Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.1996Mir ist so komisch
Milena Moser schreibt einen klugen Kriminalroman · Von Gerhard Henschel
Um sich gegen das Erwachsenwerden zu immunisieren, nahm Pippi Langstrumpf Erbsen ein, die sie als wachstumshemmende "Krummeluspillen" bezeichnete. Große Menschen, dozierte sie, hätten niemals etwas Lustiges, "nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern". In Milena Mosers Roman "Mein Vater und andere Betrüger" machen die Erwachsenen eine ähnlich schlechte Figur. Fast alle sind aufdringlich, geldgierig, überheblich und begriffsstutzig, und sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung stehen, erweisen sie sich als unpraktisch, inkompetent und lebensuntüchtig. "Die meisten Mütter brachen irgendwann zusammen, das wußte ich von den Mädchen in meiner Klasse", berichtet Charlotte, die dreizehnjährige Erzählerin. "Diejenigen, die Geld hatten, erholten sich wie Mama in einem Sanatorium, die anderen bekamen Tabletten vom Hausarzt verschrieben. Das war ganz normal. Wenn man verheiratet war und Kinder hatte."
Charlotte, der keine Krummeluspillen zur Verfügung stehen, kann sich nur fest vornehmen, nicht so zu werden und vor allen Dingen niemals zu heiraten. Die Erwachsenen spielen ihr übel mit, die Mutter verschwindet unter mysteriösen Umständen, der Vater erweist sich als Hallodri und taucht ebenfalls unter, und die Pflegemutter ist ein wimmerndes Nervenbündel ohne jedes pädagogische Talent. Zunächst nimmt Charlotte Zuflucht zu theatralischen Gesten der Hilflosigkeit, täuscht rührend ungeschickt einen Selbstmordversuch vor oder malt sich Ringe unter die Augen und stäubt sich mit weißem Puder ein, um glaubwürdig einen Ohnmachtsanfall simulieren zu können: ",Mir ist so komisch', stöhnte ich, "ich glaube, ich werde ohnmächtig!' Dann sank ich in mich zusammen, den Sturz mit der linken Hand am Türrahmen entlang sanft abbremsend. Die Frauen reagierten nicht. Ich gab ihnen eine Minute. Dann stand ich wieder auf und ging zurück ins Badezimmer und wusch mir das Gesicht."
Ganz allmählich entwickelt sich aus dem lakonischen und unsentimentalen, auch Beklemmendes und Trauriges überraschend komisch referierenden Bericht eines Teenagers ein Kriminalroman. Mit den Kinderspielen ist es vorbei. Die Probleme werden immer größer, und Charlotte wird es auch, gezwungenermaßen. Als Detektivin in eigener Sache wächst sie über sich selbst hinaus und allen Erziehungsberechtigten so deutlich über den Kopf, daß ihr am Ende nur noch ihr bärbeißiger Großvater gewachsen ist, und selbst dem gelingt es nur mit Mühe.
Nebenbei stellen sich auch die irritierenden Begleiterscheinungen der Pubertät ein. Nachdem Charlotte mit "Robertino, dem Trottel", ein paar Meter Hand in Hand gegangen ist, fühlt sich ihre Hand noch Stunden später sonderbar an, "als hätte ich sie in Trockeneis gelegt". Und sie beschließt erneut, niemals zu heiraten, und besiegelt den Schwur mit Blut, das auf den Kinderzimmerteppich tropft, bis die Pflegemutter mit einem Pflaster herbeieilt. Als Robertino Tage später wieder anruft, liegen die Dinge schon wieder ganz anders.
Es ist ein verbreiteter Kindertagtraum, daß die eigenen Eltern insgeheim ein Doppelleben führen und die Familienverhältnisse sich in Wirklichkeit anders darstellen als auf dem Papier. Der verwaisten, halbwüchsigen Charlotte, die versucht, die Wahrheit über die Identität ihres charakterlich schillernden, in allerlei dunkle Geschäfte verwickelten Vaters herauszufinden, müssen alle Sympathien zufliegen; dafür ist sie wie geschaffen. Seine Spannung bezieht Milena Mosers Roman aber auch aus den ganz beiläufig erwähnten Nervenkrisen, Schwüren, Telefonaten und Gefühlsverwirrungen der Heldin.
"Mein Vater und andere Betrüger" ist Krimi, exzellente Unterhaltungslektüre und Entwicklungsroman in einem. Die Wiedergabe des Monologs einer besonders schwatzhaften und outrierten, zwischendurch süßsauer lächelnden Dame bricht die Erzählerin mit der trockenen Bemerkung ab: "Schon gut. Wissen wir alles." Das hätte auch von Pippi Langstrumpf sein können, die einmal festgestellt hat: "Man bekommt viel zu hören, bevor einem die Ohren abfallen." Die Mitteilungen von Milena Mosers kurz angebundener Charlotte gehören sicherlich nicht in diese Kategorie.
Milena Moser: "Mein Vater und andere Betrüger". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1996. 252 S., geb., 36,- DM.
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Milena Moser schreibt einen klugen Kriminalroman · Von Gerhard Henschel
Um sich gegen das Erwachsenwerden zu immunisieren, nahm Pippi Langstrumpf Erbsen ein, die sie als wachstumshemmende "Krummeluspillen" bezeichnete. Große Menschen, dozierte sie, hätten niemals etwas Lustiges, "nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern". In Milena Mosers Roman "Mein Vater und andere Betrüger" machen die Erwachsenen eine ähnlich schlechte Figur. Fast alle sind aufdringlich, geldgierig, überheblich und begriffsstutzig, und sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung stehen, erweisen sie sich als unpraktisch, inkompetent und lebensuntüchtig. "Die meisten Mütter brachen irgendwann zusammen, das wußte ich von den Mädchen in meiner Klasse", berichtet Charlotte, die dreizehnjährige Erzählerin. "Diejenigen, die Geld hatten, erholten sich wie Mama in einem Sanatorium, die anderen bekamen Tabletten vom Hausarzt verschrieben. Das war ganz normal. Wenn man verheiratet war und Kinder hatte."
Charlotte, der keine Krummeluspillen zur Verfügung stehen, kann sich nur fest vornehmen, nicht so zu werden und vor allen Dingen niemals zu heiraten. Die Erwachsenen spielen ihr übel mit, die Mutter verschwindet unter mysteriösen Umständen, der Vater erweist sich als Hallodri und taucht ebenfalls unter, und die Pflegemutter ist ein wimmerndes Nervenbündel ohne jedes pädagogische Talent. Zunächst nimmt Charlotte Zuflucht zu theatralischen Gesten der Hilflosigkeit, täuscht rührend ungeschickt einen Selbstmordversuch vor oder malt sich Ringe unter die Augen und stäubt sich mit weißem Puder ein, um glaubwürdig einen Ohnmachtsanfall simulieren zu können: ",Mir ist so komisch', stöhnte ich, "ich glaube, ich werde ohnmächtig!' Dann sank ich in mich zusammen, den Sturz mit der linken Hand am Türrahmen entlang sanft abbremsend. Die Frauen reagierten nicht. Ich gab ihnen eine Minute. Dann stand ich wieder auf und ging zurück ins Badezimmer und wusch mir das Gesicht."
Ganz allmählich entwickelt sich aus dem lakonischen und unsentimentalen, auch Beklemmendes und Trauriges überraschend komisch referierenden Bericht eines Teenagers ein Kriminalroman. Mit den Kinderspielen ist es vorbei. Die Probleme werden immer größer, und Charlotte wird es auch, gezwungenermaßen. Als Detektivin in eigener Sache wächst sie über sich selbst hinaus und allen Erziehungsberechtigten so deutlich über den Kopf, daß ihr am Ende nur noch ihr bärbeißiger Großvater gewachsen ist, und selbst dem gelingt es nur mit Mühe.
Nebenbei stellen sich auch die irritierenden Begleiterscheinungen der Pubertät ein. Nachdem Charlotte mit "Robertino, dem Trottel", ein paar Meter Hand in Hand gegangen ist, fühlt sich ihre Hand noch Stunden später sonderbar an, "als hätte ich sie in Trockeneis gelegt". Und sie beschließt erneut, niemals zu heiraten, und besiegelt den Schwur mit Blut, das auf den Kinderzimmerteppich tropft, bis die Pflegemutter mit einem Pflaster herbeieilt. Als Robertino Tage später wieder anruft, liegen die Dinge schon wieder ganz anders.
Es ist ein verbreiteter Kindertagtraum, daß die eigenen Eltern insgeheim ein Doppelleben führen und die Familienverhältnisse sich in Wirklichkeit anders darstellen als auf dem Papier. Der verwaisten, halbwüchsigen Charlotte, die versucht, die Wahrheit über die Identität ihres charakterlich schillernden, in allerlei dunkle Geschäfte verwickelten Vaters herauszufinden, müssen alle Sympathien zufliegen; dafür ist sie wie geschaffen. Seine Spannung bezieht Milena Mosers Roman aber auch aus den ganz beiläufig erwähnten Nervenkrisen, Schwüren, Telefonaten und Gefühlsverwirrungen der Heldin.
"Mein Vater und andere Betrüger" ist Krimi, exzellente Unterhaltungslektüre und Entwicklungsroman in einem. Die Wiedergabe des Monologs einer besonders schwatzhaften und outrierten, zwischendurch süßsauer lächelnden Dame bricht die Erzählerin mit der trockenen Bemerkung ab: "Schon gut. Wissen wir alles." Das hätte auch von Pippi Langstrumpf sein können, die einmal festgestellt hat: "Man bekommt viel zu hören, bevor einem die Ohren abfallen." Die Mitteilungen von Milena Mosers kurz angebundener Charlotte gehören sicherlich nicht in diese Kategorie.
Milena Moser: "Mein Vater und andere Betrüger". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1996. 252 S., geb., 36,- DM.
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