Vor zehn Jahren lernt der Journalist Jens Mühling in Berlin den russischen Fernsehproduzenten Juri kennen. Die Begegnung verändert sein Leben. Juri verkauft deutschen Sendern erfundene Geschichten über Russland, er sagt: »Die wahren Geschichten sind noch viel unglaublicher als alles, was ich mir ausdenken könnte.« Seitdem reist Jens Mühling immer wieder nach Russland, getrieben von der Idee, diese wahren Geschichten zu finden. Die Menschen, denen er auf seinen Reisen begegnet, wirken wie ausgedacht. Aber sie sind das wahre Russland. Eine Einsiedlerin, die seit ihrer Geburt in der Taiga lebt und erst als Erwachsene erfahren hat, dass es jenseits der Wälder eine Welt gibt. Ein Mathematiker, der 1000 Jahre der russischen Geschichte für erfunden hält. Ein Priester, der in der atomar verseuchten Sperrzone von Tschernobyl predigt. >Mein russisches Abenteuer< ist eine Reiseerzählung, die durch das heutige Russland führt. Aus sehr persönlicher Perspektive porträtiert Jens Mühling eine Gesellschaft, deren Lebensgewohnheiten, Widersprüche, Absurditäten und Reize im Ausland nach wie vor wenigen vertraut sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.04.2012Dieses große frustrierende Loch oben rechts
Der Journalist Jens Mühling schließt mit seinem schönen Russland-Buch die Lücke auf seiner inneren Weltkarte
Ein Buch, das „Mein russisches Abenteuer“ heißt, klingt zuerst nach Urlaubslektüre. Man erwartet viel Abenteuer (wahrscheinlich Wodka, eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, vielleicht passiert irgendwas im Schneegestöber am Roten Platz). Und man erwartet viel „Ich“, schließlich geht es um „mein“ Abenteuer und nicht um die Abenteuer anderer Menschen, etwa derjenigen, die in Russland leben. Aber das Buch von Jens Mühling ist ein tiefsinniges Buch. Man sollte es nicht am Strand lesen.
Jens Mühling ist Redakteur beim Berliner Tagesspiegel. Er wurde 1976 in Siegen geboren, spricht Russisch und hat sich ein Jahr Urlaub genommen, um durch Russland zu reisen. Er hat dabei tatsächlich viel Wodka getrunken, ist mit der Transsib gefahren und hat sich tapfer von den Taigamücken stechen lassen. Aber wenn man sein Buch nach der Lektüre zuklappt, bleibt etwas anderes in Erinnerung als Jens Mühling und seine Abenteuer. Es bleibt ein stimmiges Bild von einem Land, in dem vieles nicht stimmt. Das leisten nur wenige Reiseberichte.
Der Autor hat zwei Ziele, die sein Buch tragen. Das erste, journalistische, ist konkret: Mühling will Agafja Lykowa besuchen, eine altgläubige Einsiedlerin im südsibirischen Wald. Die Altgläubigen sind eine Splittergruppe der Russisch-Orthodoxen Kirche, die seit dem 17. Jahrhundert verfolgt wurden und auch unter den Bolschewiken nicht verschont blieben. Agafja Lykowas Eltern flohen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die Taiga, die Familie war jahrzehntelang ohne Kontakt zur Außenwelt. Heute lebt Agafja Lykowa alleine, gut zweihundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Sie spricht in kirchenslawischem Singsang und hält den Strichcode für ein Zeichen Satans. Es ist eine logistische Herausforderung, Agafja Lykowa zu besuchen, und ehe man vor ihrer Hütte steht, weiß man nicht, ob sie überhaupt noch lebt. Damit ist die erzählerische Spannung gesichert.
Das zweite Ziel ist eher persönlicher Natur und weniger konkret. Als Kind hatte Jens Mühling ein großes Puzzle, das eine Weltkarte zeigte. Die Sowjetunion blieb bei ihm immer „ein großes frustrierendes Loch oben rechts“, da es für sie nur einförmig olivgrüne Puzzleteile gab, „die alle gleich aussahen“. Dieses Loch auf seiner inneren Weltkarte will Mühling nun mit seiner Russland-Reise ausfüllen. Es geht ihm schon um die russische Seele, aber Mühling kann sehr gut mit diesem Klischee umgehen. Gleich am Anfang berichtet er von einer Zechnacht mit einem Moskauer namens Sascha. „Die russische Seele ist nicht rätselhafter als der morgendliche Kopfschmerz nach einem Besäufnis“, diktiert ihm Sascha in den Notizblock.
Die beiden Ziele bedingen die Erzählstruktur. Jens Mühling verliert zwar nie die ferne Agafja Lykowa aus dem Blick, aber er bleibt auf seiner Reise offen für allerlei Abstecher, die ihm mit einem weiteren Stück für sein UdSSR-Puzzle winken. Er unterhält sich in Kiew mit alten Kommunisten, die eine Lenin-Statue im Schichtsystem rund um die Uhr bewachen, weil ein ukrainischer Nationalist Lenin die Nase abgeschlagen hat. Er besucht in Moskau einen missionserfüllten Mathematiker, der die Chronologie der Weltgeschichte für eine Fälschung hält und dahinter eine Verschwörung wittert. Er geht mit tätowierten Chauvinisten ins Dampfbad, die altslawische Götter anbeten und so ziemlich alles, vom Christentum bis zum Wodka, als schädliche Importe ablehnen. In Petersburg hört Mühling geduldig einem Mann zu, der sich für den Enkelsohn des letzten Zaren hält (und ihm verblüffend ähnlich sieht).
Jens Mühling zeigt ein journalistisches Faible für außergewöhnliche Menschen, teilweise für solche, die von ihren Mitmenschen als verrückt bezeichnet werden. Spätestens bei dem „Messias der Mücken“, einem sibirischen Verkehrspolizisten, der um die Wendezeit in der eigenen Person eine Wiedergeburt Jesu erkannte und derzeit am Letzten Testament schreibt, fragt man sich, ob in Russland auch gewöhnliche Menschen leben.
Um die zahlreichen Begegnungen zusammenzufügen, schafft Mühling bisweilen Übergänge, die bei aller Poetik bemüht wirken. Er kehrt etwa von den Dampfbadslawen zurück, mit dem Regionalzug, und ihm gegenüber sitzt ein Kind, dessen Großvater sagt: „Als er vier war, kannte er alle Buchstaben. Jetzt ist er sieben und liest Puschkin!“ Abends zieht der Autor einen Puschkin-Band aus dem Regal und liest die ganze Nacht und den halben nächsten Tag und flüstert den Katzen seines Freundes Wanja russische Verse ins Ohr. Dann kauft er sich ein Ticket nach Sankt Petersburg, wo er hofft, „Puschkins stolze Europäer“ zu entdecken.
180 Seiten später gelingt es Jens Mühling schließlich, die altgläubige Eremitin Agafja Lykowa zu treffen. Diese Begegnung entschädigt für alles, was einem in diesem Reisebericht unstimmig erscheinen mag. „Der Himmel war von winzigen Wolken durchsetzt“, schreibt Mühling zum Schluss. „Unverbunden trieben ihre weißen Umrisse nebeneinander her, wie die Einzelteile eines unlösbaren Puzzles.“
TIM NESHITOV
JENS MÜHLING: Mein russisches Abenteuer. Auf der Suche nach der wahren russischen Seele. DuMont Buchverlag, Köln 2012. 300 Seiten, 19,99 Euro.
Dampfbad-Verschwörer
und Mücken-Messias – gibt es hier
auch gewöhnliche Menschen?
Mit der Transsib ist er zwar auch gefahren, natürlich hat er viel Wodka getrunken und nächtelang Puschkin gelesen auf seiner einjährigen Reise – aber Jens Mühlings Russland-Buch umschifft elegant die gängigen
Klischees.
Foto: Bruno Morandi/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Journalist Jens Mühling schließt mit seinem schönen Russland-Buch die Lücke auf seiner inneren Weltkarte
Ein Buch, das „Mein russisches Abenteuer“ heißt, klingt zuerst nach Urlaubslektüre. Man erwartet viel Abenteuer (wahrscheinlich Wodka, eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, vielleicht passiert irgendwas im Schneegestöber am Roten Platz). Und man erwartet viel „Ich“, schließlich geht es um „mein“ Abenteuer und nicht um die Abenteuer anderer Menschen, etwa derjenigen, die in Russland leben. Aber das Buch von Jens Mühling ist ein tiefsinniges Buch. Man sollte es nicht am Strand lesen.
Jens Mühling ist Redakteur beim Berliner Tagesspiegel. Er wurde 1976 in Siegen geboren, spricht Russisch und hat sich ein Jahr Urlaub genommen, um durch Russland zu reisen. Er hat dabei tatsächlich viel Wodka getrunken, ist mit der Transsib gefahren und hat sich tapfer von den Taigamücken stechen lassen. Aber wenn man sein Buch nach der Lektüre zuklappt, bleibt etwas anderes in Erinnerung als Jens Mühling und seine Abenteuer. Es bleibt ein stimmiges Bild von einem Land, in dem vieles nicht stimmt. Das leisten nur wenige Reiseberichte.
Der Autor hat zwei Ziele, die sein Buch tragen. Das erste, journalistische, ist konkret: Mühling will Agafja Lykowa besuchen, eine altgläubige Einsiedlerin im südsibirischen Wald. Die Altgläubigen sind eine Splittergruppe der Russisch-Orthodoxen Kirche, die seit dem 17. Jahrhundert verfolgt wurden und auch unter den Bolschewiken nicht verschont blieben. Agafja Lykowas Eltern flohen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die Taiga, die Familie war jahrzehntelang ohne Kontakt zur Außenwelt. Heute lebt Agafja Lykowa alleine, gut zweihundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Sie spricht in kirchenslawischem Singsang und hält den Strichcode für ein Zeichen Satans. Es ist eine logistische Herausforderung, Agafja Lykowa zu besuchen, und ehe man vor ihrer Hütte steht, weiß man nicht, ob sie überhaupt noch lebt. Damit ist die erzählerische Spannung gesichert.
Das zweite Ziel ist eher persönlicher Natur und weniger konkret. Als Kind hatte Jens Mühling ein großes Puzzle, das eine Weltkarte zeigte. Die Sowjetunion blieb bei ihm immer „ein großes frustrierendes Loch oben rechts“, da es für sie nur einförmig olivgrüne Puzzleteile gab, „die alle gleich aussahen“. Dieses Loch auf seiner inneren Weltkarte will Mühling nun mit seiner Russland-Reise ausfüllen. Es geht ihm schon um die russische Seele, aber Mühling kann sehr gut mit diesem Klischee umgehen. Gleich am Anfang berichtet er von einer Zechnacht mit einem Moskauer namens Sascha. „Die russische Seele ist nicht rätselhafter als der morgendliche Kopfschmerz nach einem Besäufnis“, diktiert ihm Sascha in den Notizblock.
Die beiden Ziele bedingen die Erzählstruktur. Jens Mühling verliert zwar nie die ferne Agafja Lykowa aus dem Blick, aber er bleibt auf seiner Reise offen für allerlei Abstecher, die ihm mit einem weiteren Stück für sein UdSSR-Puzzle winken. Er unterhält sich in Kiew mit alten Kommunisten, die eine Lenin-Statue im Schichtsystem rund um die Uhr bewachen, weil ein ukrainischer Nationalist Lenin die Nase abgeschlagen hat. Er besucht in Moskau einen missionserfüllten Mathematiker, der die Chronologie der Weltgeschichte für eine Fälschung hält und dahinter eine Verschwörung wittert. Er geht mit tätowierten Chauvinisten ins Dampfbad, die altslawische Götter anbeten und so ziemlich alles, vom Christentum bis zum Wodka, als schädliche Importe ablehnen. In Petersburg hört Mühling geduldig einem Mann zu, der sich für den Enkelsohn des letzten Zaren hält (und ihm verblüffend ähnlich sieht).
Jens Mühling zeigt ein journalistisches Faible für außergewöhnliche Menschen, teilweise für solche, die von ihren Mitmenschen als verrückt bezeichnet werden. Spätestens bei dem „Messias der Mücken“, einem sibirischen Verkehrspolizisten, der um die Wendezeit in der eigenen Person eine Wiedergeburt Jesu erkannte und derzeit am Letzten Testament schreibt, fragt man sich, ob in Russland auch gewöhnliche Menschen leben.
Um die zahlreichen Begegnungen zusammenzufügen, schafft Mühling bisweilen Übergänge, die bei aller Poetik bemüht wirken. Er kehrt etwa von den Dampfbadslawen zurück, mit dem Regionalzug, und ihm gegenüber sitzt ein Kind, dessen Großvater sagt: „Als er vier war, kannte er alle Buchstaben. Jetzt ist er sieben und liest Puschkin!“ Abends zieht der Autor einen Puschkin-Band aus dem Regal und liest die ganze Nacht und den halben nächsten Tag und flüstert den Katzen seines Freundes Wanja russische Verse ins Ohr. Dann kauft er sich ein Ticket nach Sankt Petersburg, wo er hofft, „Puschkins stolze Europäer“ zu entdecken.
180 Seiten später gelingt es Jens Mühling schließlich, die altgläubige Eremitin Agafja Lykowa zu treffen. Diese Begegnung entschädigt für alles, was einem in diesem Reisebericht unstimmig erscheinen mag. „Der Himmel war von winzigen Wolken durchsetzt“, schreibt Mühling zum Schluss. „Unverbunden trieben ihre weißen Umrisse nebeneinander her, wie die Einzelteile eines unlösbaren Puzzles.“
TIM NESHITOV
JENS MÜHLING: Mein russisches Abenteuer. Auf der Suche nach der wahren russischen Seele. DuMont Buchverlag, Köln 2012. 300 Seiten, 19,99 Euro.
Dampfbad-Verschwörer
und Mücken-Messias – gibt es hier
auch gewöhnliche Menschen?
Mit der Transsib ist er zwar auch gefahren, natürlich hat er viel Wodka getrunken und nächtelang Puschkin gelesen auf seiner einjährigen Reise – aber Jens Mühlings Russland-Buch umschifft elegant die gängigen
Klischees.
Foto: Bruno Morandi/laif
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit viel Lob bespricht Rezensentin Kerstin Holm die unter dem Titel "Mein russisches Abenteuer" erschienene Reportage des Journalisten Jens Mühling. Begeistert folgt sie den einfühlsamen und zarten Schilderungen des Autors, der sich hier auf eine magische Reise von Kiew über Moskau bis in die sibirische Taiga begibt. Die Kritikerin erfährt nicht nur viel Geschichte des Landes und der besuchten Orte, sondern begegnet in den "charmanten" Berichten auch einer Vielzahl kurioser Gestalten: dem populären Pseudohistoriker Anatoli Fomenko etwa, der Mühling von einem antiken "russischen" Mongolenreich berichtet, oder die tiefgläubige und weise Agafja Lykowa, - eigentliches Ziel von Mühlings Reise - die im sibirischen Urwald lebt und nur selbstproduzierte Nahrung zu sich nimmt. Ein wunderbarer Einblick in die "russische Seele", lobt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2012Im Schneesturm mit allen Schikanen
Ein realer Deutscher, der zu einer weisen Frau reist, und ein fiktiver Landarzt, der ein Dorf zu retten hat: Jens Mühling und Vladimir Sorokin suchen in der kalten Einsamkeit die russische Seele.
Wer sich, beladen mit den Schätzen russischer Lebenserfahrung, nicht auf dem Riff ironischen Zynismus festklammert, rutscht normalerweise in Abgründe von Unbill und letzten Fragen ab. Ungefähr zu der Zeit, als der Gegenwartsklassiker Wladimir Sorokin seine retrofuturistische Mär von der Irrfahrt im "Schneesturm" ausbrütete, die jetzt auch auf Deutsch erschienen ist, dokumentierte der deutsche Journalist Jens Mühling auf Fahrten in die Tiefen des Landes Charaktere und Begebenheiten in aus der Geschichte fallenden Orten, die unter dem Titel "Mein russisches Abenteuer" nun bei Dumont erschienen sind.
Die von zwei ganz gegensätzlichen Autoren - dem großen russischen Literaten und dem jungen deutschen Publizisten - in so unterschiedlichen Genres wie einer postapokalyptischen Fiktion und einer essayistischen Reportage geschriebenen Bücher ergänzen und erhellen einander gleichwohl kongenial. Denn Russlands Weglosigkeit, seine trinkfreudigen Philosophen und rabiaten Welterklärer, die der duldsame Mühling voll Sympathie und Zartgefühl schildert, lassen auch spüren, dass jene von Drogen erleuchtete Waldeinsamkeit, auf die Sorokin sein Heimatland zusteuern sieht, so phantastisch vielleicht gar nicht ist.
Mühlings zauberische Odyssee führt von Kiew, dem Taufort der alten Rus, über Moskau, wo einst Patriarch Nikon und später die Sowjetmacht den Volksglauben zertrümmerten, bis in die sibirische Taiga nahe der chinesischen Grenze, wohin einige Sektierer ihre wahre Religion zu retten versuchten. Der Charme seines stets auch die lokale Historie vergegenwärtigenden Textes liegt darin, dass der Autor sich bewusst treiben und ablenken lässt, sich nicht selten dumm stellt und dafür seine Helden umso eindrucksvoller konturiert. Fasziniert gibt er sich den argumentativen Umgarnungskünsten des ehrwürdigen Moskauer Kybernetikers und populären Pseudohistorikers Anatoli Fomenko hin, der statistisch "errechnet" hat, dass die abendländische Geschichte nur ein Jahrtausend nach Christus lang und die Renaissance eigentlich die Antike war - und tatsächlich steigt vor dem vernebelten Auge schließlich Fomenkos Sehnsuchtsschimäre von einem antiken "russischen" Mongolengroßreich auf, das neidische westliche Verschwörer aus den Annalen getilgt haben soll.
Während seines Besuchs bei der gemäßigten Moskauer Altgläubigengemeinde lauscht Mühling sophistischen Erklärungen eines höflichen Klerikers, warum es im Zeichen des Fortschritts russischen Reformgegnern heute nicht mehr verboten sei, Importtee zu trinken und Computer zu benutzen - während demjenigen, der das Kreuzzeichen mit drei Fingern schlägt, das Himmelreich weiterhin versperrt bleibe. Der authentische Gottsucher tritt dem Russlandreisenden dafür in Person eines anarchischen Obdachlosen entgegen, der auch diese Kirchenführung als geldgierig und unchristlich schmäht und sie schon in der Hölle schmoren sieht.
Das letzte Ziel des Journalisten ist eine kompromisslos altgläubige Frau, die fern aller Zivilisation im sibirischen Urwald haust, nur selbstproduzierte Nahrung zu sich nimmt, keinen Alkohol trinkt und sich von allen Warenstrichcodes oder Ausweisnummern, worin ihre Glaubensbrüder das Zeichen des apokalyptische Tiers erkennen, reinhält. Agafja Lykowa, so heißt sie, lebt, seitdem ihre Eltern und Geschwister starben, ganz allein.
Auf seiner Irrfahrt zu ihr verschlägt es Mühling noch zu slawischen Neuheiden, außerdem zu einer sibirischen Reinkarnation von Jesus namens Wissarion samt dessen Jüngern. In einem abgelegenen Dorf findet er sogar noch entfernte Cousinen Agafja Lykowas, die aber Elektrizität nutzen und Konserven kaufen, was die fromme Verwandte ablehnt. Bis zuletzt weiß Mühling nicht, ob die betagte Agafja nicht schon tot ist. Die erste Fahrt zu ihr scheitert am russischen Hang zu Hochprozentigem. Als der Deutsche sie nach vielen Strapazen, Zwangsbesäufnissen und Enttäuschungen endlich findet, kommt er sich in ihrem Versteck vor allen Stürmen der Geschichte, wo Holzhacken, Kartoffelstechen, Beten und Psalmsingen eine Einheit bilden, wie im Paradies vor.
Auch Sorokins Held, ein russischer Landarzt in schneedurchwirbelter Zukunft, ist unterwegs zu einem abgeschiedenen Ort, dem Dorf Dolgoje, wo ein überseeischer Pestvirus angeblich die Menschen dahinrafft. Die gefährliche Krankheit, gegen die der Doktor das Serum dabeihat, erinnert freilich eher an ein Werwolfsyndrom, das das Tier im Menschen von der Kette lässt. Die Infizierten, hört man, entwickeln gewaltige Muskelkraft und Maulwurfsklauen, sie werden aggressiv und tückisch.
Der Bedeutung seiner Mission für die von Entvölkerung und Biotechnologie gezeichnete Heimat bewusst, tut der Landarzt, was in seiner Macht steht. Da die Erdölvorkommen versiegt sind, fährt man wieder Pferdeschlitten. Doch das Gespann des Doktors ist erschöpft, er heuert einen armen Brotkutscher an, dessen Fuhre von fünfzig meerschweinchenkleinen Economy-Pferdchen gezogen wird. Im Schneetreiben vom Weg abkommend, kehren sie bei einem Zwerg ein, dann bei nomadisierenden Rauschgifthändlern, sie stoßen auf einen Riesen und sein Spielzeug. Eine kurze, aber intensive Liebesnacht, eine masochistische Drogenvision und wilde Träume bei den Zwischenhalten verleihen dem verwunschenen Wintermärchen atmosphärische Tiefe.
Sorokins jüngstes, von chinesischen Einsprengseln abgesehen, im Erzählton des neunzehnten Jahrhunderts geschriebenes Werk ist eine Hommage an die Klassik, die sie zugleich nach vorne weiterspinnt. Der Titel ruft Puschkins gleichnamige Novelle in Erinnerung, wo ein junger Bräutigam im Schneegestöber die eigene Hochzeit nicht findet. Und die Hauptfigur lässt den Literaturfreund an die Landärzte Turgenjews und Tschechows denken, deren Erfolge bei der Krankheitsbekämpfung in den Dörfern zumeist bescheiden ausfielen.
Auch Sorokins Doktor kommt trotz fast hysterischer Anstrengungen nicht ans Ziel. Die Abenteuer und die Kälte töten den Kutscher, den Helden beinahe. Sein frostparalysiertes Ich, das mit seiner französischen Freundin und der Liebe zu Schubert auch das europäische Kulturgepäck versinnbildlicht, fällt der neuen Kolonialmacht in die Hände: Ein Trupp bestens ausgerüsteter Chinesen, der ihn findet und auf einen Riesenschlitten lädt, wird seine verbliebenen Ressourcen offensichtlich noch für andere Zwecke nutzen.
KERSTIN HOLM
Jens Mühling: "Mein russisches Abenteuer".
Dumont Verlag, Köln 2012. 300 S., geb., 19,99 [Euro].
Vladimir Sorokin: "Der Schneesturm". Roman.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 207 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein realer Deutscher, der zu einer weisen Frau reist, und ein fiktiver Landarzt, der ein Dorf zu retten hat: Jens Mühling und Vladimir Sorokin suchen in der kalten Einsamkeit die russische Seele.
Wer sich, beladen mit den Schätzen russischer Lebenserfahrung, nicht auf dem Riff ironischen Zynismus festklammert, rutscht normalerweise in Abgründe von Unbill und letzten Fragen ab. Ungefähr zu der Zeit, als der Gegenwartsklassiker Wladimir Sorokin seine retrofuturistische Mär von der Irrfahrt im "Schneesturm" ausbrütete, die jetzt auch auf Deutsch erschienen ist, dokumentierte der deutsche Journalist Jens Mühling auf Fahrten in die Tiefen des Landes Charaktere und Begebenheiten in aus der Geschichte fallenden Orten, die unter dem Titel "Mein russisches Abenteuer" nun bei Dumont erschienen sind.
Die von zwei ganz gegensätzlichen Autoren - dem großen russischen Literaten und dem jungen deutschen Publizisten - in so unterschiedlichen Genres wie einer postapokalyptischen Fiktion und einer essayistischen Reportage geschriebenen Bücher ergänzen und erhellen einander gleichwohl kongenial. Denn Russlands Weglosigkeit, seine trinkfreudigen Philosophen und rabiaten Welterklärer, die der duldsame Mühling voll Sympathie und Zartgefühl schildert, lassen auch spüren, dass jene von Drogen erleuchtete Waldeinsamkeit, auf die Sorokin sein Heimatland zusteuern sieht, so phantastisch vielleicht gar nicht ist.
Mühlings zauberische Odyssee führt von Kiew, dem Taufort der alten Rus, über Moskau, wo einst Patriarch Nikon und später die Sowjetmacht den Volksglauben zertrümmerten, bis in die sibirische Taiga nahe der chinesischen Grenze, wohin einige Sektierer ihre wahre Religion zu retten versuchten. Der Charme seines stets auch die lokale Historie vergegenwärtigenden Textes liegt darin, dass der Autor sich bewusst treiben und ablenken lässt, sich nicht selten dumm stellt und dafür seine Helden umso eindrucksvoller konturiert. Fasziniert gibt er sich den argumentativen Umgarnungskünsten des ehrwürdigen Moskauer Kybernetikers und populären Pseudohistorikers Anatoli Fomenko hin, der statistisch "errechnet" hat, dass die abendländische Geschichte nur ein Jahrtausend nach Christus lang und die Renaissance eigentlich die Antike war - und tatsächlich steigt vor dem vernebelten Auge schließlich Fomenkos Sehnsuchtsschimäre von einem antiken "russischen" Mongolengroßreich auf, das neidische westliche Verschwörer aus den Annalen getilgt haben soll.
Während seines Besuchs bei der gemäßigten Moskauer Altgläubigengemeinde lauscht Mühling sophistischen Erklärungen eines höflichen Klerikers, warum es im Zeichen des Fortschritts russischen Reformgegnern heute nicht mehr verboten sei, Importtee zu trinken und Computer zu benutzen - während demjenigen, der das Kreuzzeichen mit drei Fingern schlägt, das Himmelreich weiterhin versperrt bleibe. Der authentische Gottsucher tritt dem Russlandreisenden dafür in Person eines anarchischen Obdachlosen entgegen, der auch diese Kirchenführung als geldgierig und unchristlich schmäht und sie schon in der Hölle schmoren sieht.
Das letzte Ziel des Journalisten ist eine kompromisslos altgläubige Frau, die fern aller Zivilisation im sibirischen Urwald haust, nur selbstproduzierte Nahrung zu sich nimmt, keinen Alkohol trinkt und sich von allen Warenstrichcodes oder Ausweisnummern, worin ihre Glaubensbrüder das Zeichen des apokalyptische Tiers erkennen, reinhält. Agafja Lykowa, so heißt sie, lebt, seitdem ihre Eltern und Geschwister starben, ganz allein.
Auf seiner Irrfahrt zu ihr verschlägt es Mühling noch zu slawischen Neuheiden, außerdem zu einer sibirischen Reinkarnation von Jesus namens Wissarion samt dessen Jüngern. In einem abgelegenen Dorf findet er sogar noch entfernte Cousinen Agafja Lykowas, die aber Elektrizität nutzen und Konserven kaufen, was die fromme Verwandte ablehnt. Bis zuletzt weiß Mühling nicht, ob die betagte Agafja nicht schon tot ist. Die erste Fahrt zu ihr scheitert am russischen Hang zu Hochprozentigem. Als der Deutsche sie nach vielen Strapazen, Zwangsbesäufnissen und Enttäuschungen endlich findet, kommt er sich in ihrem Versteck vor allen Stürmen der Geschichte, wo Holzhacken, Kartoffelstechen, Beten und Psalmsingen eine Einheit bilden, wie im Paradies vor.
Auch Sorokins Held, ein russischer Landarzt in schneedurchwirbelter Zukunft, ist unterwegs zu einem abgeschiedenen Ort, dem Dorf Dolgoje, wo ein überseeischer Pestvirus angeblich die Menschen dahinrafft. Die gefährliche Krankheit, gegen die der Doktor das Serum dabeihat, erinnert freilich eher an ein Werwolfsyndrom, das das Tier im Menschen von der Kette lässt. Die Infizierten, hört man, entwickeln gewaltige Muskelkraft und Maulwurfsklauen, sie werden aggressiv und tückisch.
Der Bedeutung seiner Mission für die von Entvölkerung und Biotechnologie gezeichnete Heimat bewusst, tut der Landarzt, was in seiner Macht steht. Da die Erdölvorkommen versiegt sind, fährt man wieder Pferdeschlitten. Doch das Gespann des Doktors ist erschöpft, er heuert einen armen Brotkutscher an, dessen Fuhre von fünfzig meerschweinchenkleinen Economy-Pferdchen gezogen wird. Im Schneetreiben vom Weg abkommend, kehren sie bei einem Zwerg ein, dann bei nomadisierenden Rauschgifthändlern, sie stoßen auf einen Riesen und sein Spielzeug. Eine kurze, aber intensive Liebesnacht, eine masochistische Drogenvision und wilde Träume bei den Zwischenhalten verleihen dem verwunschenen Wintermärchen atmosphärische Tiefe.
Sorokins jüngstes, von chinesischen Einsprengseln abgesehen, im Erzählton des neunzehnten Jahrhunderts geschriebenes Werk ist eine Hommage an die Klassik, die sie zugleich nach vorne weiterspinnt. Der Titel ruft Puschkins gleichnamige Novelle in Erinnerung, wo ein junger Bräutigam im Schneegestöber die eigene Hochzeit nicht findet. Und die Hauptfigur lässt den Literaturfreund an die Landärzte Turgenjews und Tschechows denken, deren Erfolge bei der Krankheitsbekämpfung in den Dörfern zumeist bescheiden ausfielen.
Auch Sorokins Doktor kommt trotz fast hysterischer Anstrengungen nicht ans Ziel. Die Abenteuer und die Kälte töten den Kutscher, den Helden beinahe. Sein frostparalysiertes Ich, das mit seiner französischen Freundin und der Liebe zu Schubert auch das europäische Kulturgepäck versinnbildlicht, fällt der neuen Kolonialmacht in die Hände: Ein Trupp bestens ausgerüsteter Chinesen, der ihn findet und auf einen Riesenschlitten lädt, wird seine verbliebenen Ressourcen offensichtlich noch für andere Zwecke nutzen.
KERSTIN HOLM
Jens Mühling: "Mein russisches Abenteuer".
Dumont Verlag, Köln 2012. 300 S., geb., 19,99 [Euro].
Vladimir Sorokin: "Der Schneesturm". Roman.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 207 S., geb., 17,99 [Euro].
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"Eine brillante Beschreibung des Gemütszustandes eines Landes." RUSSLAND HEUTE (BEILAGE DER SZ) "Schließt mit seinem schönen Russland-Buch die Lücke auf seiner inneren Landkarte (...) ein tiefsinniges Buch (...) es bleibt ein stimmiges Bild von einem Land, in dem vieles nicht stimmt. Das leisten nur wenige Reiseberichte." SÜDDEUTSCHE ZEITUNG "Elegant verknüpft er Schauplätze mit der russischen Geschichte und deren Protagonisten (...) Kopfkino vom Feinsten." DIE ZEIT "Ein beeindruckendes Buch" DEUTSCHLANDRADIO KULTUR "Ein spektakuläres Reportagebuch und Zeitreise durch die Jahrhunderte." STERN "Mühlings zauberische Odyssee (...) Der Charme seines stets auch die lokale Historie vergegenwärtigenden Textes liegt darin, dass der Autor sich bewusst treiben und ablenken lässt, sich nicht selten dumm stellt und dafür seine Helden umso eindrucksvoller konturiert." FAZ "Durchzogen ist 'Mein russisches Abenteuer' von kulturhistorischen Essays, die auch dem Russland-Unkundigen das Land und seine Geschichte näher bringen wollen, ohne es in seiner ganzen Komplexität zu verkürzen." NORDWEST ZEITUNG "Verdammt gut geschrieben." FREEMAN'S