Sommer 1922, Alexandra Kollontai (1872-1952), »Walküre der Revolution«, streitbare Vorkämpferin für die »Entsklavung« der Frau in Ehe und Gesellschaft, erste weibliche Ministerin (für Soziale Fürsorge) im Rat der Volkskommissare, gerade 50 geworden, sucht nach Meinungsverschiedenheiten mit Wladimir I. Lenin, Grigori Sinowjew u.a. und dem Scheitern ihrer Partnerschaft mit Pawel Dybenko nach einem neuen Tätigkeitsfeld. Doch sie wird nicht, wie gewünscht, Korrespondentin im Ausland, sondern in atemberaubendem Tempo Handelsvertreter und schließlich Bevollmächtigter Vertreter der Sowjetunion - erste weibliche Botschafterin - in Norwegen, später in Mexiko und Schweden. In den nach 1945 von ihr selbst literarisch bearbeiteten Tagebuchnotizen »Aufzeichnungen aus den Jahren meiner diplomatischen Tätigkeit (1922-1945)« - berichtet Alexandra Kollontai anschaulich über den mühevollen, oft entnervenden Kampf um diplomatische Anerkennung, den Abschluß von Handelsgeschäften, Kreditvereinbarungen und die Vorbereitung der Friedensverträge mit Finnland (1940 und 1944), über Partner, Freunde und Widersacher, über Bewährungssituationen, Erfolge und Augenblicke tiefer Depression, kurz: über Lust und Frust der »undankbaren Arbeit« eines Diplomaten. Ihr Wunsch, das umfangreiche Manuskript (2000 Seiten) noch zu ihren Lebzeiten publizieren zu können, ging nicht in Erfüllung. Es blieb 50 Jahre im Archiv vergraben und wurde erst 2001 in Moskau editiert. Die deutsche Ausgabe, obwohl eine gekürzte Fassung, folgt dem ursprünglichen Manuskript und geht zugleich darüber hinaus. Heinz und Ruth Deutschland haben nicht nur übersetzt, sondern auch gründlich recherchiert und den Text, gestützt auf eigene Erfahrungen im diplomatischen Dienst sowie auf die sachkundige Hilfe und Zuarbeit von Kollegen in Deutschland, Rußland, Norwegen und Schweden, um wichtige Passagen erweitert, die Alexandra Kollontai der Selbstzensur geopfert hatte. Der Text wurde durch handschriftliche Notizen (aus dem Nachlaß), zahlreiche unveröffentlichte Briefe (an Jossif Stalin, Wjatscheslaw Molotow, Maxim Litwinow u.a.) sowie inzwischen publizierte, aber noch nicht in deutscher Sprache vorliegende Dokumente ergänzt. So entstand ein höchst widersprüchliches, zugleich aber umfassenderes Bild des zweiten Lebensabschnitts einer der faszinierendsten Gestalten der russischen Revolution.
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