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Jurek Becker gehört zu den großen deutschen Schriftstellern nach 1945. Daß er überhaupt ein deutscher Schriftsteller wurde, war jedoch keineswegs selbstverständlich. »Ich bin in Polen geboren, in der unschönen Stadt Lodz, als Kind von Eltern mit, wie man sagt, jüdischem Hintergrund. Der ist, ob ich will oder nicht, somit auch mein Hintergrund. Und wenn nicht bald nach meiner Geburt die deutsche Wehrmacht gekommen wäre, wenn sie nicht das Land besetzt und meine Eltern und mich in ein Ghetto und später in verschiedene Konzentrationslager gesteckt hätte, wenn die Rote Armee nicht das Lager…mehr

Produktbeschreibung
Jurek Becker gehört zu den großen deutschen Schriftstellern nach 1945. Daß er überhaupt ein deutscher Schriftsteller wurde, war jedoch keineswegs selbstverständlich. »Ich bin in Polen geboren, in der unschönen Stadt Lodz, als Kind von Eltern mit, wie man sagt, jüdischem Hintergrund. Der ist, ob ich will oder nicht, somit auch mein Hintergrund. Und wenn nicht bald nach meiner Geburt die deutsche Wehrmacht gekommen wäre, wenn sie nicht das Land besetzt und meine Eltern und mich in ein Ghetto und später in verschiedene Konzentrationslager gesteckt hätte, wenn die Rote Armee nicht das Lager Sachsenhausen, wo ich zuletzt weilte, befreit hätte, dann möchte ich nicht wissen, als was und vor wem ich heute stehen würde.« Jurek Becker aber wußte, als was und vor wem er stand - davon zeugen seine Aufsätze, Vorträge und Interviews. In der vorliegenden Sammlung findet das Selbst- und Weltverständnis dieses außergewöhnlichen Autors Ausdruck, der wie kein anderer die deutschen Verhältnisse in Ost und West, einst und jetzt, auszuloten vermochte - in der ihm eigenen seltenen Balance von sprachlicher Prägnanz, Witz und Klarsicht.Mein Vater, die Deutschen und ich basiert auf dem von Jurek Becker 1996 zusammengestellten Band Ende des Größenwahns. Die Neuausgabe enthält zudem wichtige Interviews, darunter jene, die ein Publikationsverbot in der DDR provozierten, sowie zahlreiche Texte aus dem Nachlaß, u. a. »Wie es zu Jakob dem Lügner kam«.
Autorenporträt
Becker, JurekJurek Becker wurde am 30. September 1937 in Lodz/Polen geboren und starb am 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein. Von 1939 bis 1945 wuchs Becker im Ghetto in Lodz auf und wurde später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. 1945 siedelte er in den Ostteil Berlins über, wo er von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität studierte. 1960 wurde Becker aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen und ging an die Filmhochschule Babelsberg. Becker ist Autor zahlreicher Drehbücher. 1969 wurde sein erster Roman veröffentlicht - Jakob der Lügner wurde weltbekannt. Jurek Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold und dem Bundesverdienstkreuz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2007

Das Leben hätte man sich auch besser vorstellen können

Von einem, der auszog, aus einem verpfuschten Start das Beste zu machen: ein Sammelband von Jurek Becker, der vor zehn Jahren starb und jetzt siebzig geworden wäre.

Jurek Becker, der in diesem Herbst siebzig Jahre alt geworden wäre, aber im März 1997 starb, war ein interessanter Zeitgefährte, ein eigentümlicher Protokollant des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber ein Erzähler von Rang, ein fleißiger dazu, denn seine Werkliste ist lang. Hinzu kommen Filmdrehbücher, die teils Beckers schon vorhandene Romane ins andere Metier transponierten, teils von vornherein der anderen Kunst verpflichtet waren. Stets erfuhr der Autor ein lebhaftes Echo, beim Publikum und bei der Kritik. Und sogar jene, die wenig von ihm lasen oder sich nicht mehr so recht daran erinnern können, haben ihr Aha-Erlebnis, wenn seine populärste Hinterlassenschaft erwähnt wird: "Liebling Kreuzberg", die Fernsehserie, für die Jurek Becker Handlung und Sprache entwarf und in der sein bester Freund, Manfred Krug, die Titelrolle spielte.

Im doppelten Gedenkjahr erscheint jetzt ein Buch mit dem Titel "Mein Vater, die Deutschen und ich", eine Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Interviews aus mehr als dreißig Jahren, ein autobiographisches Lehrbuch sozusagen. Wer Becker noch nicht oder nicht hinreichend kennt, der könnte nun Lust verspüren, ihm endlich zu begegnen.

Denn die Sammlung bereitet Genuss, obwohl es eigentlich nur Alltag ist, der aus den meisten Beiträgen zu uns spricht. Jurek Becker antwortet auf einst aktuelle Fragen; er versucht, Missverständnisse aufzuklären, zeitgebundene Positionen sowie deren späteren Wechsel zu erläutern. Der Sprechende und Schreibende hat diesmal aber keine Zeit, Gedanken und Sprache sorgsam auszubrüten, Formuliertes immer von neuem zu korrigieren, wie er es mit seiner Dichtung tat. Becker war, auch in alltäglichen Zusammenhängen, ein verbaler Artist, er konnte sich jederzeit und unter allen Umständen auf die deutsche Sprache verlassen und die Sprache sich auf ihn.

Wir erfahren hier, so ausführlich und präzise wie nie zuvor, welches Dasein diesen Schriftsteller hervorbrachte. Seine Leser wussten, und sei es auch nur aus den Klappentexten, dass Jurek Becker jüdischer Herkunft war, nahezu alle Angehörigen in Hitlers Konzentrationslagern verlor, selber eine Lager-Kindheit hatte, von der Roten Armee aus Sachsenhausen befreit wurde und niemanden wiederfand als seinen Vater. Wie wird aus einem solchen Menschen ein selbstbewusster Mann? Wie kann ein Opfer der Deutschen die deutschen Nachkriegsschicksale als die seinen auffassen? Auf welchen Wegen reift ein im polnischen Lodz geborenes Kind, dem einst jedes freundliche deutsche Wort verweigert wurde, zum Meister der deutschen Sprache?

Ein paar dieser Fragen hat Jurek Becker schon vor Jahrzehnten in einigen seiner Romane beantwortet: in "Jakob der Lügner" zum Beispiel, der Geschichte des KZ-Insassen, der die Widerstandskraft seiner Leidensgefährten durch erfundene Nachrichten aus einem nicht existierenden Radio zu stärken versucht; oder in "Der Boxer", wo ein jüdischer Sportler den Verlust seiner hingemordeten Familie nicht überwindet; oder in "Bronsteins Kinder", dem Bildnis eines Sohnes, der den Höllenerinnerungen und Rachegelüsten seines Vaters entrinnen, der ein Durchschnittsmensch werden möchte und das niemals schafft. Aber bei diesen Aufarbeitungen jüdischen Schicksals hat es der Autor nicht belassen. Schon deshalb nicht, weil er eigentlich in sich keinen ausdrücklich dazu Berufenen sah. Zunächst verblüfft es, wenn man in der neuen Sammlung immer wieder die Aussage findet, er wisse aus eigenem Erleben nichts über die grausige Vergangenheit. Er sei damals so klein gewesen, dass er alles vergessen habe und das, was war, nur aus anderer Leute Berichten kenne. Dieser Jurek Becker kennt die Wahrheit über seine Vergangenheit, doch die Vergangenheit selbst kennt er nicht. Ab und zu spürt er die Verpflichtung, sie aufzudecken, daher die Romane.

Sein Vater nahm den Sohn mit nach Ost-Berlin, weil er vom kommunistischen Teil Deutschlands die geringste Gefährdung jüdischer Bewohner erwartete. So wurde aus dem achtjährigen Jurek ein DDR-Kind. Den Polen traute der jüdische Vater nicht. Der Sohn wuchs rundherum deutsch auf. In einem der gesammelten Interviews sagte er 1988: "Immer wenn ich ein neues Buch anfange, und vielleicht fange ich deswegen immer seltener ein neues Buch an, komme ich mir vor wie einer, der von vorne anfangen muß. Nie habe ich beim Schreiben das Gefühl, auf Erfahrungen, Erkenntnisse oder gesicherte Theorien aufbauen zu können. Ich setze mich eigentlich immer mit leeren Taschen an den Schreibtisch. Vielleicht ist ein Grund dafür der, daß ich die Sprache, in der ich schreibe, relativ spät gelernt habe." Doch darf man weder diese Worte noch weitere solche Bemerkungen als Beweis dafür nehmen, dass sein fataler Lebensanfang ihn mit psychischen Hemmungen, mit einem Mangel an Selbstwertgefühl belastet hätte. Für das Gegenteil sprechen die Bekundungen, in denen Jurek Becker sich über den Zustand des Landes äußert, in dem er zu Hause ist. Er beginnt als überzeugter DDR-Bürger, leitet freilich aus dieser Eigenschaft alles andere ab als die Pflicht zur Unterwerfung. Vielmehr ist er stets darauf aus, die DDR-Oberen beim programmatischen Wort zu nehmen, die Ideale einzuklagen, die sie verkünden. Sein Maß an Bereitwilligkeit schmilzt, als 1968 auch die Nationale Volksarmee den Prager Sozialismus mit menschlichem Antlitz niederwalzt. Neun Jahre später, im Zusammenhang mit der Biermann-Affäre, kündigt Becker die Gefolgschaft. Ende 1977 verlässt er die DDR, lebt und arbeitet in West-Berlin, teilweise auch als Gastprofessor in Amerika.

Ein Ausweg? Eher ein Weg in neues Ungenügen, neue Enttäuschungen. Aus den Niederschriften und Interview-Antworten der ersten West-Jahre geht zweierlei hervor: Zum einen hält der Auswanderer die neue Umgebung für tolerierbar, sofern sie nichts ist als Wohnsitz und Arbeitsplatz; aber als Erfüllung politischer Sehnsüchte kommt auch sie nicht in Frage. Zum anderen verblassen, je mehr Zeit vergeht, umso unaufhaltsamer diese Sehnsüchte. Becker wird älter. Heißt das, er wird weiser? Das fragt er sich selbst. Auf jeden Fall wird er zurückhaltender, verliert den Glauben daran, dass Menschen überhaupt etwas Ideales zustande bringen und bewahren können. Auch seine Bücher sind fortan von solchen Zweifeln getragen, so die Romane "Schlaflose Tage", "Aller Welt Freund", "Amanda herzlos".

Die Vereinigung beider Hälften Deutschlands hat der so früh Verstorbene noch miterlebt. Sie hat ihn nicht hoffnungsfroher gestimmt als die Verhältnisse in Ost und West während der Jahre zuvor. In seinem letzten Interview vom März 1997 sagt Jurek Becker über die deutsche Einheit: "Auch die ist miserabel gemanagt worden. Auch die hätte man sich besser gemacht vorstellen können, aber wie es so oft ist: Verpfuscht ist verpfuscht, in den Brunnen gefallen ist in den Brunnen gefallen. Und jetzt muß man zusehen, wie man es da wieder herauskriegt."

SABINE BRANDT

Jurek Becker: "Mein Vater, die Deutschen und ich". Aufsätze, Vorträge, Interviews. Herausgegeben von Christine Becker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 326 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Helmut Böttiger bejubelt diesen erstmals 1996 und nun um weitere Texte ergänzten Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews Jurek Beckers, die er für ebenso wichtig und tongebend hält wie Beckers Romane. Besonders freut ihn, den Stärken des vor zehn Jahren verstorbenen Autors dort in konzentrierter Form zu begegnen, seiner "Nachdenklichkeit", seinem politischen Mut und seiner Indifferenz gegenüber Moden. Immer wieder komme der 1937 in Polen geborene Autor auf seine Biografie zu sprechen: als Kind jüdischer Eltern verlor er seine Mutter im KZ, sein Vater fand ihn im KZ Sachsenhausen wieder und zog mit ihm nach Berlin, wo er die deutsche Sprache lernen musste, während sein Vater kein Polnisch mehr mit ihm sprach. Besonders berührt hat den Rezensenten Beckers Liebeserklärung an dessen langjährigen Freund Manfred Krug, und er freut sich über die neu hinzugenommene Protest Beckers vor der Partei zur Biermann-Ausbürgerung, die seine "mutige, unbeirrbare Haltung" demonstriere.

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»Becker war ... ein verbaler Artist, er konnte sich jederzeit und unter allen Umständen auf die deutsche Sprache verlassen und die Sprache sich auf ihn.« Frankfurter Allgemeine Zeitung