und Gourmet zugleich. Er spricht von seiner "Küchenmetaphysik", sieht sich als "Mystiker meiner Bratpfanne" und bemerkt, man könne erstaunlich wohlschmeckende Gerichte aus den einfachsten Zutaten herstellen. Seine dichterischen Erkenntnisse lesen sich wie Küchengeheimnisse. "Dichtung hat mit Wiederholung zu tun, die niemals monoton wird."
Das gilt auch für das weite Feld von "Poesie und Wirklichkeit". Simic legt seine Quellen offen. Er weiß, dass unsere tiefsten Erfahrungen wortlos sind; dass es die Arbeit des Dichters ist, durch die Sprache auf das hinzuweisen, was nicht in Worte gefasst werden kann; dass also jede Dichtung Antidichtung ist. Simic nennt respektvoll Namen, doch sein großer Lehrer ist Vaco Popa. Er nennt ihn - nach Kafka, Borges, Michaux und Pound - den letzten großen Schöpfer. Popa erscheint fast als mythische Gestalt, als Riese, auf dessen Rücken sich der minor poet, der kleine Dichter hält.
Dieser charmiert uns durch sein Understatement, seinen Humor. Simic wundert sich, dass es ebenso viele Menschen ohne Humor gibt wie Menschen ohne ästhetischen Sinn. Er liebt die Invektiven, liebt die Entdeckung der schlimmen Wörter. Das Verlangen nach Respektlosigkeit habe ihn zum Dichten gebracht, das lyrische Gedicht sei oftmals die skandalöse Behauptung, und die Dichter waren immer schon Diebe. Und doch spüren wir, dass dieser freundliche und sensible Mann kein Schreckensmann ist. Ein Geständnis beim Lüften der Maske wollen wir indes sehr ernst nehmen: "Mein Leben ist meiner Dichtung ausgeliefert." In diese Frage spielt nicht bloß die Kriegskindheit des Dichters hinein, sondern auch "die unendlich gespaltene Zunge der Muttersprache", die für Kunst wie Leben folgenreiche Einsicht: "Zweisprachig zu sein bedeutet einzusehen, dass zwischen dem Namen und der Sache kein innerer Zusammenhang besteht. Es kann vorkommen, dass man sich in einem dunklen Loch zwischen den Sprachen wiederfindet." Das Paradox seiner Poesie will es, dass Simic aus ebendiesem Problem seine Stärken gewinnt, dass in das dunkle Loch zwischen den Sprachen seine Epiphanien hineinleuchten. Vielleicht kommen diese Bilder alle von einem frühen Urbild. Am Tag nach der Befreiung Belgrads trifft der Junge auf zwei tote deutsche Soldaten: "Ihre Stiefel waren weg, aber ein Helm war noch da, der zur Seite gefallen war." Das Kind wird zum Gespött der Familie: "Ein Kind, so dumm, dass es mit einem deutschen Helm voller Läuse herumspaziert. Sie krochen ja überall darauf herum! Ein Blinder hätte sie sehen können!"
Was heißt da Blindheit? Was heißt Sehen? Das Bild des verlausten Helms ist stärker als alle Erklärungen, alle Rationalisierungen, es ist ein Bild für ein Welterlebnis. Man begreift, was den Dichter an seine jugoslawische Herkunft bindet. Man begreift, wie der Schreibende auf das Finden von Bildern und Gestalten verwiesen wurde, die nur in einer zweiten Sprache erscheinen wollten. Poesie als Rettung, als letzte metaphysische Tätigkeit. Simic ist zu diskret, als dass er das metaphysische Problem in einen scherzhaften Ausruf kleidete: "Mist! Ich glaube an Bilder als Vehikel der Transzendenz, aber ich glaube nicht an Gott!" Ein sehr ernster Scherz, fast ein leiser Aufschrei. So groß kann ein minor poet sein.
- Charles Simic: "Die Wahrnehmung des Dichters". Über Poesie und Wirklichkeit. Ausgewählt u. übersetzt von Thomas Poiss. Edition Akzente. Carl Hanser Verlag, München 2007. 256 S., br., 21,50 [Euro].
- Charles Simic: "Mein lautloses Gefolge". Gedichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wiebke Meier. Carl Hanser Verlag, München 2006. 124 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Vergnügliche Gedichte eines "nüchternen Realisten", die gleichwohl mit allerlei Geheimnissen und Absurditäten aufwarteten, hat Jürgen Brocan im neuen Band des in die USA emigrierten Serben Charles Simic gelesen. Stets in der Nähe der unheimlichen Leerstellen des Lebens, verdeutliche Simic doch in seinen bis zur Rätselhaftigkeit verfremdeten Alltagstrivialitäten die merkwürdigen "Schönheiten unserer Existenz". Hingerissen von den grotesken Wendungen und sarkastischen Schwingungen in Simics Poesie, die von "Lachsalat" und "Kuckucksuhrensuppe" erzählen, mag Brocan einzig die Übersetzung rügen, die so manche Möglichkeit des Originaltextes ungenutzt lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Aus dem Zusammenspiel von alltäglichen Lebenseinzelheiten und wie nebenbei erwähnter Historie entsteht eine Spannung im Text, die über das Gedicht hinausweist, oft sarkastisch, selten pathetisch, immer paradox." Dorothea von Törne, Die Welt, 09.12.06