Wie kann man Sizilianer sein? Auf die alte Frage gibt es eine alte Antwort: Nur unter Schwierigkeiten.Leonardo Sciascia, selbst Sizilianer, untersucht diese Schwierigkeiten. Ob es wahr ist, dass die Sizilianer eher gerissen denn vorsichtig und zugleich so furchtsam wie verwegen seien. Ob der sizilianische Don Giovanni überhaupt Frauen im Sinn hat. Ob die Sizilianer sich je regieren ließen, und ob man das überhaupt könne. In den hier erstmals übersetzten Miniaturen gibt Sciascia kenntnisreiche Auskünfte.Er zeigt uns die unübertroffene Schönheit »seiner« Insel: Zerklüftete Küsten, verstreute Dörfer am Ätna, das hochmütige Palermo, die Orte Tomasi di Lampedusas. Und er plaudert die kleinen Geschichten innerhalb der großen Geschichten aus - wie das Schicksal jener Stadt, die Mussolini gründete, die aber Phantom blieb.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.1995Europa
"Mein Sizilien" von Leonardo Sciascia, aus dem Italienischen von Sigrid Vagt und Martina Kempter, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1995. 112 Seiten mit vielen Schwarzweißfotos, rotes Leinen, 22,80 Mark.
ISBN 3-8031-1152-8.
Das Buch aus der interessanten Wagenbach-Reihe "Salto" ist ein schönes Buch und ein ärgerliches Buch. Der 1921 in Sizilien geborene Schriftsteller Leonardo Sciascia kennt sich gut aus in seiner Heimat. Wenn er über die Städte, Landschaften und Küsten erzählt, folgt der Leser seiner Stimme mit fast atemloser Spannung, vor allem diejenigen, die Sizilien kennen und lieben. Man durchstreift mit ihm die Orte, die Tomasi di Lampedusa in seinem berühmten Roman geschildert hat, oder die Stadt, die von Mussolini gegründet worden ist, "Mussolinia" in der Umgebung von Caltagirone, die aber Plan und Geisterstadt geblieben ist. Spricht aber Sciascia über die Menschen, über die Sizilianer also, erscheinen diese plötzlich wie Wesen von einem anderen Stern, deren Denken, Handeln und Trachten einzigartig sei, weder Verbindung habe mit Europa noch mit der Menschheit überhaupt. Wahr ist, daß diese eigensinnige Haltung überall in Sizilien anzutreffen ist. Die Sizilianer scheinen sich festzuhalten an dieser vorgeblichen Unvergleichlichkeit. In aller Armut und Rückständigkeit soll dieser aus historischem Brei zusammengekochte Stolz ihnen Halt geben. Das stört ja niemanden und tut keinem weh, so daß man als Gast im Lande das Gerede hinnehmen kann. Daß aber ein als liberal geltender, renommierter Schriftsteller in einem ebensolchen Verlag diese nationalistische Pseudo-Völkerpsychologie nachbetet - dieses auch noch mit der Attitüde, er habe etwas Neues entdeckt -, das ist doch flach und ärgerlich. Gerade von ihm hätte man erwartet, die Wahrheit zu sagen: Daß sich zum Beispiel die Sizilianer in Wirklichkeit durch nichts von den anderen Europäern unterscheiden als dadurch, daß sie von einem verbrecherischen System absichtsvoll in Armut und Abhängigkeit gehalten werden. Zum Verständnis Sciascias muß man allerdings sagen, daß es bei dem vorliegenden Bändchen nicht um ein als ganzes geschriebenes Buch handelt, sondern um eine Sammlung hier und dort verstreuter Texte. Der Wagenbach-Verlag, der sonst gerade bei italienischen Autoren eine gute Hand hat, hat hier wohl danebengegriffen. (Sr.)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mein Sizilien" von Leonardo Sciascia, aus dem Italienischen von Sigrid Vagt und Martina Kempter, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1995. 112 Seiten mit vielen Schwarzweißfotos, rotes Leinen, 22,80 Mark.
ISBN 3-8031-1152-8.
Das Buch aus der interessanten Wagenbach-Reihe "Salto" ist ein schönes Buch und ein ärgerliches Buch. Der 1921 in Sizilien geborene Schriftsteller Leonardo Sciascia kennt sich gut aus in seiner Heimat. Wenn er über die Städte, Landschaften und Küsten erzählt, folgt der Leser seiner Stimme mit fast atemloser Spannung, vor allem diejenigen, die Sizilien kennen und lieben. Man durchstreift mit ihm die Orte, die Tomasi di Lampedusa in seinem berühmten Roman geschildert hat, oder die Stadt, die von Mussolini gegründet worden ist, "Mussolinia" in der Umgebung von Caltagirone, die aber Plan und Geisterstadt geblieben ist. Spricht aber Sciascia über die Menschen, über die Sizilianer also, erscheinen diese plötzlich wie Wesen von einem anderen Stern, deren Denken, Handeln und Trachten einzigartig sei, weder Verbindung habe mit Europa noch mit der Menschheit überhaupt. Wahr ist, daß diese eigensinnige Haltung überall in Sizilien anzutreffen ist. Die Sizilianer scheinen sich festzuhalten an dieser vorgeblichen Unvergleichlichkeit. In aller Armut und Rückständigkeit soll dieser aus historischem Brei zusammengekochte Stolz ihnen Halt geben. Das stört ja niemanden und tut keinem weh, so daß man als Gast im Lande das Gerede hinnehmen kann. Daß aber ein als liberal geltender, renommierter Schriftsteller in einem ebensolchen Verlag diese nationalistische Pseudo-Völkerpsychologie nachbetet - dieses auch noch mit der Attitüde, er habe etwas Neues entdeckt -, das ist doch flach und ärgerlich. Gerade von ihm hätte man erwartet, die Wahrheit zu sagen: Daß sich zum Beispiel die Sizilianer in Wirklichkeit durch nichts von den anderen Europäern unterscheiden als dadurch, daß sie von einem verbrecherischen System absichtsvoll in Armut und Abhängigkeit gehalten werden. Zum Verständnis Sciascias muß man allerdings sagen, daß es bei dem vorliegenden Bändchen nicht um ein als ganzes geschriebenes Buch handelt, sondern um eine Sammlung hier und dort verstreuter Texte. Der Wagenbach-Verlag, der sonst gerade bei italienischen Autoren eine gute Hand hat, hat hier wohl danebengegriffen. (Sr.)
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