Er ist unerlöst, unerlöst "wie der Tristanakkord", der junge Doktorand aus Berlin, und er leidet unter einer Italiensehnsucht, wie sie vor ihm höchstens Goethe kannte. Auf dem Rückweg von der Philharmonie, wo er als Türschließer arbeitet, betritt er aus Neugier eine italienische Bar auf der Schöneberger Hauptstraße, und auch wenn er hier nicht den Süden findet, "nicht Italien, wo die Mandolinen spielten und die Zitronen blühten", so findet er doch immerhin Cristina, eine Südsardin mit undurchdringlichem Blick, die am Aluminiumtresen und unter Neonröhren ihr Geld verdient. Wochen später wagt er eine schüchterne Liebeserklärung, und zu seiner eigenen Überraschung werden die beiden ein Paar. Als Cristina beschließt, nach Sardinien zurückzukehren, in ihren Heimatort Sant'Antioco im Süden der Insel, packt auch er seine Koffer, denn eine Trennung kann er sich nicht vorstellen. Und ist es nicht die Erfüllung eines Traums: künftig in zwei Welten zu leben, in Schöneberg und Sant'Antioco? Und irgendwann vielleicht dem Lärm der Schöneberger Hauptstraße und dem Berliner Novemberhimmel ganz zu entkommen? Mit wenig Gepäck und vielen Hoffnungen machen sich die beiden auf den Weg.Ein Reisebuch, ein Stück Autobiografie, vielleicht ein Roman - in jedem Fall aber eine Liebesgeschichte, die so schön und traurig ist wie die Insel selbst. Im vertrauten Treichel-Ton - heiter, ironisch, melancholisch - erzählt der Autor von seinem Sardinien und davon, wie es war, der Sehnsucht nach dem Süden zu folgen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2012Ach Italien
Der Italien-Sehnsucht verdanken wir einige der herausragendsten Reiseberichte der deutschen Literatur. Heinse, Goethe, Seume. Alle drei haben nicht einfach beschrieben, wann sie wo waren und was es dort zu erleben gab; vielmehr haben sie autobiographische Details durch eine spezifisch literarische Sprache ästhetisiert. Etwas Ähnliches unternimmt auch Hans-Ulrich Treichel. Der Protagonist seines neuen Buchs hat einiges mit dem Autor gemeinsam: Er heißt Hans, promoviert in Berlin über Wolfgang Koeppen und sehnt sich nach Italien. Kein Wunder, schließlich wohnt er an der ungemütlichen Schöneberger Hauptstraße und kommt aus Ostwestfalen, wo "Leeregefühle und Sinnlosigkeitszustände" so selbstverständlich gedeihen, wie im Süden die Zitronen blühen. Als er die Sardin Cristina kennenlernt, wird aus seiner Italien-Sehnsucht eine Sardinien-Sehnsucht. Während Goethe zwei römische Aufenthalte hatte, haben Hans und Cristina zwei sardische. Beide Male reisen sie nach Sant'Antioco. Ohne rhetorischen Zierrat schildert Hans das spröde Naturell der Einheimischen, mit wenigen Sätzen fängt er die karge Stimmung auf dem Land ein, unverhohlen bringt er nach der ersten Reise seine Eindrücke auf den Punkt: "Sardinien hatte ich als enorm unerotisch in Erinnerung." Trotzdem liest man seinen Bericht mit Faszination, nicht zuletzt, weil er immer wieder von Cristina erzählt, ihrem wechselhaften Wesen, ihrer Unerreichbarkeit. Dass diese Liebesgeschichte nie ins Kitschige driftet, ist Treichels pointierter, zwischen Melancholie und selbstironischem Witz changierender Sprache geschuldet. Eine lohnende Lektüre. (Hans-Ulrich Treichel: "Mein Sardinien". Eine Liebesgeschichte. Mareverlag, Hamburg 2012. 218 S., geb., 18,- [Euro].) span
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Italien-Sehnsucht verdanken wir einige der herausragendsten Reiseberichte der deutschen Literatur. Heinse, Goethe, Seume. Alle drei haben nicht einfach beschrieben, wann sie wo waren und was es dort zu erleben gab; vielmehr haben sie autobiographische Details durch eine spezifisch literarische Sprache ästhetisiert. Etwas Ähnliches unternimmt auch Hans-Ulrich Treichel. Der Protagonist seines neuen Buchs hat einiges mit dem Autor gemeinsam: Er heißt Hans, promoviert in Berlin über Wolfgang Koeppen und sehnt sich nach Italien. Kein Wunder, schließlich wohnt er an der ungemütlichen Schöneberger Hauptstraße und kommt aus Ostwestfalen, wo "Leeregefühle und Sinnlosigkeitszustände" so selbstverständlich gedeihen, wie im Süden die Zitronen blühen. Als er die Sardin Cristina kennenlernt, wird aus seiner Italien-Sehnsucht eine Sardinien-Sehnsucht. Während Goethe zwei römische Aufenthalte hatte, haben Hans und Cristina zwei sardische. Beide Male reisen sie nach Sant'Antioco. Ohne rhetorischen Zierrat schildert Hans das spröde Naturell der Einheimischen, mit wenigen Sätzen fängt er die karge Stimmung auf dem Land ein, unverhohlen bringt er nach der ersten Reise seine Eindrücke auf den Punkt: "Sardinien hatte ich als enorm unerotisch in Erinnerung." Trotzdem liest man seinen Bericht mit Faszination, nicht zuletzt, weil er immer wieder von Cristina erzählt, ihrem wechselhaften Wesen, ihrer Unerreichbarkeit. Dass diese Liebesgeschichte nie ins Kitschige driftet, ist Treichels pointierter, zwischen Melancholie und selbstironischem Witz changierender Sprache geschuldet. Eine lohnende Lektüre. (Hans-Ulrich Treichel: "Mein Sardinien". Eine Liebesgeschichte. Mareverlag, Hamburg 2012. 218 S., geb., 18,- [Euro].) span
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»Wenigen Autoren gelingt ein so lockerleichtes Spiel mit autobiografischen Versatzstücken.« Helmut Sturm literaturkritik.de 20140909