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Lilly Jahn stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, wurde Ärztin, heiratete einen nicht-jüdischen Studienkollegen und gründete mit ihm eine erfolgreiche Arztpraxis in Immenhausen bei Kassel. Das Paar bekommt fünf Kinder, doch dem zunehmenden Druck der Nazis auf die »Mischehe« hält Lillys Mann nicht stand. 1942 lässt er sich scheiden und heiratet eine Kollegin.
Lilly Jahn wird in einem »Arbeitserziehungslager« inhaftiert, und es beginnt ein umfangreicher Briefwechsel, der den verzweifelten Kampf der Mutter und ihrer Kinder um den Zusammenhalt der Familie, um die Aufrechterhaltung
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Produktbeschreibung
Lilly Jahn stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, wurde Ärztin, heiratete einen nicht-jüdischen Studienkollegen und gründete mit ihm eine erfolgreiche Arztpraxis in Immenhausen bei Kassel. Das Paar bekommt fünf Kinder, doch dem zunehmenden Druck der Nazis auf die »Mischehe« hält Lillys Mann nicht stand. 1942 lässt er sich scheiden und heiratet eine Kollegin.

Lilly Jahn wird in einem »Arbeitserziehungslager« inhaftiert, und es beginnt ein umfangreicher Briefwechsel, der den verzweifelten Kampf der Mutter und ihrer Kinder um den Zusammenhalt der Familie, um die Aufrechterhaltung von »Normalität« und gegen die Hoffnungslosigkeit veranschaulicht. Doch 1944 ist das Schicksal der Familie besiegelt: Lilly Jahn wird nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Autorenporträt
Doerry, Martin
Martin Doerry, geboren 1955, ein Enkel Lilly Jahns, studierte Germanistik und Geschichte in Tübingen und Zürich. Seit 1987 ist er beim 'Spiegel', seit 1998 stellvertretender Chefredakteur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2005

Gespenst über den Seiten
Martin Doerrys Buch "Mein verwundetes Herz" in Israel

JERUSALEM, im März

Die Halle im Kongreßzentrum von Jerusalem war erstaunlich voll. Es drängten sich so viele hundert Leute, daß die Stühle, die vom "Literarischen Café" auf der Internationalen Buchmesse, wo die Veranstaltung eigentlich stattfinden sollte, herübergebracht worden waren, nicht ausreichten. Der Anlaß war eine Buchvorstellung. Auf der Bühne saßen und redeten, zunächst mit einer gewissen Scheu und Zögerlichkeit, Martin Doerry und seine Mutter Ilse.

Unter den Zuhörern fiel eine Gruppe schon aufgrund ihrer Kleidung auf: Herren in dunklen Anzügen, Frauen mit Perücken. Diese streng orthodoxen Juden waren Verwandte der Doerrys aus Jerusalem. Uns auf dem Podium gegenüber saß der bisherige israelische Justizminister, die israelische Parallele zum früheren bundesdeutschen Justizminister unter Kanzler Brandt, dem 1998 gestorbenen Gerhard Jahn. Gerhard Jahn war ein Onkel von Martin und ein Bruder von Ilse Doerry. Bei dem israelischen Exminister handelt es sich um Tommy Lapid, den letzten Holocaust-Überlebenden in der Knesset.

So schienen die Gäste aus dem fernen Deutschland bald dazuzugehören. Die Fremdheit wich. Es kam nach dem formellen Ende der Veranstaltung zu einem unendlich lang erscheinenden Austausch. Allmählich wurde uns klar, daß wir alle zu einer einzigen Familie gehören. Viele der Zuhörer begannen ihre Frage mit Erzählungen aus ihrem eigenen Leben; und so bald auch ich, obwohl ich doch eigentlich ein korrekt-unparteiischer Moderator sein sollte.

Da berichtete ich also plötzlich über die Briefe meiner eigenen Familie, die in Berlin lebte, bis sie in den Tod geschickt wurde. Meine Schwester und ich entdeckten die Korrespondenz nach dem Tod der Mutter in unserem Elternhaus. Ich kann mich bis heute nicht dazu bringen, sie zu lesen. Die daraus erwachsende Frage, wie man sich mit diesem Schweigen auseinandersetzt, mit der Abwesenheit und dem Verlust, hing über der gesamten Veranstaltung, über jedem Satz der Teilnehmer, über jeder Frage an Ilse oder Martin Doerry. Sie lastete über jedem gesagten oder auch nur gedachten Wort.

Ein Gespenst schwebt über den Seiten des Buches, neben und hinter der lebensvollen und tragischen Gestalt von Lilli Jahn: der Großvater Martins, der Vater von Ilse. Wer war dieser gedankenschwere Mann, der Protestant, der die katholische Konfession sucht, der von seinen Freunden und Lilli Amadee genannt wurde - ein Liebling der Götter, so wie Mozart? Wer war der Arzt Ernst Jahn, dieser depressive, sich immer im Licht der Frauen wärmen wollende Mann, der nie ein Nazi sein wollte, sondern ein anständiger Familienmensch, ein Mann mit Prinzipien? Trotzdem brachte er 1942 eine junge Geliebte ins Haus. Nachdem er sie geschwängert hatte, ließ er sich von seiner jüdischen Frau formell scheiden und lieferte Lilli damit bewußt der Gestapo aus. Dieser Ernst Jahn gab sich keine Mühe, seine geschiedene Frau aus dem Arbeitslager in Breitenau zu befreien oder danach aus Auschwitz, und er überließ auch die vier gemeinsamen Kinder dem Schicksal.

Niemand hat ihn offenbar je nach alldem zu befragen gewagt. Nicht seine Frau, nicht seine Kinder. Nicht während des Kriegs, nicht danach. Bis zu seinem Tod 1960 herrschte Schweigen. Bis zum Tod seines Sohnes Gerhard Jahn 1998 wurde keine Frage gestellt und keine beantwortet. Auch sein Enkel Martin Doerry hat keine Antwort darauf, weder im Buch noch im Saal.

Das Herz wird wund, wenn wir uns dem Schicksal von Lilli nähern, aber alle Fragen ohne Antwort bleiben. Ich erinnere mich an die Geschichte einer anderen Liebe; jene verzeihende Liebe von Hannah Arendt zu Martin Heidegger und ihr Buch über Rahel Varnhagen van Ense. Es kreiste um den Versuch einer Erklärung für diesen jüdisch-weiblichen Versuch, die Liebe Deutschlands zu gewinnen, um jeden Preis und doch vergebens.

Martin Doerrys Band "Mein verwundetes Herz", das in Deutschland vor zweieinhalb Jahren erschien, ist ein rares historisches Dokument. Lilli Jahn entsteigt den Seiten dieses Buches als Symbol für die vergebliche Liebe mancher jüdischen deutschen Frau, die ein Opfer brachte, das ihr deutscher Mann anzunehmen zu schwach war, das er weder verstehen noch erwidern konnte. Freilich, jene Schwäche, selbst wenn sie mit Verstand und Bildung daherkommt, ist nicht ein Schlüssel zur Erlösung.

Diejenigen, die für die Zukunft die Bedeutung des "verwundeten Herzens" entschlüsseln wollen, müßten wieder wählen, wie Ilse, Martin und ihre Familie, zwischen jenem lastenden Schweigen und dem Reden über die Unfähigkeit, damit umzugehen, über einen ausweglos erscheinenden menschlichen Zustand in einer Welt, die dunkler und dunkler wird ohne Helden und ohne Hoffnung.

DAVID WITZTHUM

Der Autor ist Fernsehmoderator im Ersten Israelischen Programm und moderierte die Buchvorstellung von "Mein verwundetes Herz" in Jerusalem.

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