Peter Demetz ist der letzte Zeuge einer Stadt, die wie keine andere über Jahrhunderte für das fruchtbare Miteinander der verschiedenen europäischen Kulturen stand. Deutsche, Tschechen und Juden verband in Prag eine wechselhafte gemeinsame Geschichte, die mit Hitler endgültig zu Ende ging. Der Zeit der deutschen Okkupation zwischen 1939 und 1945, zugleich die finstersten Jahre, die er in seiner Heimatstadt verbrachte, hat Peter Demetz nun endlich ein großes Erinnerungsbuch gewidmet, das ein einzigartiges Licht auf eine alles verändernde Epoche der europäischen Geschichte wirft.
Neu aufgelegt: Peter Demetz' "'Mein Prag' handelt von Menschen, die für den Verlauf der Dinge verantwortlich bleiben." (Ingeborg Harms, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Neu aufgelegt: Peter Demetz' "'Mein Prag' handelt von Menschen, die für den Verlauf der Dinge verantwortlich bleiben." (Ingeborg Harms, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2007In der Not drängen sich die Geschichten
Erinnerungen aus einer Stadt im Würgegriff: "Mein Prag" ist der bewegende Bericht über die Jahre der deutschen Okkupation. Am morgigen Sonntag wird Peter Demetz fünfundachtzig Jahre alt.
Von Ingeborg Harms
Mein Prag" ist das bisher persönlichste Buch des Literaturwissenschaftlers Peter Demetz. Er erzählt es in zwei Stimmen, die auch typografisch voneinander abgesetzt sind. Die zartere Schrift handelt von seiner Jugend unter deutscher Besatzung, in den kräftiger gesetzten Kapiteln verschafft Demetz seinen Lesern einen historisch abgeklärten Überblick über die kulturelle Szene und analysiert Schlüsselmomente der politischen Entwicklung. Auch hier ist der Zeitzeuge implizit immer gegenwärtig und versorgt uns mit Details, die keine Quelle verzeichnet: "Ach Manon, Manon die Sündige", sollen junge Männer bei ihren Rendezvous mit einem Vitezslav Nezval-Zitat verschwörerisch geflüstert haben - "(Ich weiß es, denn ich war dabei)".
Der emeritierte Professor der amerikanischen Yale University hat das bittere Ende der ersten Tschechoslowakischen Republik mehr als mancher Landsmann am eigenen Leibe erfahren, denn wenn seine biografische Situation ihn zum idealen Bürger der liberalen Masaryk-Regierung machte, so ließ sie ihn für die nationalsozialistische Protektoratspolitik zum störenden Fremdkörper werden. Demetz' Jugend war nicht nur von seinem Status als Halbjude gezeichnet, sondern auch von dem Umstand, dass alles, was der lesebegierige und theaterbegeisterte Prager liebte, plötzlich auf dem Index stand. Seine Interessen förderte ein Vater, der täglich Gedichte schrieb und den Expressionismus auf die Prager Bühne brachte. Er wirkte als Regisseur und Dramaturg am Deutschen Theater, und als das avantgardistische Programm 1920 einen Aufruhr tschechischer Nationalisten provozierte, gründete er sein eigenes Haus. Seine aus Tirol eingewanderte Familie lebte in der Prager Altstadt, einen "Katzensprung" vom Geburtshaus Franz Kafkas entfernt, eines Autors, dem Demetz seine Dissertation gewidmet hat und der "Mein Prag" wie ein Schutzpatron begleitet.
Demetz' Mutter kam aus einer jüdischen Familie, die um die Jahrhundertwende vor ländlichem Antisemitismus in die Hauptstadt geflüchtet war. Einer ihrer Brüder brachte es zum Millionär, bevor er mit seiner Familie in Auschwitz ins Gas geschickt wurde. Eine Schwester machte in Deutschland als Schauspielerin Karriere, heiratete den Dramatiker Paul Kornfeld und in zweiter Ehe den Proust-Übersetzer Friedrich Burschell. Demetz' Mutter führte einen Modesalon: dem Buch beigefügte Fotos zeigen den eleganten Schnitt ihrer Kostüme. Ihre Ehe verlief nicht glücklich, denn Demetz senior verbrachte viel Zeit auf Reisen und mit weiblichen Bühnentalenten. Sein Sohn bekennt sich zur Melancholie angesichts eines Vaters, der "mit großen Hoffnungen begann" und den die Umstände in eine komische Figur verwandelten. Nach der Scheidung der Eltern geistert er als Zuschauer durch die Erinnerungen des Sohnes, steht vor den Toren des Sammelortes, an den der Autor seine Mutter zur Zwangsübersiedlung nach Theresienstadt begleitet. Und auch als Demetz selbst von einem Lager ins Prager Gestapo-Gefängnis überführt wird, wartet sein Vater am Bahnhof, um im Laufschritt ein paar Sätze mit ihm auszutauschen. Einmal bricht er am Ende der Welt aus einem Gebüsch und erfreut das Zwangsarbeiterkommando des Sohnes mit einer Salami, die am Lagerfeuer in dünnen Scheiben herumgereicht wird.
Den Würgegriff der Einschränkungen, die jüdischen Bürgern auferlegt wurden, schildert Peter Demetz lapidar, gegen jedes Pathos gefeit. Und doch sind seine Reminiszenzen, etwa an die wenigen Spaziergänge, die er unerlaubt mit der Mutter in öffentlichen Parks unternahm, von großer Zärtlichkeit. Er unternimmt keinen Versuch, seine Gefühle über die Internierung seiner Familie in Worte zu fassen. Stattdessen beschäftigt sich eines der historischen Kapitel mit dem Theater in Theresienstadt und gibt eine Vorstellung von der Widerstandskraft, mit der die unterschiedlichsten Begabungen bis zuletzt ihrer Lage trotzten. Der Perspektive der Verfolgten und ihren Hoffnungen treu, nimmt uns das Buch auf die Bahnfahrt mit, die den Autor in die Gefangenschaft führte. Gespannt studieren die Deportierten jedes Bahnhofsschild: "Unsere ,Weisen', ein selbsternanntes Komitee kenntnisreicher Ingenieure, verkündeten, es sei nicht ausgeschlossen, daß unser Zug nach Auschwitz fahre." Er biegt nach Breslau ab, doch wenig später wird Demetz tatsächlich zum Verhör nach Auschwitz Stadt gebracht, "eine merkwürdige Idylle, dem Inferno sehr nah". An Orten wie dem dortigen Landesgefängnis hatte man, wie der Autor mit dem für ihn typischen sang=froid bemerkt, "gute Chancen, auf die interessantesten Leute zu treffen, gegen die schon lange ermittelt wurde."
In der Not drängen sich die Geschichten, jeder hat von phantastischen Abenteuern zu erzählen, und vielen bleibt für diese Berichte nicht viel Zeit. In den Zügen, Lagern und Bahnhöfen wird sich Demetz' epischer Duktus gefestigt haben, der unbeirrbar und energisch wie ein breiter Strom dahinfließt und dabei vielerlei Treibgut aufliest. Es taucht in plötzlichen Registerwechseln von absurder Komik auf, die Demetz meistens in Klammern setzt. Geradezu pantomimisch relativieren diese Aparts den tragischen Verlauf der Dinge und erinnern gleichsam mit Brechtschem V-Effekt daran, dass der Geschichte in jedem Moment eine andere Richtung offenstand.
Der wehmütige Realist in Peter Demetz kommt zum Zuge, wenn er von den Grenzen einer Liebesgeschichte erzählt, die sich zwischen ihm, dem Halbjuden, und einer jungen Sudetendeutschen entspann. Seine scheuen Avancen werden regelmäßig entmutigt, selbst in der Kammer, die beide auf einer Skihütte teilen: "Ich aber fiel auf die Knie (es war mir ernst) und bat sie, mich für einen kurzen Moment in ihr Bett zu lassen." Kein Leser hätte an dieser Stelle den Ernst der Lage bezweifelt, und doch hört Demetz das literarische Klischee heraus und gibt schon durch den Einschub zu verstehen, dass seiner Emphase das Zwingende fehlte und seiner Freundin die Flucht in eine ironische Interpretation des Kniefalls übrig blieb: "Sie sagte, ich wisse doch selbst, daß das unmöglich sei."
Von anderer Art ist die Klammer, die Demetz in das dem Prager Reichsprotektor Reinhard Heydrich gewidmete Kapitel einschiebt. Der frühere Marineoffizier hatte einer Geliebten "(gedankenlos) seine Verlobungsanzeige" zugeschickt. Die Düpierte erlitt einen Nervenzusammenbruch, ihr Vater rief nach dem Ehrenrat und bewirkte die Demission des "törichten" Verlobten. Der Mangel an Einfühlungskraft im Privaten kündigt die Indifferenz an, mit der Himmlers Protegé den Tod von Millionen organisieren wird, "ohne je eigenhändig jemanden umzubringen". Demetz' Buch ist auch eine Einberufung des Ehrenrats, denn unter Hinzuziehung zahlreicher Quellen wird darin über Haltung und Gewicht seiner Prager Zeitgenossen befunden. Zu ihrem Recht kommen junge Autoren, die Peter Demetz in einem von ihm veranstalteten Lyrikzirkel kennenlernte, ein Unternehmen, das der Gestapo nicht entging. "Mein Prag" enthält Gedichte ermordeter jüdischer Freunde, die Demetz damals in der Absicht aufschrieb, eine Anthologie herauszugeben.
Nach der Zwangsschließung der Universitäten traf sich die studentische Jugend in den traditionsreichen Cafés der Stadt, in Kinos, die bis zum japanischen Angriff auf Pearl Harbor weiter amerikanische Filme zeigten, und in zahlreichen Nachtklubs: "Jazz wurde zum wesentlichen Instrument, um die Illusion, mehr noch: ein beinahe körperlich wahrnehmbares Gefühl von Freiheit zu schaffen." Die Versprechen des Swing nahmen spätestens 1942, mit den nach dem Heydrich-Attentat verhängten Massenhinrichtungen, ein Ende. Demetz geht hart ins Gericht mit dem Entschluss der Londoner Exilregierung, zwei Attentäter zu entsenden. Auch im Prager Untergrund fürchtete man damals diese Maßnahme, wohl wissend, dass die "Rache der Deutschen schrecklich" sein würde. Demetz sieht sich die politischen Entscheidungsträger und ihre schicksalhaften Momente sehr genau an, wägt ab und fällt ein differenziertes Urteil.
Sein unbeirrbares Gerechtigkeitsbedürfnis ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Buch, das allen Grund hätte, mit finsteren Figuren wie Heydrich, dem Reichsprotektor K. H. Frank oder dem tschechischen Faschistenführer Radola Gajda wenig Federlesen zu machen. Man horcht auf, wenn er zu Letzterem bemerkt, er sei, "(juristisch betrachtet)", Bigamist gewesen. Als ein solcher stellte sich auch Paul de Man heraus, Demetz' Kollege in Yale. Hauptgegenstand der ihn betreffenden Enthüllungen waren problematische Artikel, die der gebürtige Belgier einst unter deutscher Besatzung geschrieben hatte. Sie setzten nicht nur de Man, sondern auch das eher ahistorische Verfahren der von ihm literaturtheoretisch vertretenen Dekonstruktion ins Zwielicht.
"Mein Prag" ist vor diesem Horizont als ein Buch zu lesen, das nicht von Strukturen und unentscheidbaren Situationen handelt, sondern von Menschen, die für den Verlauf der Dinge verantwortlich bleiben. Demetz spannt seine Erinnerungen zwischen den Querfäden der historischen Stunde und den Längsfäden individueller Biografien auf. Mit melancholischem Blick, der die Affinität zu Walter Benjamin verrät, springt die Erzählung glanzvoller Momente oft stichflammengleich ans Ende eines Lebens, das im Armenhaus, im Gefängnis, durch Mord oder Suizid beschlossen wird. Die sudetendeutsche Freundin ist, wie Demetz beim ersten Telefonanruf am Tag der Befreiung erfährt, durch eine Fliegerbombe umgekommen. Ein Satz, heißt es, "den ich mein Leben lang nicht mehr vergaß".
Als Antiquariatsangestellter lernte der Autor, die nicht regimekonformen Wünsche seiner Kunden herauszulesen, ohne auf Spione hereinzufallen. Mit Doppelbödigkeiten und mehrfachem Schriftsinn operiert auch sein Erinnerungsbuch. Unter den im Prager Protektorat produzierten tschechischen Filmen hebt er Václav Krskas "Der Zauber des Flusses" als ein Werk hervor, das nie "in ein Blut-und-Boden-Spektakel ausartet", weil es die Natur nicht mit einer Nation, sondern mit einem individuellen Schicksal verknüpft. Der titelgebende Fluss "bleibt nie stehen, und er verjüngt auf beinahe mystische Weise; wer sich in der Nähe seiner lebendigen Gewässer aufhält, kann nicht irren". Demetz' Mutter und Großmutter starben in Theresienstadt, wohin er ihnen dank der ingeniösen Beziehungen des Vaters noch hin und wieder Gedichte schickte. "Später erfuhr ich, daß die irdischen Überreste meiner Mutter verbrannt, als Asche in einem Pappkarton verwahrt und nach einer Weile in den nahen Fluß Eger geworfen worden waren, und ich stelle mir immer vor, daß die Eger sie in die mächtige Elbe mitnahm und deren Wasser sie in die freie Weite des Atlantiks trug."
- Peter Demetz: "Mein Prag". Erinnerungen 1939 bis 1945. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007. 384 S., zahlr. Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerungen aus einer Stadt im Würgegriff: "Mein Prag" ist der bewegende Bericht über die Jahre der deutschen Okkupation. Am morgigen Sonntag wird Peter Demetz fünfundachtzig Jahre alt.
Von Ingeborg Harms
Mein Prag" ist das bisher persönlichste Buch des Literaturwissenschaftlers Peter Demetz. Er erzählt es in zwei Stimmen, die auch typografisch voneinander abgesetzt sind. Die zartere Schrift handelt von seiner Jugend unter deutscher Besatzung, in den kräftiger gesetzten Kapiteln verschafft Demetz seinen Lesern einen historisch abgeklärten Überblick über die kulturelle Szene und analysiert Schlüsselmomente der politischen Entwicklung. Auch hier ist der Zeitzeuge implizit immer gegenwärtig und versorgt uns mit Details, die keine Quelle verzeichnet: "Ach Manon, Manon die Sündige", sollen junge Männer bei ihren Rendezvous mit einem Vitezslav Nezval-Zitat verschwörerisch geflüstert haben - "(Ich weiß es, denn ich war dabei)".
Der emeritierte Professor der amerikanischen Yale University hat das bittere Ende der ersten Tschechoslowakischen Republik mehr als mancher Landsmann am eigenen Leibe erfahren, denn wenn seine biografische Situation ihn zum idealen Bürger der liberalen Masaryk-Regierung machte, so ließ sie ihn für die nationalsozialistische Protektoratspolitik zum störenden Fremdkörper werden. Demetz' Jugend war nicht nur von seinem Status als Halbjude gezeichnet, sondern auch von dem Umstand, dass alles, was der lesebegierige und theaterbegeisterte Prager liebte, plötzlich auf dem Index stand. Seine Interessen förderte ein Vater, der täglich Gedichte schrieb und den Expressionismus auf die Prager Bühne brachte. Er wirkte als Regisseur und Dramaturg am Deutschen Theater, und als das avantgardistische Programm 1920 einen Aufruhr tschechischer Nationalisten provozierte, gründete er sein eigenes Haus. Seine aus Tirol eingewanderte Familie lebte in der Prager Altstadt, einen "Katzensprung" vom Geburtshaus Franz Kafkas entfernt, eines Autors, dem Demetz seine Dissertation gewidmet hat und der "Mein Prag" wie ein Schutzpatron begleitet.
Demetz' Mutter kam aus einer jüdischen Familie, die um die Jahrhundertwende vor ländlichem Antisemitismus in die Hauptstadt geflüchtet war. Einer ihrer Brüder brachte es zum Millionär, bevor er mit seiner Familie in Auschwitz ins Gas geschickt wurde. Eine Schwester machte in Deutschland als Schauspielerin Karriere, heiratete den Dramatiker Paul Kornfeld und in zweiter Ehe den Proust-Übersetzer Friedrich Burschell. Demetz' Mutter führte einen Modesalon: dem Buch beigefügte Fotos zeigen den eleganten Schnitt ihrer Kostüme. Ihre Ehe verlief nicht glücklich, denn Demetz senior verbrachte viel Zeit auf Reisen und mit weiblichen Bühnentalenten. Sein Sohn bekennt sich zur Melancholie angesichts eines Vaters, der "mit großen Hoffnungen begann" und den die Umstände in eine komische Figur verwandelten. Nach der Scheidung der Eltern geistert er als Zuschauer durch die Erinnerungen des Sohnes, steht vor den Toren des Sammelortes, an den der Autor seine Mutter zur Zwangsübersiedlung nach Theresienstadt begleitet. Und auch als Demetz selbst von einem Lager ins Prager Gestapo-Gefängnis überführt wird, wartet sein Vater am Bahnhof, um im Laufschritt ein paar Sätze mit ihm auszutauschen. Einmal bricht er am Ende der Welt aus einem Gebüsch und erfreut das Zwangsarbeiterkommando des Sohnes mit einer Salami, die am Lagerfeuer in dünnen Scheiben herumgereicht wird.
Den Würgegriff der Einschränkungen, die jüdischen Bürgern auferlegt wurden, schildert Peter Demetz lapidar, gegen jedes Pathos gefeit. Und doch sind seine Reminiszenzen, etwa an die wenigen Spaziergänge, die er unerlaubt mit der Mutter in öffentlichen Parks unternahm, von großer Zärtlichkeit. Er unternimmt keinen Versuch, seine Gefühle über die Internierung seiner Familie in Worte zu fassen. Stattdessen beschäftigt sich eines der historischen Kapitel mit dem Theater in Theresienstadt und gibt eine Vorstellung von der Widerstandskraft, mit der die unterschiedlichsten Begabungen bis zuletzt ihrer Lage trotzten. Der Perspektive der Verfolgten und ihren Hoffnungen treu, nimmt uns das Buch auf die Bahnfahrt mit, die den Autor in die Gefangenschaft führte. Gespannt studieren die Deportierten jedes Bahnhofsschild: "Unsere ,Weisen', ein selbsternanntes Komitee kenntnisreicher Ingenieure, verkündeten, es sei nicht ausgeschlossen, daß unser Zug nach Auschwitz fahre." Er biegt nach Breslau ab, doch wenig später wird Demetz tatsächlich zum Verhör nach Auschwitz Stadt gebracht, "eine merkwürdige Idylle, dem Inferno sehr nah". An Orten wie dem dortigen Landesgefängnis hatte man, wie der Autor mit dem für ihn typischen sang=froid bemerkt, "gute Chancen, auf die interessantesten Leute zu treffen, gegen die schon lange ermittelt wurde."
In der Not drängen sich die Geschichten, jeder hat von phantastischen Abenteuern zu erzählen, und vielen bleibt für diese Berichte nicht viel Zeit. In den Zügen, Lagern und Bahnhöfen wird sich Demetz' epischer Duktus gefestigt haben, der unbeirrbar und energisch wie ein breiter Strom dahinfließt und dabei vielerlei Treibgut aufliest. Es taucht in plötzlichen Registerwechseln von absurder Komik auf, die Demetz meistens in Klammern setzt. Geradezu pantomimisch relativieren diese Aparts den tragischen Verlauf der Dinge und erinnern gleichsam mit Brechtschem V-Effekt daran, dass der Geschichte in jedem Moment eine andere Richtung offenstand.
Der wehmütige Realist in Peter Demetz kommt zum Zuge, wenn er von den Grenzen einer Liebesgeschichte erzählt, die sich zwischen ihm, dem Halbjuden, und einer jungen Sudetendeutschen entspann. Seine scheuen Avancen werden regelmäßig entmutigt, selbst in der Kammer, die beide auf einer Skihütte teilen: "Ich aber fiel auf die Knie (es war mir ernst) und bat sie, mich für einen kurzen Moment in ihr Bett zu lassen." Kein Leser hätte an dieser Stelle den Ernst der Lage bezweifelt, und doch hört Demetz das literarische Klischee heraus und gibt schon durch den Einschub zu verstehen, dass seiner Emphase das Zwingende fehlte und seiner Freundin die Flucht in eine ironische Interpretation des Kniefalls übrig blieb: "Sie sagte, ich wisse doch selbst, daß das unmöglich sei."
Von anderer Art ist die Klammer, die Demetz in das dem Prager Reichsprotektor Reinhard Heydrich gewidmete Kapitel einschiebt. Der frühere Marineoffizier hatte einer Geliebten "(gedankenlos) seine Verlobungsanzeige" zugeschickt. Die Düpierte erlitt einen Nervenzusammenbruch, ihr Vater rief nach dem Ehrenrat und bewirkte die Demission des "törichten" Verlobten. Der Mangel an Einfühlungskraft im Privaten kündigt die Indifferenz an, mit der Himmlers Protegé den Tod von Millionen organisieren wird, "ohne je eigenhändig jemanden umzubringen". Demetz' Buch ist auch eine Einberufung des Ehrenrats, denn unter Hinzuziehung zahlreicher Quellen wird darin über Haltung und Gewicht seiner Prager Zeitgenossen befunden. Zu ihrem Recht kommen junge Autoren, die Peter Demetz in einem von ihm veranstalteten Lyrikzirkel kennenlernte, ein Unternehmen, das der Gestapo nicht entging. "Mein Prag" enthält Gedichte ermordeter jüdischer Freunde, die Demetz damals in der Absicht aufschrieb, eine Anthologie herauszugeben.
Nach der Zwangsschließung der Universitäten traf sich die studentische Jugend in den traditionsreichen Cafés der Stadt, in Kinos, die bis zum japanischen Angriff auf Pearl Harbor weiter amerikanische Filme zeigten, und in zahlreichen Nachtklubs: "Jazz wurde zum wesentlichen Instrument, um die Illusion, mehr noch: ein beinahe körperlich wahrnehmbares Gefühl von Freiheit zu schaffen." Die Versprechen des Swing nahmen spätestens 1942, mit den nach dem Heydrich-Attentat verhängten Massenhinrichtungen, ein Ende. Demetz geht hart ins Gericht mit dem Entschluss der Londoner Exilregierung, zwei Attentäter zu entsenden. Auch im Prager Untergrund fürchtete man damals diese Maßnahme, wohl wissend, dass die "Rache der Deutschen schrecklich" sein würde. Demetz sieht sich die politischen Entscheidungsträger und ihre schicksalhaften Momente sehr genau an, wägt ab und fällt ein differenziertes Urteil.
Sein unbeirrbares Gerechtigkeitsbedürfnis ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Buch, das allen Grund hätte, mit finsteren Figuren wie Heydrich, dem Reichsprotektor K. H. Frank oder dem tschechischen Faschistenführer Radola Gajda wenig Federlesen zu machen. Man horcht auf, wenn er zu Letzterem bemerkt, er sei, "(juristisch betrachtet)", Bigamist gewesen. Als ein solcher stellte sich auch Paul de Man heraus, Demetz' Kollege in Yale. Hauptgegenstand der ihn betreffenden Enthüllungen waren problematische Artikel, die der gebürtige Belgier einst unter deutscher Besatzung geschrieben hatte. Sie setzten nicht nur de Man, sondern auch das eher ahistorische Verfahren der von ihm literaturtheoretisch vertretenen Dekonstruktion ins Zwielicht.
"Mein Prag" ist vor diesem Horizont als ein Buch zu lesen, das nicht von Strukturen und unentscheidbaren Situationen handelt, sondern von Menschen, die für den Verlauf der Dinge verantwortlich bleiben. Demetz spannt seine Erinnerungen zwischen den Querfäden der historischen Stunde und den Längsfäden individueller Biografien auf. Mit melancholischem Blick, der die Affinität zu Walter Benjamin verrät, springt die Erzählung glanzvoller Momente oft stichflammengleich ans Ende eines Lebens, das im Armenhaus, im Gefängnis, durch Mord oder Suizid beschlossen wird. Die sudetendeutsche Freundin ist, wie Demetz beim ersten Telefonanruf am Tag der Befreiung erfährt, durch eine Fliegerbombe umgekommen. Ein Satz, heißt es, "den ich mein Leben lang nicht mehr vergaß".
Als Antiquariatsangestellter lernte der Autor, die nicht regimekonformen Wünsche seiner Kunden herauszulesen, ohne auf Spione hereinzufallen. Mit Doppelbödigkeiten und mehrfachem Schriftsinn operiert auch sein Erinnerungsbuch. Unter den im Prager Protektorat produzierten tschechischen Filmen hebt er Václav Krskas "Der Zauber des Flusses" als ein Werk hervor, das nie "in ein Blut-und-Boden-Spektakel ausartet", weil es die Natur nicht mit einer Nation, sondern mit einem individuellen Schicksal verknüpft. Der titelgebende Fluss "bleibt nie stehen, und er verjüngt auf beinahe mystische Weise; wer sich in der Nähe seiner lebendigen Gewässer aufhält, kann nicht irren". Demetz' Mutter und Großmutter starben in Theresienstadt, wohin er ihnen dank der ingeniösen Beziehungen des Vaters noch hin und wieder Gedichte schickte. "Später erfuhr ich, daß die irdischen Überreste meiner Mutter verbrannt, als Asche in einem Pappkarton verwahrt und nach einer Weile in den nahen Fluß Eger geworfen worden waren, und ich stelle mir immer vor, daß die Eger sie in die mächtige Elbe mitnahm und deren Wasser sie in die freie Weite des Atlantiks trug."
- Peter Demetz: "Mein Prag". Erinnerungen 1939 bis 1945. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007. 384 S., zahlr. Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Alena Wagnerova ist von Peter Demetz' Versuch, in der Geschichte Prags zur Zeit der deutschen Besatzung und darüberhinaus, zwischen 1938 und 1948, auch die private Geschichte zu spiegeln, sehr beeindruckt. Gerade in der eigenartigen Diskrepanz zwischen den "mit Herzblut" geschilderten historischen Umstände und den sehr viel distanzierter dargestellten persönlichen Erlebnissen sieht die Rezensentin den besonderen Reiz dieser Prager Geschichte. Und wenn die Darstellung auch keine Vollständigkeit für sich beanspruchen kann, so stellt sie eine vielschichtige Sicht der Zeit dar, lobt Wagnerova. Die Rezensentin ist überzeugt, dass Demetz wegen seiner väterlicherseits ladinischen, mütterlicherseits tschechisch-jüdischen Wurzeln einen besonders differenzierten Blick auf das multikulturelle Prag gelingt, der ihn vor nationaler Engstirnigkeit bewahrt. Schade findet die Rezensentin lediglich, dass sich, wohl durch die Übersetzung aus dem Englischen, wie sie vermutet, Fehler in tschechischen Begriffen und Namen finden und sie bedauert zudem, dass Demetz seine Zeit an der Karls-Universität, die ihn mit vielen Reformkommunisten zusammenführte, nicht mehr in die Darstellung eingeschlossen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"So ist Demetz ein einzigartiges Lesebuch über das Leben im Protektorat Böhmen und Mähren gelungen, verfasst aus intimer Kenntnis der Materie und durch eigenes Erleben geprüft." Alena Wagnerová, Neue Zürcher Zeitung, 14.11.07
"Das bisher persönlichste Buch des Literaturwissenschaftlers ... 'Mein Prag' ist als ein Buch zu lesen, das nicht von Strukturen und unentscheidbaren Situationen handelt, sondern von Menschen, die für den Verlauf der Dinge verantwortlich bleiben." Ingeborg Harms, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.07
"Meisterhafte Miniaturen." Jiri Grusa, Die Welt, 06.10.07
"Mit melancholischem Blick, der die Affinität zu Walter Benjamin verrät, springt die Erzählung glanzvoller Momente oft stichflammengleich ans Ende eines Lebens." Ingeborg Harms, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.07
"Das bisher persönlichste Buch des Literaturwissenschaftlers ... 'Mein Prag' ist als ein Buch zu lesen, das nicht von Strukturen und unentscheidbaren Situationen handelt, sondern von Menschen, die für den Verlauf der Dinge verantwortlich bleiben." Ingeborg Harms, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.07
"Meisterhafte Miniaturen." Jiri Grusa, Die Welt, 06.10.07
"Mit melancholischem Blick, der die Affinität zu Walter Benjamin verrät, springt die Erzählung glanzvoller Momente oft stichflammengleich ans Ende eines Lebens." Ingeborg Harms, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.07