Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2010Das Dasein, ein Wimmelbuch
Seit zweiundvierzig Jahren sind Ali Mitgutschs bunte Panoramen eine feste Größe der Bilderbuchwelt. Zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag gibt es nun einen Sammelband mit den schönsten Bildtafeln aus unserem Alltag.
Autos kurven durch belebte Straßen, ein Junge fällt vom Rad, ein Konditor trägt seine Torte aus, eine alte Frau fährt ihren Hund im Einkaufswagen spazieren, Kinder raufen im Schnee. Und ganz hinten in der Ecke versteckt sich ein Junge hinter einem Baum. Es sind Großansichten, die viele Aspekte des Stadtlebens zeigen, von Einkaufsstraßen und Spielplätzen bis hin zum Schlittenhügel vor Betonwohnburgen. Die Stadt könnte überall in Europa sein, die Schauplätze sind vielfältig, die Menschen sind zahlreich - und alle sind in Bewegung.
Vor zweiundvierzig Jahren ist mit Ali Mitgutschs "Rundherum in meiner Stadt" eine neue Bilderbuchgattung entstanden. Unter gänzlichem Verzicht auf Text sprechen die "Wimmelbücher" schon Dreijährige an, faszinieren aber auch ältere Kinder und Erwachsene. Seit 1968 hat Mitgutsch über hundert Bilderbücher gestaltet. Nun erscheint zu Ehren seines 75. Geburtstags am 21. August im Ravensburger Verlag ein Jubiläumsband: "Mein schönstes Wimmel-Bilderbuch". Es fasst auf vierzehn Doppelseiten Bilder aus vier Büchern zusammen, wobei vor allem die neueren berücksichtigt sind. Darunter sind vier Tableaus aus dem Jahr 2007, die zeigen, welche Könnerschaft Mitgutsch über die Jahre erreicht hat.
Dass diese Bildgattung im Grunde sehr alt ist, gerät durch den etwas unglücklichen Begriff "Wimmelbild" schnell aus dem Blick. Schon im 16. Jahrhundert malte etwa Pieter Breughel mit ähnlicher Akribie Tafeln, auf denen das menschliche Alltagsleben in seiner Vielgestaltigkeit, aber auch Frivolität dargestellt ist.
Mit realistischer Darstellung hatten diese Bilder wenig zu tun. Aber sind etwa Mitgutschs Panoramen des Alltags realistisch? Natürlich kann man alles darauf erkennen, seine Autos werden auch von einem Kleinkind als solche identifiziert. Aber genau betrachtet, stimmen weder ihre Proportionen noch ihre Formen, dazu sind sie einfach zu rund und haben zu viel Charme. Mit Pinsel und Farbkasten entstehen eigenwillige Schaubilder des Lebens und keine Abbilder der Wirklichkeit. Der Blickwinkel ist erhöht, es gibt aber keine Tiefenwirkung, die Figuren haben meist an jedem beliebigen Punkt die gleiche Größe, einen Horizont gibt es selten.
In scheinbar chaotischer Unordnung gehen viele Menschen auf einem einzigen Bild ihren verschiedenen Tätigkeiten nach, es sind ihre Geschichten, die erzählt werden. Mitgutsch schafft mit seinen flächigen Szenerien immer neue Bühnen für seine Menschen und ihre Verrücktheiten. Man denke nur an seine wahnwitzigen Darstellungen von Skifahrern auf einer Piste oder Bergsteigern, die massenhaft mit weitaufgerissenen Augen an Bergspitzen hängen. Sachbücher sind diese Bücher mit Sicherheit nicht. Diese Alltagspanoramen sind nicht nur dazu da, Worte und Bezeichnungen zu üben oder Wissen anzusammeln, sondern sie lehren durch ihre hintergründige Komik das Staunen darüber, was Menschen so alles tun.
SILJA VON RAUCHHAUPT
Ali Mitgutsch: "Mein schönstes Wimmel-Bilderbuch". Ravensburger Verlag, Ravensburg 2010. 30 S., geb., 9,95 [Euro]. Ab 3 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seit zweiundvierzig Jahren sind Ali Mitgutschs bunte Panoramen eine feste Größe der Bilderbuchwelt. Zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag gibt es nun einen Sammelband mit den schönsten Bildtafeln aus unserem Alltag.
Autos kurven durch belebte Straßen, ein Junge fällt vom Rad, ein Konditor trägt seine Torte aus, eine alte Frau fährt ihren Hund im Einkaufswagen spazieren, Kinder raufen im Schnee. Und ganz hinten in der Ecke versteckt sich ein Junge hinter einem Baum. Es sind Großansichten, die viele Aspekte des Stadtlebens zeigen, von Einkaufsstraßen und Spielplätzen bis hin zum Schlittenhügel vor Betonwohnburgen. Die Stadt könnte überall in Europa sein, die Schauplätze sind vielfältig, die Menschen sind zahlreich - und alle sind in Bewegung.
Vor zweiundvierzig Jahren ist mit Ali Mitgutschs "Rundherum in meiner Stadt" eine neue Bilderbuchgattung entstanden. Unter gänzlichem Verzicht auf Text sprechen die "Wimmelbücher" schon Dreijährige an, faszinieren aber auch ältere Kinder und Erwachsene. Seit 1968 hat Mitgutsch über hundert Bilderbücher gestaltet. Nun erscheint zu Ehren seines 75. Geburtstags am 21. August im Ravensburger Verlag ein Jubiläumsband: "Mein schönstes Wimmel-Bilderbuch". Es fasst auf vierzehn Doppelseiten Bilder aus vier Büchern zusammen, wobei vor allem die neueren berücksichtigt sind. Darunter sind vier Tableaus aus dem Jahr 2007, die zeigen, welche Könnerschaft Mitgutsch über die Jahre erreicht hat.
Dass diese Bildgattung im Grunde sehr alt ist, gerät durch den etwas unglücklichen Begriff "Wimmelbild" schnell aus dem Blick. Schon im 16. Jahrhundert malte etwa Pieter Breughel mit ähnlicher Akribie Tafeln, auf denen das menschliche Alltagsleben in seiner Vielgestaltigkeit, aber auch Frivolität dargestellt ist.
Mit realistischer Darstellung hatten diese Bilder wenig zu tun. Aber sind etwa Mitgutschs Panoramen des Alltags realistisch? Natürlich kann man alles darauf erkennen, seine Autos werden auch von einem Kleinkind als solche identifiziert. Aber genau betrachtet, stimmen weder ihre Proportionen noch ihre Formen, dazu sind sie einfach zu rund und haben zu viel Charme. Mit Pinsel und Farbkasten entstehen eigenwillige Schaubilder des Lebens und keine Abbilder der Wirklichkeit. Der Blickwinkel ist erhöht, es gibt aber keine Tiefenwirkung, die Figuren haben meist an jedem beliebigen Punkt die gleiche Größe, einen Horizont gibt es selten.
In scheinbar chaotischer Unordnung gehen viele Menschen auf einem einzigen Bild ihren verschiedenen Tätigkeiten nach, es sind ihre Geschichten, die erzählt werden. Mitgutsch schafft mit seinen flächigen Szenerien immer neue Bühnen für seine Menschen und ihre Verrücktheiten. Man denke nur an seine wahnwitzigen Darstellungen von Skifahrern auf einer Piste oder Bergsteigern, die massenhaft mit weitaufgerissenen Augen an Bergspitzen hängen. Sachbücher sind diese Bücher mit Sicherheit nicht. Diese Alltagspanoramen sind nicht nur dazu da, Worte und Bezeichnungen zu üben oder Wissen anzusammeln, sondern sie lehren durch ihre hintergründige Komik das Staunen darüber, was Menschen so alles tun.
SILJA VON RAUCHHAUPT
Ali Mitgutsch: "Mein schönstes Wimmel-Bilderbuch". Ravensburger Verlag, Ravensburg 2010. 30 S., geb., 9,95 [Euro]. Ab 3 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wer noch kein Wimmel-Buch von Ali Mitgutsch hat, gucke sich dies hier mal an: Es versammelt Bilder aus vier früheren Büchern von Mitgutsch, erzählt Rezensentin Silja von Rauchhaupt und erklärt auch, was es mit dem Genre Wimmelbild auf sich hat: Zahllose Menschen gehen unterschiedlichen Beschäftigungen nach, man hat pausenlos was zu gucken, Text gibt es nicht. Rauchhaupt bewundert die Könnerschaft des Zeichners und schwärmt von der wirklichkeitsnahen und doch nicht wirklich realistischen Darstellung menschlichen Tuns. Man sieht die Rezensentin im Geiste lächeln, während sie das Buch durchblättert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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