Ich will einen Menschen töten! Dieser Gedanke beherrscht Frank Cairnes, seit er mit ansehen mußte, wie sein Sohn von einem Sportwagen überfahren wurde, dessen Lenker Fahrerflucht beging. Als die Nachforschungen der Polizei erfolglos bleiben, beschließt Cairnes, von Beruf Kriminalschriftsteller, auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei hält er seine Erkenntnisse in einem Tagebuch fest.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Ein solcher Mord wäre kein schlechter Mord
"Mein Verbrechen": Nicholas Blake illustriert die zwei Theologien des Kriminalromans / Von Paul Ingendaay
Jetzt kommt die dunkle Zeit; während naßkalter Wind durch die Straßen läuft, sollte man zu Hause bleiben, Hagebuttentee aufbrühen und einen Kriminalroman lesen. Warum nicht diesen, der mit den Sätzen beginnt: "Ich will einen Menschen töten. Ich weiß nicht, wie er heißt, ich weiß nicht, wo er wohnt, ich habe keine Ahnung, wie er aussieht. Aber ich werde ihn finden und ihn töten . . ."
Mit einem volltönenden Gong eröffnet Cecil Day Lewis, der sich als Kriminalschriftsteller Nicholas Blake nannte, seinen Roman "Mein Verbrechen" (The Beast Must Die) aus dem Jahr 1938. Wir lauschen der Beichte eines Menschen, der zum Mörder werden will. Doch schon in der fünften Zeile schweigen die Instrumente. "Du mußt mir diese melodramatische Einleitung verzeihen, lieber Leser", heißt es nun. "Sie klingt ganz wie der Anfang eines Kriminalromans von mir, nicht wahr? Nur, daß diese Geschichte nie veröffentlicht werden wird und der ,liebe Leser' eine altertümlich-höfliche Floskel ist."
Die lieben Leser, das sind inzwischen wir, die natürlich wissen, daß diese Geschichte wie so viele andere Heimlichkeiten ans Licht will. Und für uns, denen man schon etwas bieten muß, damit sie nicht abspringen, für uns bekommt der Ton des Ich-Erzählers etwas Getriebenes, Wahnhaftes und auch ein wenig Rechthaberisches. Gut hundert Seiten bleibt es so; so lange lesen wir das Tagebuch von Frank Cairnes, der sich als Kriminalschriftsteller Felix Lane nennt, und dieses Tagebuch ist so spannend, wie es Berichte über eine Besessenheit, die alles andere im Leben wegfrißt, nur eben sein können.
Mit wenigen Sätzen schildert Cairnes seinen schrecklichen Fall. Ihm, der zurückgezogen auf dem Land lebt, ist erst seine junge Frau gestorben (auch er ist noch nicht alt), dann durch die Schuld eines Autofahrers, eines Fremden, der wie ein Wahnsinniger durch den Ort rast, auch der kleine Sohn. Der Vater hält den Sechsjährigen Minuten nach der Tat in den Armen, die Bonbons liegen auf der Straße verstreut, der Fahrer ist verschwunden. Es sind Einzelheiten wie die verstreuten Bonbons, die Blakes Sinn für eine gespenstisch verschobene Wirklichkeit verraten: Der Vater beginnt sie aufzulesen, weil ihm, wie er sagt, nichts anderes mehr zu tun bleibt. Dann erleidet er einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich erst nach Monaten erholt. Unterdessen ist der fremde Fahrer, wenn man so sagen darf, verschwundener denn je.
Nach diesem Unbekannten wird Cairnes ruhelos fahnden. Er wird ihn schließlich aufspüren, mehr durch Zufall als durch Kombinationsgabe, und ihn als George Rafferty namhaft machen; er wird sich in seine Umgebung einschleichen, ein gewisses Vertrauen gewinnen und feststellen, daß sein Gegner ein Familientyrann ist, der seinen Sohn, die Ehefrau, die Schwägerin quält und unterdrückt. Solch ein Mord wäre ein guter Mord, denkt Cairnes, nun bereits von der Sorge um den zwölfjährigen Phil geleitet, dem er innerhalb weniger Tage ein besserer Vater geworden ist als der grobe Klotz in zwölf Jahren. Dann liegt sein Gegner tot am Boden: ermordet, aber anders als geplant.
Es fällt schwer, Blakes Roman, der als sein stärkster gilt, genau zu klassifizieren. Er trägt Züge des Psychothrillers, des indizientreuen Whodunnit und des bürgerlichen Gesellschaftsdramas, keinen davon zu seinem Nachteil. Sein auffälligstes Merkmal ist die Versiertheit, mit der er komponiert und geschrieben wurde. Die Fülle der gelehrten Anspielungen und handwerklichen Raffinessen verrät jedenfalls einen gebildeten Autor.
Tatsächlich gehörte Cecil Day Lewis (von dem der Klappentext weiß, daß er 1904 geboren wurde, nicht aber, daß er 1972 starb) zusammen mit W. H. Auden und Stephen Spender zum "Dreigestirn" der englischen Lyrik in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren. Neben seinen eigenen Dichtungen, die sich mit wachsender Ernüchterung über die politische Nachkriegsordnung zu einem Klassizismus für den Hausgebrauch entwickelten, übertrug er Paul Valéry und schuf angesehene Vergil-Übersetzungen. Im Jahr 1951 zum Professor in Oxford ernannt, übernahm der ehemalige Kommunist 1968 sogar das Amt des Hofdichters. Ein Jahr später drehte Claude Chabrol seinen Film "Das Biest muß sterben", der auf dem Roman von Nicholas Blake alias Cecil Day Lewis beruht.
Es ist ein merkwürdiges altes Ding, dieser Roman, den der Diogenes Verlag in der Übersetzung aus den frühen fünfziger Jahren noch einmal vorlegt. Das muß auch Chabrol gemerkt haben, denn um dem Film seine trügerisch glatte, dezidiert spießerfeindliche Oberfläche zu geben, schneidet er, was ihm an der Vorlage nicht paßt, wie überstehendes Blattwerk zurück. Während Blake am Ende einen Mörder präsentiert, der so glaubhaft oder unglaubhaft ist, wie drei andere es ebenfalls wären, läßt Chabrol den Täter im dunkeln. In den späten sechziger Jahren galt das als schlau; nicht der Mörder war pervers, sondern die feine Gesellschaft, die ihn hervorbrachte. Man darf daraus aber nicht schließen, Chabrol wäre moderner als Blake; im Gegenteil. Blakes Kunst besteht darin, daß er auf der Schauseite die Anforderungen des Kriminalromans übererfüllt, um hinter der Szene die eigentlichen Tricks vorzuführen.
Zunächst das Sichtbare. Als hätte der Autor die Wörter gezählt, ergeht exakt in der Mitte des Romans die Nachricht vom Mord. In mehr als einer Beziehung zerfällt das Buch, das aus insgesamt vier großen Kapiteln besteht, in zwei Hälften: In den beiden ersten wird der Mord geplant, in den folgenden wird er untersucht, bearbeitet und aufgeklärt. Auch der Aufklärungsapparat wartet nicht mit einem, sondern mit zwei Detektiven auf. Zwei Söhne gibt es in diesem Roman, die zu leiden haben, zwei Väter, die Unrecht begehen, zwei Köpfe, die den Fall in einem Wettstreit des Kombinierens, Fährtenlegens und Fallenstellens unter sich ausmachen.
Wer möchte, kann in den letzteren, den scharfsinnigen Gegenspielern, die beiden "Theologien" des Kriminalromans erkennen: In der ersten wird Gott durch den Mörder ersetzt, der sich durch die Brillanz und schiere Unerhörtheit seiner Tat zum Schöpfer macht, in der zweiten durch den klugen Detektiv, der das aus den Fugen gebrachte Universum repariert. Schließlich ringen auch zwei Moralauffassungen um die Herrschaft, und vom Ausgang dieses Kampfes hängt der ganze kleine Kosmos ab, den Blake schildert: Die eine Moral sagt, um Unrecht zu rächen, dürfe man das Recht in die eigenen Hände nehmen; die andere sagt, daß man sie sich dabei schmutzig macht.
Das alles hat Blake sorgfältig und mit Scharfsinn konstruiert; beim Lesen sieht man nur lebendige Figuren und eine genau gezeichnete Bürgerhölle in der englischen Provinz. Daneben gibt es aber viele Details, die man "wilde" Details nennen könnte. Diese Einzelheiten haben keine erkennbare Funktion außer der, das Buch komplexer und reicher zu machen. Sie bauen nicht an dem Fall, mit dem wir es hier zu tun haben, sondern an Geschichten, die aus dem herkömmlichen Kriminalroman hinausführen, oder zumindest graben sie zu diesen anderen Geschichten aufwendige Stollen und Verbindungsgänge.
Blake schildert etwa die Atmosphäre eines Nachmittags, an dem der Detektiv und seine Frau zusammen mit Cairnes und dessen Freundin (die der Schriftsteller unschön ausgenutzt hat, um an den Familientyrannen heranzukommen) auf Liegestühlen hinter dem Hotel sitzen. Eigentlich müßte es bei ihrem Gespräch um den Kriminalfall gehen, darum zum Beispiel, wer denn nun von den vier Menschen, die ein Interesse daran haben könnten, das Gift in die Medizin geschüttet hat; aber die Zeit scheint auf einmal stillzustehen, und beim Lesen fühlt man sich an Henry James erinnert und den Eröffnungssatz von "Portrait of a Lady": Dort ist von bestimmten Umständen die Rede, unter denen es keine angenehmeren Stunden gebe als jene, die dem Nachmittagstee gewidmet sind.
Einen solchen Nachmittag of the finest and rarest quality, wie James ihn sozusagen mit zartem Schwung des Handgelenks nennt, erleben auch Blakes Figuren. Man könnte sich sogar denken, daß sie sich zu anderer Gelegenheit, in einem anderen Roman, viele interessante Dinge zu erzählen hätten. Und man meint zu spüren, wie Blake sich von den trägen Gegenständen und seinem absichtslosen Schreiben über sie losreißt, um zur Tagesordnung zurückzukehren: "Das Schweigen, das seinen Worten folgte, war endlos. Der Fluß plätscherte glucksend gegen das Ufer, ein Wasserhuhn kam mit hysterischem Schrei aus dem Schilf, das Radio im Hotel wiederholte ungerührt die Behauptung der Japaner, daß die Bombardierung offener Städte in China reine Selbstverteidigung sei, aber die vier Menschen auf dem Rasen bedrückte das Schweigen wie ein bloßliegender Nerv."
Blakes Roman enthält einige solcher Szenen, die über das funktionale Detail hinausgehen und die Figuren gewissermaßen von der Handlung beurlauben. Bei anderen Gelegenheiten zeigt sich sein moralischer Ernst in genau gearbeiteten, doch höchst sonderbaren Parallelen wie der, daß zweimal im ganzen Roman jemand auf dem Unterarm seines Gegenübers einen Leberfleck bemerkt. Das erste Mal sieht Cairnes ihn auf dem Unterarm des Mannes, den er umbringen will: Materie, die ihn moralisch bereits nichts mehr angeht. Das zweite Mal sieht ihn der Detektiv auf dem Unterarm der Mutter des Mannes, der umgebracht wurde: das einzige Menschliche an einer bösen alten Hexe.
Nun könnte man sagen, daß all die winzigen Einzelheiten bei Blake vollständig den Bauplan des großen Ganzen enthalten, und man läge nicht ganz falsch. Aber wichtiger für uns Heutige ist wohl, daß und warum man dieses Buch, das eigentlich doch nur ein Krimi sein will, fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen immer noch gern liest. Es ist erstaunlich, wie verschwenderisch die angelsächsische Literatur Leute hervorbringt, die sich im Unterhaltungsfach Mühe geben. Dort, bei den Angelsachsen, ist der Kriminalroman ein gut ausgebautes, viel benutztes, vernünftig beheiztes Landhaus, in dem echtes schriftstellerisches Können überwintern kann.
Nicholas Blake: "Mein Verbrechen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eberhard Gauhe. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 320 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mein Verbrechen": Nicholas Blake illustriert die zwei Theologien des Kriminalromans / Von Paul Ingendaay
Jetzt kommt die dunkle Zeit; während naßkalter Wind durch die Straßen läuft, sollte man zu Hause bleiben, Hagebuttentee aufbrühen und einen Kriminalroman lesen. Warum nicht diesen, der mit den Sätzen beginnt: "Ich will einen Menschen töten. Ich weiß nicht, wie er heißt, ich weiß nicht, wo er wohnt, ich habe keine Ahnung, wie er aussieht. Aber ich werde ihn finden und ihn töten . . ."
Mit einem volltönenden Gong eröffnet Cecil Day Lewis, der sich als Kriminalschriftsteller Nicholas Blake nannte, seinen Roman "Mein Verbrechen" (The Beast Must Die) aus dem Jahr 1938. Wir lauschen der Beichte eines Menschen, der zum Mörder werden will. Doch schon in der fünften Zeile schweigen die Instrumente. "Du mußt mir diese melodramatische Einleitung verzeihen, lieber Leser", heißt es nun. "Sie klingt ganz wie der Anfang eines Kriminalromans von mir, nicht wahr? Nur, daß diese Geschichte nie veröffentlicht werden wird und der ,liebe Leser' eine altertümlich-höfliche Floskel ist."
Die lieben Leser, das sind inzwischen wir, die natürlich wissen, daß diese Geschichte wie so viele andere Heimlichkeiten ans Licht will. Und für uns, denen man schon etwas bieten muß, damit sie nicht abspringen, für uns bekommt der Ton des Ich-Erzählers etwas Getriebenes, Wahnhaftes und auch ein wenig Rechthaberisches. Gut hundert Seiten bleibt es so; so lange lesen wir das Tagebuch von Frank Cairnes, der sich als Kriminalschriftsteller Felix Lane nennt, und dieses Tagebuch ist so spannend, wie es Berichte über eine Besessenheit, die alles andere im Leben wegfrißt, nur eben sein können.
Mit wenigen Sätzen schildert Cairnes seinen schrecklichen Fall. Ihm, der zurückgezogen auf dem Land lebt, ist erst seine junge Frau gestorben (auch er ist noch nicht alt), dann durch die Schuld eines Autofahrers, eines Fremden, der wie ein Wahnsinniger durch den Ort rast, auch der kleine Sohn. Der Vater hält den Sechsjährigen Minuten nach der Tat in den Armen, die Bonbons liegen auf der Straße verstreut, der Fahrer ist verschwunden. Es sind Einzelheiten wie die verstreuten Bonbons, die Blakes Sinn für eine gespenstisch verschobene Wirklichkeit verraten: Der Vater beginnt sie aufzulesen, weil ihm, wie er sagt, nichts anderes mehr zu tun bleibt. Dann erleidet er einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich erst nach Monaten erholt. Unterdessen ist der fremde Fahrer, wenn man so sagen darf, verschwundener denn je.
Nach diesem Unbekannten wird Cairnes ruhelos fahnden. Er wird ihn schließlich aufspüren, mehr durch Zufall als durch Kombinationsgabe, und ihn als George Rafferty namhaft machen; er wird sich in seine Umgebung einschleichen, ein gewisses Vertrauen gewinnen und feststellen, daß sein Gegner ein Familientyrann ist, der seinen Sohn, die Ehefrau, die Schwägerin quält und unterdrückt. Solch ein Mord wäre ein guter Mord, denkt Cairnes, nun bereits von der Sorge um den zwölfjährigen Phil geleitet, dem er innerhalb weniger Tage ein besserer Vater geworden ist als der grobe Klotz in zwölf Jahren. Dann liegt sein Gegner tot am Boden: ermordet, aber anders als geplant.
Es fällt schwer, Blakes Roman, der als sein stärkster gilt, genau zu klassifizieren. Er trägt Züge des Psychothrillers, des indizientreuen Whodunnit und des bürgerlichen Gesellschaftsdramas, keinen davon zu seinem Nachteil. Sein auffälligstes Merkmal ist die Versiertheit, mit der er komponiert und geschrieben wurde. Die Fülle der gelehrten Anspielungen und handwerklichen Raffinessen verrät jedenfalls einen gebildeten Autor.
Tatsächlich gehörte Cecil Day Lewis (von dem der Klappentext weiß, daß er 1904 geboren wurde, nicht aber, daß er 1972 starb) zusammen mit W. H. Auden und Stephen Spender zum "Dreigestirn" der englischen Lyrik in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren. Neben seinen eigenen Dichtungen, die sich mit wachsender Ernüchterung über die politische Nachkriegsordnung zu einem Klassizismus für den Hausgebrauch entwickelten, übertrug er Paul Valéry und schuf angesehene Vergil-Übersetzungen. Im Jahr 1951 zum Professor in Oxford ernannt, übernahm der ehemalige Kommunist 1968 sogar das Amt des Hofdichters. Ein Jahr später drehte Claude Chabrol seinen Film "Das Biest muß sterben", der auf dem Roman von Nicholas Blake alias Cecil Day Lewis beruht.
Es ist ein merkwürdiges altes Ding, dieser Roman, den der Diogenes Verlag in der Übersetzung aus den frühen fünfziger Jahren noch einmal vorlegt. Das muß auch Chabrol gemerkt haben, denn um dem Film seine trügerisch glatte, dezidiert spießerfeindliche Oberfläche zu geben, schneidet er, was ihm an der Vorlage nicht paßt, wie überstehendes Blattwerk zurück. Während Blake am Ende einen Mörder präsentiert, der so glaubhaft oder unglaubhaft ist, wie drei andere es ebenfalls wären, läßt Chabrol den Täter im dunkeln. In den späten sechziger Jahren galt das als schlau; nicht der Mörder war pervers, sondern die feine Gesellschaft, die ihn hervorbrachte. Man darf daraus aber nicht schließen, Chabrol wäre moderner als Blake; im Gegenteil. Blakes Kunst besteht darin, daß er auf der Schauseite die Anforderungen des Kriminalromans übererfüllt, um hinter der Szene die eigentlichen Tricks vorzuführen.
Zunächst das Sichtbare. Als hätte der Autor die Wörter gezählt, ergeht exakt in der Mitte des Romans die Nachricht vom Mord. In mehr als einer Beziehung zerfällt das Buch, das aus insgesamt vier großen Kapiteln besteht, in zwei Hälften: In den beiden ersten wird der Mord geplant, in den folgenden wird er untersucht, bearbeitet und aufgeklärt. Auch der Aufklärungsapparat wartet nicht mit einem, sondern mit zwei Detektiven auf. Zwei Söhne gibt es in diesem Roman, die zu leiden haben, zwei Väter, die Unrecht begehen, zwei Köpfe, die den Fall in einem Wettstreit des Kombinierens, Fährtenlegens und Fallenstellens unter sich ausmachen.
Wer möchte, kann in den letzteren, den scharfsinnigen Gegenspielern, die beiden "Theologien" des Kriminalromans erkennen: In der ersten wird Gott durch den Mörder ersetzt, der sich durch die Brillanz und schiere Unerhörtheit seiner Tat zum Schöpfer macht, in der zweiten durch den klugen Detektiv, der das aus den Fugen gebrachte Universum repariert. Schließlich ringen auch zwei Moralauffassungen um die Herrschaft, und vom Ausgang dieses Kampfes hängt der ganze kleine Kosmos ab, den Blake schildert: Die eine Moral sagt, um Unrecht zu rächen, dürfe man das Recht in die eigenen Hände nehmen; die andere sagt, daß man sie sich dabei schmutzig macht.
Das alles hat Blake sorgfältig und mit Scharfsinn konstruiert; beim Lesen sieht man nur lebendige Figuren und eine genau gezeichnete Bürgerhölle in der englischen Provinz. Daneben gibt es aber viele Details, die man "wilde" Details nennen könnte. Diese Einzelheiten haben keine erkennbare Funktion außer der, das Buch komplexer und reicher zu machen. Sie bauen nicht an dem Fall, mit dem wir es hier zu tun haben, sondern an Geschichten, die aus dem herkömmlichen Kriminalroman hinausführen, oder zumindest graben sie zu diesen anderen Geschichten aufwendige Stollen und Verbindungsgänge.
Blake schildert etwa die Atmosphäre eines Nachmittags, an dem der Detektiv und seine Frau zusammen mit Cairnes und dessen Freundin (die der Schriftsteller unschön ausgenutzt hat, um an den Familientyrannen heranzukommen) auf Liegestühlen hinter dem Hotel sitzen. Eigentlich müßte es bei ihrem Gespräch um den Kriminalfall gehen, darum zum Beispiel, wer denn nun von den vier Menschen, die ein Interesse daran haben könnten, das Gift in die Medizin geschüttet hat; aber die Zeit scheint auf einmal stillzustehen, und beim Lesen fühlt man sich an Henry James erinnert und den Eröffnungssatz von "Portrait of a Lady": Dort ist von bestimmten Umständen die Rede, unter denen es keine angenehmeren Stunden gebe als jene, die dem Nachmittagstee gewidmet sind.
Einen solchen Nachmittag of the finest and rarest quality, wie James ihn sozusagen mit zartem Schwung des Handgelenks nennt, erleben auch Blakes Figuren. Man könnte sich sogar denken, daß sie sich zu anderer Gelegenheit, in einem anderen Roman, viele interessante Dinge zu erzählen hätten. Und man meint zu spüren, wie Blake sich von den trägen Gegenständen und seinem absichtslosen Schreiben über sie losreißt, um zur Tagesordnung zurückzukehren: "Das Schweigen, das seinen Worten folgte, war endlos. Der Fluß plätscherte glucksend gegen das Ufer, ein Wasserhuhn kam mit hysterischem Schrei aus dem Schilf, das Radio im Hotel wiederholte ungerührt die Behauptung der Japaner, daß die Bombardierung offener Städte in China reine Selbstverteidigung sei, aber die vier Menschen auf dem Rasen bedrückte das Schweigen wie ein bloßliegender Nerv."
Blakes Roman enthält einige solcher Szenen, die über das funktionale Detail hinausgehen und die Figuren gewissermaßen von der Handlung beurlauben. Bei anderen Gelegenheiten zeigt sich sein moralischer Ernst in genau gearbeiteten, doch höchst sonderbaren Parallelen wie der, daß zweimal im ganzen Roman jemand auf dem Unterarm seines Gegenübers einen Leberfleck bemerkt. Das erste Mal sieht Cairnes ihn auf dem Unterarm des Mannes, den er umbringen will: Materie, die ihn moralisch bereits nichts mehr angeht. Das zweite Mal sieht ihn der Detektiv auf dem Unterarm der Mutter des Mannes, der umgebracht wurde: das einzige Menschliche an einer bösen alten Hexe.
Nun könnte man sagen, daß all die winzigen Einzelheiten bei Blake vollständig den Bauplan des großen Ganzen enthalten, und man läge nicht ganz falsch. Aber wichtiger für uns Heutige ist wohl, daß und warum man dieses Buch, das eigentlich doch nur ein Krimi sein will, fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen immer noch gern liest. Es ist erstaunlich, wie verschwenderisch die angelsächsische Literatur Leute hervorbringt, die sich im Unterhaltungsfach Mühe geben. Dort, bei den Angelsachsen, ist der Kriminalroman ein gut ausgebautes, viel benutztes, vernünftig beheiztes Landhaus, in dem echtes schriftstellerisches Können überwintern kann.
Nicholas Blake: "Mein Verbrechen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eberhard Gauhe. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 320 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Blake verblüfft den Leser ebenso unermüdlich wie unterhaltend, indem er eine Vielzahl von scharf gezeichneten Charakteren einführt."(The Times Literary Supplement) "Das Mittelstück des Kriminalromans Mein Verbrechen von Nicholas Blake ist eine literarische Kür, ein Meisterstück; es heißt Szene auf dem See, und es ist eine düstere Variante von Three men in a boat."(Südwestfunk) "Wie Nicholas Blake - ein Pseudonym für den irischen Lyriker Cecil Day-Lewis - die Entlarvung des Täters hinauszögert, den Leser ständig in die Irre führt, ihn am Schluß gehörig verblüfft und dennoch die stringente Logik des Verbrechens offenbart - das beweist nicht bloß Gefühl für Spannungsaufbau, sondern vor allem literarische Fingerfertigkeit, die diesen 1938 erstmals erschienenen Roman zu einem Schlüsselwerk der modernen Kriminalliteratur hat werden lassen."(Österreichischer Rundfunk)