Thomas Manns Schwiegermutter liefert ein einzigartiges Zeugnis über die Zerstörung des jüdischen Großbürgertums im nationalsozialistischen München.Die einstmals gesellschaftlich, kulturell und auch materiell herausragende Münchener Familie Pringsheim war 1933 den nationalsozialistischen Repressionen ausgeliefert. In den 375 Briefen an ihre Tochter Katia, die bereits 1933 mit Thomas Mann Deutschland verlassen hatte, trotzte Hedwig Pringsheim dem sie umgebenden und sie selbst betreffenden Unrecht mit Verschlüsselungen sowie zahlreichen literarischen, musikalischen und historischen Anspielungen. Bei aller witzigen Offenheit sind ihre Briefe daher buchstäblich versiegelt. Der in seiner Art beispiellose mütterliche »Nachrichtendienst« (15.10.1934) der Hedwig Pringsheim erlaubt einzigartige Einblicke in das Münchener Leben während der ersten Jahre der NS-Diktatur.Der Verlust der Gegenbriefe Katia Manns lässt sich durch die Tagebücher Thomas Manns inhaltlich weitgehend kompensieren. Beider Dechiffrierung und ausführlichen Kommentierung dieses einzigartigen document humain halfen Informationen aus den Tagebüchern Hedwig Pringsheims ebenso wie neu aufgefundene Briefe von und an Thomas, Katia und Erika Mann sowie Klaus und Peter Pringsheim.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2013Dein niedliches Verstehstemich
Heiter, verrätselt, anspielungsreich und manchmal böse: Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim war eine grandiose Briefautorin. Das zeigt die Korrespondenz mit ihrer Tochter Katia.
Sie war eine "berühmt schöne Frau", heißt es in den Memoiren einer Beobachterin über Hedwig Pringsheim, und habe dazu geneigt, ihren Mitmenschen mit freundlichstem Ton, aber spitzer Zunge "unangenehme Wahrheiten" zu sagen. Vor allem liebte sie es nicht, "älter zu werden, und die weibliche Jugend hübsch heranwachsen zu sehen. Alles fürchtete sich vor ihr, auch die eigene Tochter."
Hedwig Pringsheim, Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und des "Kladderadatsch"-Redakteurs Ernst Dohm, war als junge Schauspielerin mit gutem Aussehen und überschaubarem Talent vom Erbmillionär Alfred Pringsheim, demnächst Professor für Mathematik in München, gleichsam von der Bühne weg geheiratet worden. Ihre Tochter Katia, jüngstes von fünf Kindern, heiratete 1905 Thomas Mann. Doch nicht nur vom Strahlen des Nobelpreisträgers dringt Licht zur Schwiegermutter, die in München ein großes Haus führte und mit Maximilian Harden korrespondierte. Aus ihr selbst heraus leuchtet es zu uns herüber. Dass sie eine große Briefautorin war, ahnten wir seit den Büchern des Ehepaars Jens ("Frau Thomas Mann" und "Katias Mutter"). Durch den vorliegenden Band der Briefe an ihre Tochter Katia aus den Jahren 1933 bis 1941 wissen wir es.
Dass diese Briefe, die sie selbst treffend als "Liebeskorrespondenz" bezeichnet, nun in einer zweibändigen, voluminösen, von Stiftungen geförderten Edition vorliegen, ist ein Glücksfall und eine große wissenschaftliche Tat. Und die Entscheidung des Thomas-Mann-Archivs, vor einigen Jahren eine dilettantisch anmutende Auswahlausgabe der Briefe zu unterbinden (F.A.Z. vom 26. September 2009), um auf eine Gesamtedition zu dringen, erweist sich als uneingeschränkt richtig.
Die politische Realität des "Dritten Reiches" dringt nur gelegentlich in die Briefe Hedwig Pringsheims, am ehesten noch, wenn es konkret um die Belange der Familie Thomas Manns, die seit 1933 im Exil lebte, geht, zum Beispiel die Beschlagnahmung ihres Hauses, der "Poschi". Man hat den Eindruck, nicht allein der Gedanke an einen Zensor hält die Schreiberin ab. Golo Mann schrieb einmal von der "zarten Bewunderung" seiner Großmutter für Hitler. Sie besucht etwa die Einweihung des Ehrenmals für die Gefallenen des "Hitlerputsches", berichtet spöttisch davon im Brief an die Tochter ("Daß die Toten beim letzten Appell laut und vernehmlich mit ,Hier!' antworteten, war ja recht unheimlich"), ist aber zugleich von Stimmung, Aufmarsch und Gesang eingenommen. An Hedwig Pringsheim und ihrem Mann zeigt sich beispielhaft die Tragik des assimilierten jüdischen Großbürgertums, das gut patriotisch in der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein glaubte und nicht wahrhaben wollte, dass diese Gesellschaft sie nun mit Macht und Gewalt herauszudrängen bestrebt war. Angeborener Optimismus, aber auch ihre Neigung zum Nichtsehenwollen verhinderten, dass Hedwig Pringsheim frühzeitig erkannte, was die deutschen Juden erwartete.
Von den Entrechtungen, Demütigungen, dem Abdrängen aus der Gesellschaft liest man auch in ihren Briefen, vorsichtig umschrieben und für Uneingeweihte kaum zu entschlüsseln - nicht einmal Katia verstand alles, wie ihre Mutter bemerkte: "Ganz deitlich werde ich mich, Schwierigkeiten halber, wol kaum ausgequetscht haben, aber im wesentlichen hast du doch eine ganz niedliche Verstehstemich entfaltet." Die enorme Leistung des Herausgeber Dirk Heißerers besteht darin, mit dem Kommentar dies alles lesbar und verständlich zu machen. Ein gewisser Hang zur Detailobsession ist da zu verschmerzen.
Man erfährt von den erzwungenen Umzügen in immer kleinere Wohnungen, vom Entzug der Reisepässe, von den "Judengesetzen", die sie betreffen, dem Entzug der Lehrerlaubnis für ihren Mann, von den Schwierigkeiten vieler Freunde und Verwandter, manche sind "schwer verreist", heißt: im Konzentrationslager Dachau. Doch Hedwig Pringsheim klammert sich an den Umstand, dass sie durch ihr Netzwerk immer noch privilegiert und vermeintlich vor dem Schlimmsten geschützt sind - "arische" Dienstmädchen dürfen sie mit einer Sondergenehmigung behalten. Was ihnen dennoch widerfährt, nimmt sie, nicht nur codiert, mit grimmigem Humor und tapfer vorausblickend, sogar noch den dreisten behördlich angeordneten Raub ihrer Kunstschätze und Schmuckstücke 1938: "Man hat uns freundlichst erleichtert: Besitz ist Last." Sie sei "von diesen Sicherungsmaßregeln hochbefriedigt". Den von ihrer Tochter aus der Schweiz, später aus Amerika immer wieder formulierten Vorschlag zur Emigration weist sie von sich: "Lieber in Deutschland ehrlich sterben, als in Kalifornien jämmerlich verderben." Zumal sie vom Emigrantenvolk nicht viel hält und in diesem Kontext sogar den Schwiegersohn leise kritisiert. Mit Thomas Manns "Korrodi-Brief" in der "Neuen Zürcher Zeitung" im Februar 1936 ist sie nicht einverstanden und schreibt verschlüsselt an Katia, er hätte sich nicht so entschieden an die Seite der Emigranten stellen sollen.
Der Ton der auch orthographisch originellen Briefe ist heiter, beschwingt, verrätselt und anspielungsreich, spitz und bisweilen auch bös - die Spitznamen im Hause Pringsheim sind es ohnehin, da hatte der um Katia werbende Thomas Mann als "leberleidender Rittmeister" noch eher Glück gehabt. Ein ständiger, aber langweiliger Teegast wird das "Zeitraubtier" genannt, eine Nachbarin heißt "das Geschmeiß", ein Enkel "Kakerlake", und eine typische Briefstelle Hedwig Prinsgheims lautet: "Gestern hatten wir zum Tee den Binz, der um's Gesäß immer umfangreicher wird und wieder viele Neuigkeiten wußte, die nicht stimmten." Es war der Konversationston der Pringsheims, den Thomas Mann literarisch aufnahm und in "Wälsungenblut" den Aarenhold-Zwillingen zuschrieb. Mit "scharfer Zunge" werde gesprochen, "verletzend und wahrscheinlich doch nur aus Freude am guten Wort, so dass es pedantisch gewesen wäre, ihnen gram zu sein". Was mancher wohl doch gewesen wäre, wenn er oder sie Bescheid gewusst hätte. "G.G." etwa umschreibt das Hausmädchen der Manns und steht für "Gänsegesicht". Dass die "unteren Schichten" öfters schlecht wegkommen, verweist auf Hedwig Pringsheims Sinn für Rangunterschiede, auf ihren Blick von oben auf die Welt. Im Kern ist sie aber nicht überheblich und dünkelhaft: Dass sie einnehmend und hilfsbereit ist, großherzig, gerade auch "unteren Schichten" gegenüber, mit Worten und Taten hilft, oft mit Geld, gehört auch zum komplexen Bild dieser großen Dame aus einer versunkenen Epoche.
Vor allem ist sie eine Beobachterin, neugierig und offen, auf ihre Art eine Schriftstellerin, Spezialgebiet: Briefe. Jene an ihre Tochter sind ihre schönsten, ergreifendsten: funkelnd vor Witz, plaudernd, verklatscht auch, heiter mit Sinn für Abgründe, großen politischen Fragen weniger zugeneigt als alltäglichen Dingen, die sie mit scharfer Beobachtungsgabe mitteilte. Zum Thema Tod etwa: "Im Gegensatz zu meinen Mädchen, die eine echte Münchner Vorliebe für Leichen haben, ist mir der Tote ein unheimlicher Gegenstand, und ich habe den hier üblichen Besuch der Leichenhäuser stets perhorrescirt." Nun sei gerade die Mutter ihrer Vermieterin gestorben, und die Tote habe in der Wohnung unter ihr die Nacht über gelegen, "und mir grauste etwas". Aber (das Dienstmädchen) Sophie ging gleich hinunter, denn sie sieht Leichen "gar so gern. Eben wird sie begraben ...; dass sie nicht in einem Sarge, sondern nach jüdischem Ritus in einer ordinären Kiste begraben wird, wird ihrer Auferstehung hoffentlich nicht im Wege stehen."
Kurz nach Kriegsausbruch, in letzter Sekunde, entkommen die greisen Pringsheims dem Holocaust, fliehen, dank höchster Protektion, im Oktober 1939 in die Schweiz. Nun ist es Hedwig Pringsheim aber doch ein Anliegen, die Einschätzung ihrer Tochter, die beiden Alten hätten besser in München bleiben sollen, da sie sich dort so offenkundig wohl gefühlt hätten, zu korrigieren. In ihrem ersten Brief, der nicht mehr den Blick des Zensors zu fürchten hat, soll die Tochter erfahren, wie es wirklich zuletzt um ihr Leben im braunen München stand: "Also erstens mußten wir aus unsrer Wonung, da das Haus an die Partei verkauft war, bis zum 15/11 von allen Mietern evakuirt werden mußte und Fay als J(ude) keine anständige Wonung mehr bekommen hätte und irgendwo ,untergebracht' worden wäre. Dann haben wir seit 2 Jaren kein Theater, kein Koncert, kein Kino, keine Ausstellung mehr besuchen dürfen, an gewissen Gedenktagen nach 12 Ur mittags nicht mehr auf die Straße gehen. Daß er sich Alfred Israel unterschreiben mußte, wurmte ihn auch, ebenso daß er seine Lebensmittelkarten bei der jüdischen Gemeinde abholen mußte und nur in bestimmten entlegenen Geschäften kaufen durfte (was Köchin Else natürlich nicht tat). Natürlich durften ihn die Kollegen, da sie Beamte, auch nicht besuchen; daß sie es dennoch taten, taten sie auf ihr Risiko. Genügt's? ich denke, ja." Noch auf der Bahnfahrt ins Exil sei Katias Vater als "letzte Schmach" bei einer Durchsuchung gedemütigt und brutal misshandelt worden. "Ich habe ihn nie so empört gesehen, wie nach dieser Erfarung. Vor solchen Dingen sind wir hier nun doch sicher."
Sicher, aber melancholisch steht es gleichwohl. Ihr Mann legt sich zum Sterben nieder, ist noch einmal mit Kaviar zum Aufstehen zu überreden, doch der Krieg, die fremde Umgebung, das hohe Alter zehren auch an Hedwig Pringsheim, selbst wenn sie sich bemüht, es in den Briefen mit Humor zu überdecken, etwa wenn sie sich über einen langweiligen Besucher beschwert, dieser habe sie "beinahe gewahnsinnigt". Schließlich stirbt Alfred Pringsheim mit 91 Jahren. Es folgen letzte Briefe, eine traurige Lektüre. Hedwig Pringsheim bemerkt den eigenen Verfall ("es ist alles ein bischen wirre in meinem Kopf") und den Verlust ihrer Kraft, vor allem ihrer Wortkraft: "Ich schließe für heute, denn dies ist kein Brief, dies ist nur ein Briefumschlag." Nach Amerika umsiedeln, worauf die Tochter drängt, will sie nicht: "Es ist ein fester Entschluss, den du, meine Lieblingstochter, ja auch billigen mußt. Ich würde auch - vorausgesetzt, daß ich überhaupt ankäme, was ja höchst zweifelhaft ist - nur lästig fallen, und das würde mir so schrecklich unangenehm sein."
Dass sie ihre Katia nicht wiedersehen wird ("Ade. Ade, mein Töchterchen"), weiß Hedwig Pringsheim. Sie ahnte es vielleicht schon, als sie im Juli 1938 in Konstanz, nur wenige Meter von der Tochter entfernt, am Grenzübertritt, nur für ein kurzes Treffen, gehindert wurde. Da hatten selbst sie Lebensmut und Witz, die Grundbässe ihres Lebens und ihrer Briefe, für einen Moment verlassen, "denn anders wie schwer kann man's denn wol kaum nehmen".
TILMANN LAHME
Hedwig Pringsheim: "Mein Nachrichtendienst".
Briefe an Katia Mann 1933-1941.
Hrsg. und kommentiert von Dirk Heißerer. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 1716 S., Abb., 89,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heiter, verrätselt, anspielungsreich und manchmal böse: Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim war eine grandiose Briefautorin. Das zeigt die Korrespondenz mit ihrer Tochter Katia.
Sie war eine "berühmt schöne Frau", heißt es in den Memoiren einer Beobachterin über Hedwig Pringsheim, und habe dazu geneigt, ihren Mitmenschen mit freundlichstem Ton, aber spitzer Zunge "unangenehme Wahrheiten" zu sagen. Vor allem liebte sie es nicht, "älter zu werden, und die weibliche Jugend hübsch heranwachsen zu sehen. Alles fürchtete sich vor ihr, auch die eigene Tochter."
Hedwig Pringsheim, Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und des "Kladderadatsch"-Redakteurs Ernst Dohm, war als junge Schauspielerin mit gutem Aussehen und überschaubarem Talent vom Erbmillionär Alfred Pringsheim, demnächst Professor für Mathematik in München, gleichsam von der Bühne weg geheiratet worden. Ihre Tochter Katia, jüngstes von fünf Kindern, heiratete 1905 Thomas Mann. Doch nicht nur vom Strahlen des Nobelpreisträgers dringt Licht zur Schwiegermutter, die in München ein großes Haus führte und mit Maximilian Harden korrespondierte. Aus ihr selbst heraus leuchtet es zu uns herüber. Dass sie eine große Briefautorin war, ahnten wir seit den Büchern des Ehepaars Jens ("Frau Thomas Mann" und "Katias Mutter"). Durch den vorliegenden Band der Briefe an ihre Tochter Katia aus den Jahren 1933 bis 1941 wissen wir es.
Dass diese Briefe, die sie selbst treffend als "Liebeskorrespondenz" bezeichnet, nun in einer zweibändigen, voluminösen, von Stiftungen geförderten Edition vorliegen, ist ein Glücksfall und eine große wissenschaftliche Tat. Und die Entscheidung des Thomas-Mann-Archivs, vor einigen Jahren eine dilettantisch anmutende Auswahlausgabe der Briefe zu unterbinden (F.A.Z. vom 26. September 2009), um auf eine Gesamtedition zu dringen, erweist sich als uneingeschränkt richtig.
Die politische Realität des "Dritten Reiches" dringt nur gelegentlich in die Briefe Hedwig Pringsheims, am ehesten noch, wenn es konkret um die Belange der Familie Thomas Manns, die seit 1933 im Exil lebte, geht, zum Beispiel die Beschlagnahmung ihres Hauses, der "Poschi". Man hat den Eindruck, nicht allein der Gedanke an einen Zensor hält die Schreiberin ab. Golo Mann schrieb einmal von der "zarten Bewunderung" seiner Großmutter für Hitler. Sie besucht etwa die Einweihung des Ehrenmals für die Gefallenen des "Hitlerputsches", berichtet spöttisch davon im Brief an die Tochter ("Daß die Toten beim letzten Appell laut und vernehmlich mit ,Hier!' antworteten, war ja recht unheimlich"), ist aber zugleich von Stimmung, Aufmarsch und Gesang eingenommen. An Hedwig Pringsheim und ihrem Mann zeigt sich beispielhaft die Tragik des assimilierten jüdischen Großbürgertums, das gut patriotisch in der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein glaubte und nicht wahrhaben wollte, dass diese Gesellschaft sie nun mit Macht und Gewalt herauszudrängen bestrebt war. Angeborener Optimismus, aber auch ihre Neigung zum Nichtsehenwollen verhinderten, dass Hedwig Pringsheim frühzeitig erkannte, was die deutschen Juden erwartete.
Von den Entrechtungen, Demütigungen, dem Abdrängen aus der Gesellschaft liest man auch in ihren Briefen, vorsichtig umschrieben und für Uneingeweihte kaum zu entschlüsseln - nicht einmal Katia verstand alles, wie ihre Mutter bemerkte: "Ganz deitlich werde ich mich, Schwierigkeiten halber, wol kaum ausgequetscht haben, aber im wesentlichen hast du doch eine ganz niedliche Verstehstemich entfaltet." Die enorme Leistung des Herausgeber Dirk Heißerers besteht darin, mit dem Kommentar dies alles lesbar und verständlich zu machen. Ein gewisser Hang zur Detailobsession ist da zu verschmerzen.
Man erfährt von den erzwungenen Umzügen in immer kleinere Wohnungen, vom Entzug der Reisepässe, von den "Judengesetzen", die sie betreffen, dem Entzug der Lehrerlaubnis für ihren Mann, von den Schwierigkeiten vieler Freunde und Verwandter, manche sind "schwer verreist", heißt: im Konzentrationslager Dachau. Doch Hedwig Pringsheim klammert sich an den Umstand, dass sie durch ihr Netzwerk immer noch privilegiert und vermeintlich vor dem Schlimmsten geschützt sind - "arische" Dienstmädchen dürfen sie mit einer Sondergenehmigung behalten. Was ihnen dennoch widerfährt, nimmt sie, nicht nur codiert, mit grimmigem Humor und tapfer vorausblickend, sogar noch den dreisten behördlich angeordneten Raub ihrer Kunstschätze und Schmuckstücke 1938: "Man hat uns freundlichst erleichtert: Besitz ist Last." Sie sei "von diesen Sicherungsmaßregeln hochbefriedigt". Den von ihrer Tochter aus der Schweiz, später aus Amerika immer wieder formulierten Vorschlag zur Emigration weist sie von sich: "Lieber in Deutschland ehrlich sterben, als in Kalifornien jämmerlich verderben." Zumal sie vom Emigrantenvolk nicht viel hält und in diesem Kontext sogar den Schwiegersohn leise kritisiert. Mit Thomas Manns "Korrodi-Brief" in der "Neuen Zürcher Zeitung" im Februar 1936 ist sie nicht einverstanden und schreibt verschlüsselt an Katia, er hätte sich nicht so entschieden an die Seite der Emigranten stellen sollen.
Der Ton der auch orthographisch originellen Briefe ist heiter, beschwingt, verrätselt und anspielungsreich, spitz und bisweilen auch bös - die Spitznamen im Hause Pringsheim sind es ohnehin, da hatte der um Katia werbende Thomas Mann als "leberleidender Rittmeister" noch eher Glück gehabt. Ein ständiger, aber langweiliger Teegast wird das "Zeitraubtier" genannt, eine Nachbarin heißt "das Geschmeiß", ein Enkel "Kakerlake", und eine typische Briefstelle Hedwig Prinsgheims lautet: "Gestern hatten wir zum Tee den Binz, der um's Gesäß immer umfangreicher wird und wieder viele Neuigkeiten wußte, die nicht stimmten." Es war der Konversationston der Pringsheims, den Thomas Mann literarisch aufnahm und in "Wälsungenblut" den Aarenhold-Zwillingen zuschrieb. Mit "scharfer Zunge" werde gesprochen, "verletzend und wahrscheinlich doch nur aus Freude am guten Wort, so dass es pedantisch gewesen wäre, ihnen gram zu sein". Was mancher wohl doch gewesen wäre, wenn er oder sie Bescheid gewusst hätte. "G.G." etwa umschreibt das Hausmädchen der Manns und steht für "Gänsegesicht". Dass die "unteren Schichten" öfters schlecht wegkommen, verweist auf Hedwig Pringsheims Sinn für Rangunterschiede, auf ihren Blick von oben auf die Welt. Im Kern ist sie aber nicht überheblich und dünkelhaft: Dass sie einnehmend und hilfsbereit ist, großherzig, gerade auch "unteren Schichten" gegenüber, mit Worten und Taten hilft, oft mit Geld, gehört auch zum komplexen Bild dieser großen Dame aus einer versunkenen Epoche.
Vor allem ist sie eine Beobachterin, neugierig und offen, auf ihre Art eine Schriftstellerin, Spezialgebiet: Briefe. Jene an ihre Tochter sind ihre schönsten, ergreifendsten: funkelnd vor Witz, plaudernd, verklatscht auch, heiter mit Sinn für Abgründe, großen politischen Fragen weniger zugeneigt als alltäglichen Dingen, die sie mit scharfer Beobachtungsgabe mitteilte. Zum Thema Tod etwa: "Im Gegensatz zu meinen Mädchen, die eine echte Münchner Vorliebe für Leichen haben, ist mir der Tote ein unheimlicher Gegenstand, und ich habe den hier üblichen Besuch der Leichenhäuser stets perhorrescirt." Nun sei gerade die Mutter ihrer Vermieterin gestorben, und die Tote habe in der Wohnung unter ihr die Nacht über gelegen, "und mir grauste etwas". Aber (das Dienstmädchen) Sophie ging gleich hinunter, denn sie sieht Leichen "gar so gern. Eben wird sie begraben ...; dass sie nicht in einem Sarge, sondern nach jüdischem Ritus in einer ordinären Kiste begraben wird, wird ihrer Auferstehung hoffentlich nicht im Wege stehen."
Kurz nach Kriegsausbruch, in letzter Sekunde, entkommen die greisen Pringsheims dem Holocaust, fliehen, dank höchster Protektion, im Oktober 1939 in die Schweiz. Nun ist es Hedwig Pringsheim aber doch ein Anliegen, die Einschätzung ihrer Tochter, die beiden Alten hätten besser in München bleiben sollen, da sie sich dort so offenkundig wohl gefühlt hätten, zu korrigieren. In ihrem ersten Brief, der nicht mehr den Blick des Zensors zu fürchten hat, soll die Tochter erfahren, wie es wirklich zuletzt um ihr Leben im braunen München stand: "Also erstens mußten wir aus unsrer Wonung, da das Haus an die Partei verkauft war, bis zum 15/11 von allen Mietern evakuirt werden mußte und Fay als J(ude) keine anständige Wonung mehr bekommen hätte und irgendwo ,untergebracht' worden wäre. Dann haben wir seit 2 Jaren kein Theater, kein Koncert, kein Kino, keine Ausstellung mehr besuchen dürfen, an gewissen Gedenktagen nach 12 Ur mittags nicht mehr auf die Straße gehen. Daß er sich Alfred Israel unterschreiben mußte, wurmte ihn auch, ebenso daß er seine Lebensmittelkarten bei der jüdischen Gemeinde abholen mußte und nur in bestimmten entlegenen Geschäften kaufen durfte (was Köchin Else natürlich nicht tat). Natürlich durften ihn die Kollegen, da sie Beamte, auch nicht besuchen; daß sie es dennoch taten, taten sie auf ihr Risiko. Genügt's? ich denke, ja." Noch auf der Bahnfahrt ins Exil sei Katias Vater als "letzte Schmach" bei einer Durchsuchung gedemütigt und brutal misshandelt worden. "Ich habe ihn nie so empört gesehen, wie nach dieser Erfarung. Vor solchen Dingen sind wir hier nun doch sicher."
Sicher, aber melancholisch steht es gleichwohl. Ihr Mann legt sich zum Sterben nieder, ist noch einmal mit Kaviar zum Aufstehen zu überreden, doch der Krieg, die fremde Umgebung, das hohe Alter zehren auch an Hedwig Pringsheim, selbst wenn sie sich bemüht, es in den Briefen mit Humor zu überdecken, etwa wenn sie sich über einen langweiligen Besucher beschwert, dieser habe sie "beinahe gewahnsinnigt". Schließlich stirbt Alfred Pringsheim mit 91 Jahren. Es folgen letzte Briefe, eine traurige Lektüre. Hedwig Pringsheim bemerkt den eigenen Verfall ("es ist alles ein bischen wirre in meinem Kopf") und den Verlust ihrer Kraft, vor allem ihrer Wortkraft: "Ich schließe für heute, denn dies ist kein Brief, dies ist nur ein Briefumschlag." Nach Amerika umsiedeln, worauf die Tochter drängt, will sie nicht: "Es ist ein fester Entschluss, den du, meine Lieblingstochter, ja auch billigen mußt. Ich würde auch - vorausgesetzt, daß ich überhaupt ankäme, was ja höchst zweifelhaft ist - nur lästig fallen, und das würde mir so schrecklich unangenehm sein."
Dass sie ihre Katia nicht wiedersehen wird ("Ade. Ade, mein Töchterchen"), weiß Hedwig Pringsheim. Sie ahnte es vielleicht schon, als sie im Juli 1938 in Konstanz, nur wenige Meter von der Tochter entfernt, am Grenzübertritt, nur für ein kurzes Treffen, gehindert wurde. Da hatten selbst sie Lebensmut und Witz, die Grundbässe ihres Lebens und ihrer Briefe, für einen Moment verlassen, "denn anders wie schwer kann man's denn wol kaum nehmen".
TILMANN LAHME
Hedwig Pringsheim: "Mein Nachrichtendienst".
Briefe an Katia Mann 1933-1941.
Hrsg. und kommentiert von Dirk Heißerer. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 1716 S., Abb., 89,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In zwei Bänden sind nun nicht nur die Tagebücher Hedwig Pringsheims aus den Jahren 1885 bis 1897 erschienen, sondern auch ihre zwischen 1933 und 1941 verfassten Briefe an Katia Mann von Dirk Heißerer unter dem Titel "Mein Nachrichtendienst" herausgegeben worden, berichtet Rezensent Stephan Speicher. Der Kritiker liest die Schriften zwar mit Interesse, muss aber durchaus gestehen, dass er sich streckenweise ein wenig gelangweilt hat: In den Tagebüchern erfährt er etwa, wie die "Grand Dame" der Prinzenregentenzeit und Schwiegermutter Thomas Manns, Gäste empfing, Theater- und Opernbesuche knapp bewertete oder auch, wann ihre Menstruation einsetzte - so bekommt Speicher zwar einen Eindruck von den Lebensformen der Oberschicht, allzu viel Persönliches liest er allerdings nicht. Auch die von Dirk Heißerer sorgfältig editierten und erläuterten, im Exil verfassten Briefe an ihre Tochter Katia verraten nicht wesentlich mehr, konstatiert der Kritiker, der hier zwar interessiert und erstaunt Hedwigs Ansichten über Hitler und Judentum liest, aber dennoch private Einblicke vermisst. Nichtsdestotrotz hat sich der Rezensent mit den Schriften der eigensinnigen und charmanten Dame durchaus amüsiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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