Hartmut von Hentig, Pädagoge und Weltenbüger, legt den ersten Teil seiner Erinnerungen vor. Er beginnt mit Kindheit und Jugend in einer hochgebildeten, kosmopolitischen Diplomatenfamilie zwischen San Francisco, Berlin und Bogotá. Nach Krieg und Gefangenschaft folgen die entscheidenen Studienjahre in Chicago. Dort lernt er völlig neue Ideen von Demokratie und Bildung kennen, die seine ganze Arbeit prägen werden. Mit diesem wunderbar erzählenden Buch nimmt der Leser teil am bewegenden Leben Hartmut von Hentigs.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2008Für alle, die einmal meine Schüler waren
Bedacht und bejaht: Der große Pädagoge Hartmut von Hentig blickt auf sein außerordentliches Leben.
Hartmut von Hentig hat die deutsche Schule als Lehrer und Reformer auf einen neuen Weg gebracht wie kein anderer. Die zwei Bände seiner mehr als tausendseitigen Erinnerungen sind "allen, die einmal meine Schüler waren", gewidmet. Für die meisten von ihnen war er der ideale Lehrer schlechthin, nicht nur, weil ihm Zensuren weniger wichtig waren als das Abenteuer Lernen, das auch auf einem Bauplatz, beim Theaterspielen oder im Garten stattfinden kann.
Dass man über vieles nicht überall sprechen durfte, hatten die beiden ältesten Kinder des Diplomaten Werner Otto von Hentig früh begriffen. Der beste Freund ihres Vaters starb, unmittelbar nachdem er aus dem Konzentrationslager kam. "Ein politischer Mord", erklärte der Vater dem Sohn, den er auch zum Mitwisser und Helfer machte, wenn jüdische Familien oft tagelang im Elternhaus Schutz suchten oder in geheimen Verstecken mit Lebensmitteln und Geld versorgt werden mussten. Der Vater, ein Konservativer, der die preußischen Tugenden bis zur Askese gesteigert hatte, war für seine Kinder bis in ihr Erwachsenenalter hinein "uneingeschränkt ein idealer Mensch". Sieben Jahre erzog er seine beiden Ältesten allein, so lange dauerte sein Scheidungsprozess.
Die Freunde der Eltern waren auch wichtig für die Entwicklung der Kinder, die sich immer wieder in fremder Umgebung, oft auch in fremden Sprachen zurechtfinden mussten. Ob es die Dönhoffs in Ostpreußen oder märkische Verwandte waren, sie hatten nicht nur in Ferienwochen stets Platz für die große Familie. Und genauso großzügig gastlich ging es auch im Elternhaus der Hentigs in Berlin zu, wo sich Nazigegner wie Ulrich von Hassell, Margaret Boveri, Klaus Mehnert und Berühmtheiten wie Max Planck oder Gerhart Hauptmann trafen.
"Zeitgeschichte sollte der Leser nicht bei mir suchen, eher Zeit-Bilder, Zeit-Gedanken, Zeit-Freuden, Zeit-Leiden", rät der zweiundachtzig Jahre alte Autor. Doch gerade seine persönlichen Erfahrungen und Bekenntnisse, mitreißend erzählt, vermitteln Zeitgeschichte aufs beste. Der Entwicklungsroman eines durch Nazizeit und Krieg Davongekommenen ist gleichzeitig eine Chronik der Bundesrepublik und ihrer von hervorragenden Menschen geprägten geistigen Strömungen. Der erste Band ist auch eine Familiengeschichte. Den historischen Bruch nach dem Ersten Weltkrieg, als das Kaiserreich unterging, hatte das Kind kaum gespürt. Denn noch immer gehörten die Hentigs selbstverständlich zur Elite, was sie zu Vorbildlichkeit und besonderer Verantwortung verpflichtete.
Göttingen, unmittelbar nach dem Krieg, ist eines der intensivsten Zeit-Bilder im ersten Band. Der Zwanzigjährige entschied sich, Latein und Griechisch zu studieren, weil da noch Studienplätze frei waren. Es war Göttingens große Zeit. Hermann Heimpel, Herbert Schöffler und Nikolaus Hartmann hielten ihre Vorlesungen, die Brüder Carl Friedrich und Richard von Weizsäcker oder Axel von dem Bussche wurden zu Freunden. Einer Zufallsbegegnung verdankt Hartmut von Hentig das Stipendium für das christlich pazifistische College in Elisabethtown an der amerikanischen Ostküste. Er war einer der ersten deutschen Stipendiaten in der Neuen Welt, einer, der die amerikanische Friedensbewegung, ihre Versöhnungsbereitschaft, ihre christlichen Wurzeln und ihren Idealismus kennenlernte. In Chicago konnte er sein Studium der alten Sprachen fortsetzen. Er schloss es mit einer Dissertation über Thukydides ab und kehrte nach Deutschland zurück.
Nach fünf Jahren fand Hentig ein aufgeräumtes Deutschland vor, das für ihn zunächst keinen Platz hatte. Verstört von der bedenklichen Restauration und den vertanen Chancen des Neuanfangs nach Kriegsende, suchte er Rat und fand ihn am Bodensee bei Hellmut Becker, der ihn zu Georg Picht in den Schwarzwald schickte. In der Privatschule Birklehof in Hinterzarten regierte der Mann, der später die Bildungskatastrophe prophezeihte. Seinen Schülern und Lehrern ließ er viel Freiheit. Nicht zuletzt deshalb versammelte sich dort "das erstaunlichste Menschen-Panoptikum". Für die späteren Konzepte in Bielefeld war es eine nützliche Erfahrung. Nach zwei Jahren entschied sich der Privatlehrer Hentig für einen Bildungsweg als Referendar am Tübinger Uhlandgymnasium. Hier reiften seine Vorstellungen von einer besseren Schule, von einer Erziehung, die die Lehren von Rousseau, Pestalozzi und Janusz Korczak in die Praxis umsetzt.
Als die Göttinger Universität seine umfangreiche Arbeit zum altsprachlichen Unterricht als Habilitationsschrift anerkannte und ihm einen Lehrstuhl anbot, waren die Weichen gestellt. "Der kann wenigstens Deutsch", war die Begründung von einem aus der Berufungskommission, "und verbindet den Geist Amerikas mit dem der Antike", sagte ein anderer. Ordentlicher öffentlicher Professor zu sein, begriff Hartmut von Hentig als den Auftrag, auch in der weiteren Öffentlichkeit zu wirken. Kaum zu fassen, womit sich der umtriebige Pädagogiklehrer neben dem Pensum seiner Vorlesungen noch beschäftigt hat. Offenbar konnte er selten nein sagen, wenn er aufgefordert wurde, schriftlich oder mündlich zu Problemen der Zeit Stellung zu nehmen, wichtigen Beratergremien beizutreten wie der Forschungsgemeinschaft, der Volkswagenstiftung, dem Werkbund oder der Berliner Akademie der Künste. Unzählige Podiumsdiskussionen kamen ohne seine Stimme nicht aus.
Neue Anfänge hatten für ihn immer etwas Verführerisches, und für Reformen war er ja schon zu Beginn seines Lehrerberufs eingetreten. So brauchte Helmut Schelsky keine großen Überredungskünste, um ihn als Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät für die neue Reformuniversität zu gewinnen, die in Bielefeld entstand. Dass er ihm dort zudem die Gründung von so einzigartigen Einrichtungen wie einem Oberstufenkolleg und einer Laborschule zusagte, machte den Abschied von Göttingen leicht. Hentigs Konzept überzeugte nicht alle, es blieb umstritten von Rechten wie von Linken. Eine Schule, in der es erst von der neunten Klasse an Zeugnisse geben, in der kein Kind wegen einer Schwäche oder Behinderung in eine Sondereinrichtung abgeschoben werden sollte, eine Gemeinschaft, in der Lehrer mit ihren Schülern zusammen kochten, aßen, spielten und den größten Teil des Tages verbrachten, war Anfang der siebziger Jahre ungewöhnlich. Doch der Bildungsrat unterstützte das Experiment, und mehrere Denkmodelle gingen in die Lernziele für Gesamtschulen ein.
Auf rund zweihundert Seiten beschreibt Hentig dieses Wagnis, es wird für ihn der "Versuch einer pädagogischen Autobiographie", einschließlich der zähen Kämpfe, Enttäuschungen und schließlich auch des teilweisen Scheiterns, was er überhaupt nicht beschönigt. Das liest sich mitunter mühsam und klingt nicht selten auch wie eine Gegendarstellung zu manchen Veröffentlichungen. Doch die Entwicklung der Laborschule einmal mit allen Details beschreiben - wer könnte das besser als der Erfinder selbst.Von vornherein war das Experiment, Schule und Forschungsstätte zugleich zu sein, reichlich überfrachtet. Hentig bemühte sich oft vergeblich, die Erfahrung praktischer Pädagogen gegenüber den blutleeren Denkmodellen der Erziehungswissenschaftler zu stärken und so revolutionäre Neuheiten einzuführen wie die Großräume, in denen mehrere Jahrgänge nebeneinander unterrichtet wurden.
Bis zur Erschöpfung wurde diskutiert, und die Möglichkeiten der Mitbestimmung wurden bis zur Lähmung missbraucht. Die Lehrerschaft zerfiel in unversöhnliche Lager. Dabei sollte doch die Laborschule nach den Vorstellungen ihres Gründers eine Polis, eine ideale Gemeinschaft sein, in der jeder Einzelne gefördert wurde und seine Kräfte voll entfalten konnte. Hentig nennt Mitstreiter, aber auch seine Gegner beim Namen. Gelegentlich packte ihn der Zorn über seine "selbstauferlegte demokratische Demut". Zorn auch, dass er die destruktiven Lehrer nicht loswerden konnte (einige blieben bis zu ihrer Pensionierung). Die Verletzungen, die sie ihm beibrachten, scheint er auch nach zwei Jahrzehnten noch zu spüren. Zeitweise schlug die gesamte Linke auf ihn ein. Das Kapitel Bielefeld ist teilweise unter der Rubrik "Zeit-Leiden" einzuordnen. Die Laborschule Bielefeld besteht noch immer, die Grundzüge sind erhalten. Sie schnitt sogar beim Pisa-Test gut ab, was Hentig kaum für erwähnenswert hält.
Der Rückzug nach zwanzig Jahren war für diesen engagierten Mann natürlich kein Rückzug aus der Öffentlichkeit. Jetzt hatte er noch mehr Zeit, sich für Frieden, Abrüstung und Umwelt, für humane Aufgaben wie die Entschädigung von Zwangsarbeitern oder sein Hilfswerk "Hope" einzusetzen. In der Paulskirche hielt er die Lobreden auf verschiedene Preisträger. Dass Janusz Korczak postum mit dem Friedenspreis geehrt wurde, geht auf seinen Vorschlag zurück. Bei der Aufzählung seiner imponierend zahlreichen Aktivitäten entfernt sich der Erzähler seinem Leser zuweilen allzu sehr, doch sie gehören schließlich zum Fazit eines so reichen Lebens dazu. Die letzte Szene im neuen Domizil am Kurfürstendamm ist dann wieder so anschaulich wie die Kindheitsszenen: Hier, Freunden und Verwandten nahe, mit dem Blick in den Garten des Literaturhauses und abgeschirmt vom Lärm der Großstadt, können die "Freuden des Denkens" gedeihen. "Mein Leben - bedacht und bejaht", die positive Bilanz dieser umfangreichen Erinnerungen, gehört zu den lebendigsten Zeugnissen der Zeitgeschichte.
MARIA FRISÉ
Hartmut von Hentig: "Mein Leben - bedacht und bejaht". Band 1: "Kindheit und Jugend". Band 2: "Schule, Polis, Gartenhaus". Hanser Verlag, München 2007. 414 und 665 S. , geb., 24,- und 25,90 [Euro].
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Bedacht und bejaht: Der große Pädagoge Hartmut von Hentig blickt auf sein außerordentliches Leben.
Hartmut von Hentig hat die deutsche Schule als Lehrer und Reformer auf einen neuen Weg gebracht wie kein anderer. Die zwei Bände seiner mehr als tausendseitigen Erinnerungen sind "allen, die einmal meine Schüler waren", gewidmet. Für die meisten von ihnen war er der ideale Lehrer schlechthin, nicht nur, weil ihm Zensuren weniger wichtig waren als das Abenteuer Lernen, das auch auf einem Bauplatz, beim Theaterspielen oder im Garten stattfinden kann.
Dass man über vieles nicht überall sprechen durfte, hatten die beiden ältesten Kinder des Diplomaten Werner Otto von Hentig früh begriffen. Der beste Freund ihres Vaters starb, unmittelbar nachdem er aus dem Konzentrationslager kam. "Ein politischer Mord", erklärte der Vater dem Sohn, den er auch zum Mitwisser und Helfer machte, wenn jüdische Familien oft tagelang im Elternhaus Schutz suchten oder in geheimen Verstecken mit Lebensmitteln und Geld versorgt werden mussten. Der Vater, ein Konservativer, der die preußischen Tugenden bis zur Askese gesteigert hatte, war für seine Kinder bis in ihr Erwachsenenalter hinein "uneingeschränkt ein idealer Mensch". Sieben Jahre erzog er seine beiden Ältesten allein, so lange dauerte sein Scheidungsprozess.
Die Freunde der Eltern waren auch wichtig für die Entwicklung der Kinder, die sich immer wieder in fremder Umgebung, oft auch in fremden Sprachen zurechtfinden mussten. Ob es die Dönhoffs in Ostpreußen oder märkische Verwandte waren, sie hatten nicht nur in Ferienwochen stets Platz für die große Familie. Und genauso großzügig gastlich ging es auch im Elternhaus der Hentigs in Berlin zu, wo sich Nazigegner wie Ulrich von Hassell, Margaret Boveri, Klaus Mehnert und Berühmtheiten wie Max Planck oder Gerhart Hauptmann trafen.
"Zeitgeschichte sollte der Leser nicht bei mir suchen, eher Zeit-Bilder, Zeit-Gedanken, Zeit-Freuden, Zeit-Leiden", rät der zweiundachtzig Jahre alte Autor. Doch gerade seine persönlichen Erfahrungen und Bekenntnisse, mitreißend erzählt, vermitteln Zeitgeschichte aufs beste. Der Entwicklungsroman eines durch Nazizeit und Krieg Davongekommenen ist gleichzeitig eine Chronik der Bundesrepublik und ihrer von hervorragenden Menschen geprägten geistigen Strömungen. Der erste Band ist auch eine Familiengeschichte. Den historischen Bruch nach dem Ersten Weltkrieg, als das Kaiserreich unterging, hatte das Kind kaum gespürt. Denn noch immer gehörten die Hentigs selbstverständlich zur Elite, was sie zu Vorbildlichkeit und besonderer Verantwortung verpflichtete.
Göttingen, unmittelbar nach dem Krieg, ist eines der intensivsten Zeit-Bilder im ersten Band. Der Zwanzigjährige entschied sich, Latein und Griechisch zu studieren, weil da noch Studienplätze frei waren. Es war Göttingens große Zeit. Hermann Heimpel, Herbert Schöffler und Nikolaus Hartmann hielten ihre Vorlesungen, die Brüder Carl Friedrich und Richard von Weizsäcker oder Axel von dem Bussche wurden zu Freunden. Einer Zufallsbegegnung verdankt Hartmut von Hentig das Stipendium für das christlich pazifistische College in Elisabethtown an der amerikanischen Ostküste. Er war einer der ersten deutschen Stipendiaten in der Neuen Welt, einer, der die amerikanische Friedensbewegung, ihre Versöhnungsbereitschaft, ihre christlichen Wurzeln und ihren Idealismus kennenlernte. In Chicago konnte er sein Studium der alten Sprachen fortsetzen. Er schloss es mit einer Dissertation über Thukydides ab und kehrte nach Deutschland zurück.
Nach fünf Jahren fand Hentig ein aufgeräumtes Deutschland vor, das für ihn zunächst keinen Platz hatte. Verstört von der bedenklichen Restauration und den vertanen Chancen des Neuanfangs nach Kriegsende, suchte er Rat und fand ihn am Bodensee bei Hellmut Becker, der ihn zu Georg Picht in den Schwarzwald schickte. In der Privatschule Birklehof in Hinterzarten regierte der Mann, der später die Bildungskatastrophe prophezeihte. Seinen Schülern und Lehrern ließ er viel Freiheit. Nicht zuletzt deshalb versammelte sich dort "das erstaunlichste Menschen-Panoptikum". Für die späteren Konzepte in Bielefeld war es eine nützliche Erfahrung. Nach zwei Jahren entschied sich der Privatlehrer Hentig für einen Bildungsweg als Referendar am Tübinger Uhlandgymnasium. Hier reiften seine Vorstellungen von einer besseren Schule, von einer Erziehung, die die Lehren von Rousseau, Pestalozzi und Janusz Korczak in die Praxis umsetzt.
Als die Göttinger Universität seine umfangreiche Arbeit zum altsprachlichen Unterricht als Habilitationsschrift anerkannte und ihm einen Lehrstuhl anbot, waren die Weichen gestellt. "Der kann wenigstens Deutsch", war die Begründung von einem aus der Berufungskommission, "und verbindet den Geist Amerikas mit dem der Antike", sagte ein anderer. Ordentlicher öffentlicher Professor zu sein, begriff Hartmut von Hentig als den Auftrag, auch in der weiteren Öffentlichkeit zu wirken. Kaum zu fassen, womit sich der umtriebige Pädagogiklehrer neben dem Pensum seiner Vorlesungen noch beschäftigt hat. Offenbar konnte er selten nein sagen, wenn er aufgefordert wurde, schriftlich oder mündlich zu Problemen der Zeit Stellung zu nehmen, wichtigen Beratergremien beizutreten wie der Forschungsgemeinschaft, der Volkswagenstiftung, dem Werkbund oder der Berliner Akademie der Künste. Unzählige Podiumsdiskussionen kamen ohne seine Stimme nicht aus.
Neue Anfänge hatten für ihn immer etwas Verführerisches, und für Reformen war er ja schon zu Beginn seines Lehrerberufs eingetreten. So brauchte Helmut Schelsky keine großen Überredungskünste, um ihn als Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät für die neue Reformuniversität zu gewinnen, die in Bielefeld entstand. Dass er ihm dort zudem die Gründung von so einzigartigen Einrichtungen wie einem Oberstufenkolleg und einer Laborschule zusagte, machte den Abschied von Göttingen leicht. Hentigs Konzept überzeugte nicht alle, es blieb umstritten von Rechten wie von Linken. Eine Schule, in der es erst von der neunten Klasse an Zeugnisse geben, in der kein Kind wegen einer Schwäche oder Behinderung in eine Sondereinrichtung abgeschoben werden sollte, eine Gemeinschaft, in der Lehrer mit ihren Schülern zusammen kochten, aßen, spielten und den größten Teil des Tages verbrachten, war Anfang der siebziger Jahre ungewöhnlich. Doch der Bildungsrat unterstützte das Experiment, und mehrere Denkmodelle gingen in die Lernziele für Gesamtschulen ein.
Auf rund zweihundert Seiten beschreibt Hentig dieses Wagnis, es wird für ihn der "Versuch einer pädagogischen Autobiographie", einschließlich der zähen Kämpfe, Enttäuschungen und schließlich auch des teilweisen Scheiterns, was er überhaupt nicht beschönigt. Das liest sich mitunter mühsam und klingt nicht selten auch wie eine Gegendarstellung zu manchen Veröffentlichungen. Doch die Entwicklung der Laborschule einmal mit allen Details beschreiben - wer könnte das besser als der Erfinder selbst.Von vornherein war das Experiment, Schule und Forschungsstätte zugleich zu sein, reichlich überfrachtet. Hentig bemühte sich oft vergeblich, die Erfahrung praktischer Pädagogen gegenüber den blutleeren Denkmodellen der Erziehungswissenschaftler zu stärken und so revolutionäre Neuheiten einzuführen wie die Großräume, in denen mehrere Jahrgänge nebeneinander unterrichtet wurden.
Bis zur Erschöpfung wurde diskutiert, und die Möglichkeiten der Mitbestimmung wurden bis zur Lähmung missbraucht. Die Lehrerschaft zerfiel in unversöhnliche Lager. Dabei sollte doch die Laborschule nach den Vorstellungen ihres Gründers eine Polis, eine ideale Gemeinschaft sein, in der jeder Einzelne gefördert wurde und seine Kräfte voll entfalten konnte. Hentig nennt Mitstreiter, aber auch seine Gegner beim Namen. Gelegentlich packte ihn der Zorn über seine "selbstauferlegte demokratische Demut". Zorn auch, dass er die destruktiven Lehrer nicht loswerden konnte (einige blieben bis zu ihrer Pensionierung). Die Verletzungen, die sie ihm beibrachten, scheint er auch nach zwei Jahrzehnten noch zu spüren. Zeitweise schlug die gesamte Linke auf ihn ein. Das Kapitel Bielefeld ist teilweise unter der Rubrik "Zeit-Leiden" einzuordnen. Die Laborschule Bielefeld besteht noch immer, die Grundzüge sind erhalten. Sie schnitt sogar beim Pisa-Test gut ab, was Hentig kaum für erwähnenswert hält.
Der Rückzug nach zwanzig Jahren war für diesen engagierten Mann natürlich kein Rückzug aus der Öffentlichkeit. Jetzt hatte er noch mehr Zeit, sich für Frieden, Abrüstung und Umwelt, für humane Aufgaben wie die Entschädigung von Zwangsarbeitern oder sein Hilfswerk "Hope" einzusetzen. In der Paulskirche hielt er die Lobreden auf verschiedene Preisträger. Dass Janusz Korczak postum mit dem Friedenspreis geehrt wurde, geht auf seinen Vorschlag zurück. Bei der Aufzählung seiner imponierend zahlreichen Aktivitäten entfernt sich der Erzähler seinem Leser zuweilen allzu sehr, doch sie gehören schließlich zum Fazit eines so reichen Lebens dazu. Die letzte Szene im neuen Domizil am Kurfürstendamm ist dann wieder so anschaulich wie die Kindheitsszenen: Hier, Freunden und Verwandten nahe, mit dem Blick in den Garten des Literaturhauses und abgeschirmt vom Lärm der Großstadt, können die "Freuden des Denkens" gedeihen. "Mein Leben - bedacht und bejaht", die positive Bilanz dieser umfangreichen Erinnerungen, gehört zu den lebendigsten Zeugnissen der Zeitgeschichte.
MARIA FRISÉ
Hartmut von Hentig: "Mein Leben - bedacht und bejaht". Band 1: "Kindheit und Jugend". Band 2: "Schule, Polis, Gartenhaus". Hanser Verlag, München 2007. 414 und 665 S. , geb., 24,- und 25,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.04.2007Sachbücher des Monats Mai
Empfohlen werden nach einer monatlich erstellten Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. WOLFGANG MATZ: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter. S. Fischer Verlag, 432 Seiten, 22,90 Euro.
2. MICHAEL MANN: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Aus dem Englischen von Werner Roller. Hamburger Edition, 861 Seiten, 40 Euro.
3. ANDREAS FINGERNAGEL (Hg.): Romanik. Geschichte der Buchkultur, 2 Bände. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, zusammen 916 Seiten, 90 Euro.
4. AL GORE: Eine unbequeme Wahrheit. Die drohende Klimakatastrophe und was wir dagegen tun können. Aus dem Amerikanischen von Richard Barth und Thomas Pfeiffer. Riemann Verlag, 328 Seiten, 19,95 Euro.
5. GÉRARD PRUNIER: Darfur. Der „uneindeutige” Genozid. Aus dem Englischen von Gennaro Ghirardelli. Hamburger Edition, 275 Seiten, 25 Euro.
6.-7. GÜNTHER RÜHLE: Theater in Deutschland 1887 – 1945. Seine Ereignisse – seine Menschen. S. Fischer Verlag, 1296 Seiten, 39,90 Euro.
MIKE DAVIS: Planet der Slums. Aus dem Englischen von Ingrid Scherf. Assoziation A, 248 Seiten, 20 Euro.
8.-9. JOHN LEWIS GADDIS: Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte. Aus dem Englischen von Klaus D. Schmidt. Wolf Jobst Siedler Verlag, 384 Seiten, 24,95 Euro.
HARTMUT VON HENTIG: Mein Leben – bedacht und bejaht. Kindheit und Jugend. Carl Hanser Verlag, 416 Seiten, 24,90 Euro.
10. GIORDANO BRUNO: Werke, Band 3: De la causa, principio et uno. Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. Italienisch-Deutsch. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Thomas Leinkauf. Band 4: De l’infinito, universo et mondi. Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Angelika Bönker-Vallon, zusammen 964 Seiten, 262 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Mai 2007 von Fritz Göttler: CURZIO MALAPARTE: Zwischen Erdbeben. Streifzüge eines europäischen Exzentrikers. Hersausgegeben von Jobst Welge. Aus dem Italienischen von Michael Killisch-Horn. Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, 364 Seiten, 30 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Dr. Johannes Saltzwedel, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Albert von Schirnding, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR)
Die nächste SZ/NDR/BuchJournal-
Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 31. Mai.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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1. WOLFGANG MATZ: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter. S. Fischer Verlag, 432 Seiten, 22,90 Euro.
2. MICHAEL MANN: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Aus dem Englischen von Werner Roller. Hamburger Edition, 861 Seiten, 40 Euro.
3. ANDREAS FINGERNAGEL (Hg.): Romanik. Geschichte der Buchkultur, 2 Bände. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, zusammen 916 Seiten, 90 Euro.
4. AL GORE: Eine unbequeme Wahrheit. Die drohende Klimakatastrophe und was wir dagegen tun können. Aus dem Amerikanischen von Richard Barth und Thomas Pfeiffer. Riemann Verlag, 328 Seiten, 19,95 Euro.
5. GÉRARD PRUNIER: Darfur. Der „uneindeutige” Genozid. Aus dem Englischen von Gennaro Ghirardelli. Hamburger Edition, 275 Seiten, 25 Euro.
6.-7. GÜNTHER RÜHLE: Theater in Deutschland 1887 – 1945. Seine Ereignisse – seine Menschen. S. Fischer Verlag, 1296 Seiten, 39,90 Euro.
MIKE DAVIS: Planet der Slums. Aus dem Englischen von Ingrid Scherf. Assoziation A, 248 Seiten, 20 Euro.
8.-9. JOHN LEWIS GADDIS: Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte. Aus dem Englischen von Klaus D. Schmidt. Wolf Jobst Siedler Verlag, 384 Seiten, 24,95 Euro.
HARTMUT VON HENTIG: Mein Leben – bedacht und bejaht. Kindheit und Jugend. Carl Hanser Verlag, 416 Seiten, 24,90 Euro.
10. GIORDANO BRUNO: Werke, Band 3: De la causa, principio et uno. Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. Italienisch-Deutsch. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Thomas Leinkauf. Band 4: De l’infinito, universo et mondi. Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Angelika Bönker-Vallon, zusammen 964 Seiten, 262 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Mai 2007 von Fritz Göttler: CURZIO MALAPARTE: Zwischen Erdbeben. Streifzüge eines europäischen Exzentrikers. Hersausgegeben von Jobst Welge. Aus dem Italienischen von Michael Killisch-Horn. Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, 364 Seiten, 30 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Dr. Johannes Saltzwedel, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Albert von Schirnding, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Micha Brumlik hat mit großem Interesse die zweibändigen Memoiren des Erziehungswissenschaftlers Hartmut von Hentig gelesen und erkennt hier einen Protagonisten, der als Mitglied einer adeligen Elite die frühen Jahre der Bundesrepublik begleitet und mitgeprägt hat. Aus den Lebenserinnerungen spricht eine gewisse stoische Grundhaltung gegenüber den Wechselfällen des Lebens und vor allem "Standesbewusstsein", stellt der Rezensent fest, der besonders den ersten Band, in dem sich der Autor nach Vorbild eines Aristoteles oder Rousseau einer existentiellen Selbstbefragung preisgibt, durchaus gern gelesen hat. Wenn die Perspektive im zweiten Band ausgeweitet wird, die Bildungsreform der Bundesrepublik ins Auge gefasst oder Begegnungen mit prominenten Bekannten rekapituliert werden, nimmt das Lektürevergnügen allerdings etwas ab, wie der Rezensent zugibt. Brumlik fällt auf, dass der Autor die NS-Vergangenheit so manches Kollegen nicht gerade überzeugend kleinzureden versucht und dass er über die Entwicklung der Erziehungswissenschaft gar nichts schreibt. Berührend fand der Rezensent den letzten Teil der Lebenserinnerungen, in dem Hentig nicht nur sehr aufrichtig über die Fatalitäten des Alters schreibt, sondern auch über das Zusammenleben mit seinem Lebensgefährten, den Brumlik hier allerdings nicht immer mit der angemessenen Diskretion beschrieben findet, wie er meint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Der Pädagoge Hartmut von Hentig macht aus seiner eigenen Kindheit und Jugend einen wunderbar erzählten Bildungsroman. ... Am Ende ist man enttäuscht, dass das Buch endet, jedenfalls wartet man jetzt ungeduldig auf den versprochenen zweiten Band, nicht ohne die Neugierde, ob das Leben noch so eindeutig bejaht wird, wenn die Pädagogik das Regiment ergreift." Heinz-Elmar Tenorth, Süddeutsche Zeitung, 14.03.07
"Sich selbst zu prüfen ... war ihm das unvermeidliche Fegefeuer, ohne das ein lebenswertes Leben nicht vorstellbar ist. Nun als fröhlicher Greis dies alles noch einmal zu erinnern und zu bedenken und, wie der Titel sagt, zu bejahen, ist noch einmal ein großes Glück, auch für die Leser. Und immer steckt in Hentigs Betrachtungen Liebe, auch die zu dem kleinen Hartmut, der er war und in gewisser Weise geblieben ist." Reinhard Kahl, Die Zeit, 22.03.07
"Tatsächlich werden die Leser Zeugen einer Erzählung von einem gelungenen, ja oft glücklichen Leben. ... Sein Rückblick offenbart den nicht so häufigen Fall einer im Verlauf des Erwachsenwerdens nicht abgetriebenen Kindheit. Das macht den Charme dieses Menschen aus und auch seinen Erfolg. Es ist wie bei Albert Einstein, der auf die Frage, wie er sich seine Leistungen erkläre, geantwortet hat: Weil ich das ewige Kind geblieben bin." Reinhard Kahl, Die Zeit, 22.03.07
"Sich selbst zu prüfen ... war ihm das unvermeidliche Fegefeuer, ohne das ein lebenswertes Leben nicht vorstellbar ist. Nun als fröhlicher Greis dies alles noch einmal zu erinnern und zu bedenken und, wie der Titel sagt, zu bejahen, ist noch einmal ein großes Glück, auch für die Leser. Und immer steckt in Hentigs Betrachtungen Liebe, auch die zu dem kleinen Hartmut, der er war und in gewisser Weise geblieben ist." Reinhard Kahl, Die Zeit, 22.03.07
"Tatsächlich werden die Leser Zeugen einer Erzählung von einem gelungenen, ja oft glücklichen Leben. ... Sein Rückblick offenbart den nicht so häufigen Fall einer im Verlauf des Erwachsenwerdens nicht abgetriebenen Kindheit. Das macht den Charme dieses Menschen aus und auch seinen Erfolg. Es ist wie bei Albert Einstein, der auf die Frage, wie er sich seine Leistungen erkläre, geantwortet hat: Weil ich das ewige Kind geblieben bin." Reinhard Kahl, Die Zeit, 22.03.07