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Im Dreiviertelanzug durch den Gorlebener Forst
1984 reist die halbe Republik ins Wendland, um gegen die Castortransporte zu protestieren. Auch Florian, siebzehn Jahre alt, will die Welt verbessern und macht sich zusammen mit Freunden auf den Weg. Es ist der Tag, bevor er stirbt. Ein Roman voll untergründiger Spannung über eine politisch bewegte Zeit, in der man ohne "Atomkraft Nein danke"-Anstecker schon verloren hatte. Eine Zeit, als es auf jede Frage eine Antwort gab.
Stell dir vor, es ist Demo und keiner geht hin - kaum denkbar in den achtziger Jahren, als alle dafür waren, dagegen zu
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Produktbeschreibung
Im Dreiviertelanzug durch den Gorlebener Forst

1984 reist die halbe Republik ins Wendland, um gegen die Castortransporte zu protestieren. Auch Florian, siebzehn Jahre alt, will die Welt verbessern und macht sich zusammen mit Freunden auf den Weg. Es ist der Tag, bevor er stirbt. Ein Roman voll untergründiger Spannung über eine politisch bewegte Zeit, in der man ohne "Atomkraft Nein danke"-Anstecker schon verloren hatte. Eine Zeit, als es auf jede Frage eine Antwort gab.

Stell dir vor, es ist Demo und keiner geht hin - kaum denkbar in den achtziger Jahren, als alle dafür waren, dagegen zu sein. Auch Florian ist dagegen: Er macht sich auf den Weg ins Wendland, um mit Freunden gegen die Atommülltransporte zu protestieren. Zum ersten Mal trägt er den Familienanzug, der einmal seinem kleinwüchsigen Onkel gehörte und der ihm viel zu kurz ist; es ist ein wichtiger Tag für ihn, dieser 28. April, der Tag, bevor er stirbt. Bis zum Abend fühlt sich alles wie ein Ferienausflug an, doch dann brechen im Zeltlager erhitzte Diskussionen aus, zwischen Gewaltfreien und Anarchos, Frauengruppen und einheimischen Bauern. Als ein Polizeiauto überfallen wird, beginnt eine wilde Jagd durch den Landkreis. Bald weiß niemand mehr, wer hier wen blockiert.

In einer spannungsreichen Geschichte voll subtiler Ironie erzählt Jo Lendle von einer Gruppe junger Menschen, die ein klares Ziel vor Augen haben und doch nicht wissen, was sie tun.

Ein treffsicheres Generationenporträt der heute um die 40-Jährigen, mit großem identifikatorischem Moment.

Autorenporträt
Jo Lendle wurde 1968 in Osnabrück geboren. Er war Herausgeber der Literaturzeitschrift Edit und als Dozent und Gastprofessor an den Universitäten München, Leipzig und Hildesheim tätig. Jo Lendle lebt heute in Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009

Störfall im Hormonkraftwerk

Erzählkraft, ja bitte: Jo Lendle beschwört mit seinem furiosen Wendland-Roman den Mief der Pubertät und der alten Bundesrepublik herauf.

Von Sarah Elsing

Noch nicht mal für "Atomkraft? Nein danke!" hat es gereicht. Statt der einzig akzeptablen Parole, die ihm Eintritt in die ideologische In-Zone der achtziger Jahre verschafft hätte, steht auf Florians neuem Anstecker nur: "Baum ab? Nein danke!" "Atomkraft verstehst du doch noch gar nicht", hatte sein Bruder gesagt, als er ihm das Ding zum letzten Geburtstag überreicht hatte. Und das, obwohl Florian schon mit zwölf an das Kreiswehrersatzamt geschrieben hatte, er sei zum Helden nicht geboren und werde deshalb den Dienst an der Waffe verweigern. Dies stand damals freilich noch unter dem Eindruck der letzten verlorenen Schulhofprügelei. Im Laufe der Geschichte, die Jo Lendle in seinem neuen Roman erzählt, wird sich jedoch herausstellen, wie sehr Florian alle immer unterschätzt haben. Am Ende hat er nicht nur die Sache mit der Atomkraft verstanden, es zeigt sich auch, dass der Junge durchaus routiniert mit einer Waffe umgehen kann.

Der 1968 geborene Autor Jo Lendle nimmt die Perspektive des siebzehnjährigen Florian ein, um zu erzählen, wie eine Handvoll wohlbehüteter Bürgerkinder Mitte der achtziger Jahre ins Wendland zieht und Ernstfall spielt - bis dieser überraschend wirklich eintritt. Wie Lendle schildert, mit welcher Zwangsläufigkeit sich die Sandkastenspiele verselbständigen, wie die Gruppe schrittweise auseinanderfällt, einer nach dem anderen die Unschuld verliert, bis alles so bitterbös endet, wie es enden muss, zeugt von einigem literarischen Können.

Schon in seinem Debüt "Die Kosmonautin" überzeugte Lendle, im Hauptberuf Lektor bei Dumont, mit scharfer Beobachtungsgabe und einer konzentrierten, erfrischend metaphernfreien Sprache. Auch in seinem neuen Buch gelingt es ihm, allein mit der Beschreibung weniger Details den Mief der alten Bundesrepublik wieder wachzurufen. Allzu vertraut sind die Erinnerungen an die dackelbraunen Oberlippenbärtchen der Wachtmeister, die lila Wallekleider der Frauenbewegten und die Mischung aus Schweiß und Rum-Cola, die nach der Party einfach nicht mehr aus dem elterlichen Wohnzimmer wegzulüften war.

Das ist nur einer der Gerüche, die sich während der Lektüre dieses Buches unvermeidlich in der Nase festsetzten. Aber es wird noch schlimmer: Mit den Gerüchen kommt auch der ganze verkniffene Sprach- und Diskussionsmief wieder hoch, der in gewissen, sich als fortschrittlich verstehenden Kreisen vorherrschend war. Statt Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten gab es da nur "ferngesteuerte Gehilfen der Staatsmacht" (wobei diese zumeist Manfred, Horst oder Werner hießen) oder "systemkritische Querdenker" (meist Gerd, Wolf oder Gabi genannt), wobei sich Letztere wiederum in Autonome, Gewaltfreie, Bauern und Frauen (Annelore, Waltraud oder Gertrud mit Namen) unterteilten. Diese schließlich organisierten sich in jederzeit aktivierbaren Kleingruppen und bereiteten sich wie Florian und seine Freunde in der Provinz auf den größten anzunehmenden Ernstfall vor.

Es ist köstlich, wie Lendle - anscheinend aus eigener Leidenserfahrung schreibend - erzählt, wie die Jugendlichen mit ungleich verteilten Tortenstücken am eigenen Leib erfahren sollen, wie sich Ungerechtigkeit für den afrikanischen Kontinent anfühlt, und im gewaltfreien Training "ideologiefrei" argumentieren lernen. Später im Wendland zahlen sich diese Übungen nachhaltig aus: Den Einwand, das Lied "Zehn kleine Negerlein" habe seine Wurzeln in imperialistischem Gedankengut und dürfe daher keinesfalls von der Kleingruppe intoniert werden, wischt Anführer Bernd mit dem Argument weg, die Identifikation mit dem "Neger" sei Ausdruck "gelebter Solidarität" mit der schwarzen Bevölkerung.

In der Grünen Minna scheint den Kindern jedoch die protestantische Kantate "Ich war voll Bekümmernis" passender. Auch den Dialog mit der Bevölkerung könnte man sich erfolgreicher kaum vorstellen. Auf der Bundesstraße brüllen die Freunde entschlossen "Generationen!" und "Halbwertszeit!" gegen die Windschutzscheibe einer stehengebliebenen Ente. Was hier noch spaßig-naiv klingt, bringt später - als das Ferienlager zum Kriegsschauplatz wird, der Wald lichterloh brennt und Florian sich von der Polizei immer tiefer in die Flammen und in Richtung der Zonengrenze treiben lässt - die Aussage des Buches auf den Punkt, nämlich wie heillos verloren die biologisch und ideologisch wohlgenährten Achtundsechziger-Kinder in diesem klar abgegrenzten Gebiet des Wendlands zwischen Naturgewalt, Staatsmacht und Zonengrenze sind.

So erscheint den Kindern die Bundesstraße unter dem Eindruck von Gudrun Pausewangs Anti-Atomkraft-Schockern so leer "wie nach dem Abwurf einer Neutronenbombe", und Florian, der seinen Protest-Anstecker natürlich längst irgendwo verloren hat, krault den knurrenden Polizeihund noch einmal freundschaftlich hinter dem Ohr, bevor er ihm den finalen Rettungsschuss verpasst. So führt Jo Lendle seine Geschichte stringent und logisch zu einem fulminanten Schluss, ohne unterwegs an Spannung zu verlieren.

Jo Lendle: "Mein letzter Versuch, die Welt zu retten". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 249 S., geb., 19,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Laut Alex Rühle hat Jo Lendle das doppelte Wissen: Er weiß, wie man schreibt - Lendles Debütroman fand Rühle sehr gelungen - , und er weiß, wovon er schreibt - Lendle ist 1968 geboren, wie sein Romanheld. Dennoch scheint für Rühle einiges im Buch nicht zu gelingen. Denn die Beschreibungen der Bundesrepublik in den achtziger Jahren geraten Lendle zu exemplarisch, wie Rühle findet, so dass man sich eher an eine Museumsbesichtigung erinnert fühle, mit all der Blassheit die einem solchen Unterfangen innewohnt. Ein Lichtblick ist für Rühle die Liebesgeschichte innerhalb des Textes: "zart, hilflos und doch stark". Allerdings werde auch diese wieder von Lendles stetiger Symbolträchtigkeit überschattet. Am Ende will Rühle nicht mehr anders, als der Zeitdiagnose Lendles ein abschließendes "Amen" entgegnen.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Psychologisch überzeugend, sprachlich ausgewogen - anschauliche Metaphern, wohldosiert." Deutschlandradio Kultur