Colin Powell beschreibt anschaulich und offen seine beeindruckende Karriere bis an die Schaltstellen der großen Politik, die Farbigen bislang verschlossen waren. Trotz allerbester Aussichten verzichtete der ehemalige Generalstabschef und oberste Stratege des Golfkriegs auf seine Kandidatur zur US-Präsidentschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.1996Pfeifen im Walde
Colin Powell oder Die Einsamkeit des amerikanischen Kriegers
Colin Powell: Mein Weg. Unter Mitarbeit von Joseph E. Persico. Aus dem Amerikanischen von dem Übersetzungsbüro Dr. Mihr. Piper Verlag, München 1996. 656 Seiten, 40 Seiten Abbildungen, geb., 58,- Mark.
Die mit Hilfe von Joseph E. Persico verfaßte "campaign"-Autobiographie Colin Powells, des ehemaligen Nationalen Sicherheitsberaters und Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der amerikanischen Streitkräfte - die ja auch ein der Bewerbung um die Präsidentschaft beigefügter Lebenslauf sein sollte -, enthält keine politischen Überraschungen. Neues über die entscheidenden Begebenheiten seines offiziellen Lebens wie die Invasion Panamas, den Krieg der Weltgemeinschaft gegen den Irak, die Befriedung Somalias oder das amerikanische Engagement in Haiti erfährt man aus diesem Buch nicht.
Powells "politische Philosophie", die sich nach eigenem Bekunden noch in der Entwicklung befindet, tritt etwas schmalbrüstig auf, wenn er sich als "fiskalischen Konservativen mit einem sozialen Gewissen" bezeichnet. Er wendet sich gegen jede Form von Extremismus, kritisiert die liberale Überbetonung der Rechte des einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft und den bigotten Rassismus der äußersten Rechten. Mit einem Wort: Powell bevorzugt die ruhigen Gewässer der "vernünftigen Mitte des politischen Spektrums".
Daß Powell im letzten Jahr zur politischen Figur wurde, liegt an seiner jamaikanischen Herkunft und seiner Zugehörigkeit zur schwarzen Minderheit. Dadurch wurde er, als er noch mit dem Gedanken einer Kandidatur bei den Präsidentenwahlen im kommenden November spielte, zur willkommenen Projektionsfläche vor allem für ein weißes Amerika, welches das Land unter seiner multiethnischen Anspannung zerreißen sah und einen Ausgleich herbeisehnte. Für die Schwarzen macht er sich selbst zur Leitfigur durch seinen gelungenen Lebenslauf in einer nach dem Maßstab der Gleichberechtigung noch defizitären Gesellschaft.
Die "amerikanische Reise" Powells hätte nach dem Golfkrieg beim Absturz eines Hubschraubers beinahe ein jähes Ende gefunden. Zusammen mit seiner Frau Alma war er der Einladung des jamaikanischen Ministerpräsidenten Manley gefolgt, sich nach den Strapazen der letzten kriegerischen Monate "zu Hause" im Geburtsland seiner Eltern auszuruhen. Zwar überstehen sie den Unfall unversehrt, doch empfindet Powell dabei deutlich, daß es für ihn nur eine wahre Heimat gibt: Amerika. Die Willensanstrengung und der Mut seiner Eltern, die sich auf das Abenteuer der Emigration eingelassen hatten, sind für ihn in den Wertekanon Amerikas aufgenommen: Man hat in Amerika nicht nur physisch, sondern auch geistig und moralisch eine Heimat gefunden.
Weil Powells Amerika mehr ist als ein geographisch-politisches Gebilde, ist auch die Erfolgsgeschichte des Jungen aus einfachen und anständigen Verhältnissen in der Süd-Bronx mehr als die Entwicklung eines Lebens mit greifbaren Ereignissen und geistiger Reifung. Sein Amerika ist "Versprechen" und "Traum" und solchermaßen ein geistiges und moralisches Energiezentrum, das einen Prozeß unaufhörlicher Erneuerung speist. Diese Erhöhung Amerikas fällt zurück auf die historische Person Powells, der dadurch zur Verkörperung amerikanischer Werte wird. Seine eigene Geschichte und die Geschichte Amerikas verschmelzen zu einer "Auto-amerikanischen Biographie".
Es gibt drei entscheidende Erfahrungen, die das Denken Powells geprägt haben. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Krieg in Vietnam, wie die Fragwürdigkeit der amerikanischen Mission, die Bürokratisierung der militärischen Gemeinschaft und das Ausgeliefertsein an die praktisch unerfahrenen Washingtoner Eliten. Diese Erfahrungen sind deshalb so bedeutend, weil Vietnam keine außenpolitische Einzelunternehmung Amerikas war. Sie erwuchs vielmehr aus der historischen Mission Amerikas, die dem Wilsonschen Idealismus verpflichtet war, stets für das Rechte zu kämpfen. Dieser Absolutheitsanspruch mußte mit der Erfahrung des Scheiterns zur grundsätzlichen Infragestellung der Selbstverständlichkeit universeller amerikanischer Werte und der Legitimität ihrer Verbreitung führen. Der Revision der amerikanischen geopolitischen Rolle entsprach eine von Selbstzweifeln zermürbte Gesellschaft, der es nicht gelang, einen Konsens herzustellen und in der das Militär als vormaliger Träger des amerikanischen Idealismus diskreditiert zu sein schien.
Als Powell Weihnachten 1962, 25 Jahre alt, in Vietnam ankommt, ist er begeistert, seinen Soldatenberuf nach vier Jahren Ausbildung endlich im Ernst ausüben zu können. Seine Begeisterung wird von der Rede seines Vorgesetzten über die Bedeutung des Einsatzes weiter angefeuert. An seinem unwirtlichen Einsatzort A Shau an der Grenze zu Laos angekommen, folgt aber sofort die Ernüchterung, als ihm Hauptmann Hieu von der Armee der Republik Vietnam den absurden Kern der gesamten Unternehmung verdeutlicht: Catch-22. Dieser sonnenversengte und gottverlassene Vorposten sollte den Landeplatz sichern, der wiederum die Versorgung des Vorpostens sicherstellen sollte. Die Erfahrung mit unklaren Zielen und der zögerlichen Haltung der militärischen und politischen Führung Amerikas führte dazu, daß Powell später die Klarheit des Zieles und den Willen zum Einsatz aller notwendigen Mittel zur Maxime seines Handelns machte. Selbst auf die Gefahr hin, daß man ihn einen "zaudernden Krieger" nennt, besteht er auf der Powell-Doktrin, die verlangt, daß ein klares Ziel, die Mittel und die Unterstützung durch die eigene Bevölkerung gegeben sein müssen, um kriegerische Anstrengungen zu unternehmen, die möglicherweise große Opfer verlangen.
Doch der zentrale Gegenstand von Powells Denken ist Amerika. Dabei hegt er den Wunsch, das eigene Land möge den Schrecken des verlorenen Krieges überwinden und seine Rolle als leuchtendes Beispiel eines gelungenen demokratischen Gemeinwesens wieder annehmen. Die Beispielhaftigkeit der amerikanischen Demokratie bekommt bei ihm missionarische Züge und wird dadurch mit der Tradition des puritanischen "Auftrags in der Wildnis" verknüpft.
Die Puritaner waren im siebzehnten Jahrhundert nach Neuengland gekommen, um eine gerechte und vor allem barmherzige Gemeinschaft zu errichten, die einem verderbten und von streitenden Egoismen aufgeriebenen Europa eine leuchtende "Stadt auf dem Hügel" sein sollte.
Noch das moderne Amerika seit Wilson agierte außenpolitisch mit dem Anspruch der Auserwähltheit. Bis Vietnam war es von einem moralischen Absolutismus beseelt, der keine Abstufungen zwischen Gut und Böse zuließ und in der internationalen Politik Kompromißlosigkeit diktierte. Powell hat jedoch schon zu Beginn seines Aufenthaltes in Vietnam ein Erlebnis, das diesen Rigorismus aufweicht und ihm Orientierungsschwierigkeiten beschert: "Nachts wurde es kalt in den Bergen, manchmal fiel das Thermometer auf vier Grad. Ich blies meine Luftmatratze auf, legte sie auf den Boden, breitete den Daunenschlafsack darüber und kroch fröstelnd hinein. Ich mußte mich abhärten, um den morgigen Tag zu überstehen und all die anderen Tage, bis ein Jahr um war. Ich wurde von einer schrecklichen Einsamkeit gepackt, die um so schlimmer war, als ich meine Ängste mit niemandem teilen konnte. Ich war der ranghöchste amerikanische Berater, der Mann, bei dem die anderen Halt und Orientierung suchten."
Das Motiv des einsamen Amerikaners, der in einer bedrohlichen Wildnis umherirrt, taucht bei Powell immer wieder auf. In seiner Verlassenheit besinnt er sich auf den amerikanischen Traum der Gemeinschaft, der bei der demokratischen Avantgarde, dem Militär, Wirklichkeit geworden sei. (Präsident Truman hatte die Rassentrennung innerhalb des Militärs schon 1948 aufgehoben. Der Kalte Krieg und die durch ihn bedingte starke Nachfrage nach Offizieren taten ein übriges.) Der Gedanke an die dortige Kameradschaft und an den Zusammenhalt bildet auch später den Hintergrund von Powells kommunitarisch gefärbter Kulturkritik. Der Zusammenbruch der Gemeinschaft und ihrer gewachsenen Identifikationsmuster wird zum Ursprung aller Krisenerscheinungen der amerikanischen Gegenwart. "Wir müssen beginnen, das amerikanische Volk als eine Familie zu betrachten . . . Wir müssen aufhören, uns gegenseitig anzuschreien und zu verletzen, und statt dessen anfangen, uns um den anderen zu kümmern, ihm Opfer zu bringen und mit ihm zu teilen."
Was Powell unter Gemeinschaft versteht, ist mehr als ein äußerlicher Zusammenschluß von Individuen. Die wahre Gemeinschaft ist ein irrationales Erlebnis mit mystischen Eigenschaften: "Wie ein Zug, der langsam an Fahrt gewinnt, fielen die Männer in den neuen Rhythmus. In den folgenden Stunden wurden Parkas aufgerissen, Schweiß tropfte trotz der Kälte von den Gesichtern, und das Schnaufen und Prusten Hunderter Männer klang wie ein eigentümlicher Wind . . . Und dann hörte ich, wie ganz vorn ein paar vereinzelte Stimmen im Takt der Schritte ein schlüpfriges Lied anstimmten. Immer mehr Stimmen fielen mit ein, bis die Hügel vom Gesang des Bataillons widerhallten . . . Für mich hatte dieser Moment in Korea, als 700 eben noch total erschöpfte Soldaten zu einem begeisterten Ganzen verschmolzen, etwas Magisches . . ."
Dieses archaische Gemeinschaftserlebnis läßt die offene amerikanische Gesellschaft in einem eigenartigen Licht erscheinen. Die mystische Einheit, in der alle Differenzen oder die Notwendigkeit der Verhandlung unterschiedlicher Interessen aufgehoben sind, wirkt als innenpolitisches Programm hilflos. Powells Plädoyer für das wiederzugewinnende Gefühl der Zusammengehörigkeit erscheint wie das Pfeifen im Wald, das die bösen Geister der ethnischen Fragmentierung und der moralischen Verwilderung kaum vertreiben wird. RICHARD WAGNER
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Colin Powell oder Die Einsamkeit des amerikanischen Kriegers
Colin Powell: Mein Weg. Unter Mitarbeit von Joseph E. Persico. Aus dem Amerikanischen von dem Übersetzungsbüro Dr. Mihr. Piper Verlag, München 1996. 656 Seiten, 40 Seiten Abbildungen, geb., 58,- Mark.
Die mit Hilfe von Joseph E. Persico verfaßte "campaign"-Autobiographie Colin Powells, des ehemaligen Nationalen Sicherheitsberaters und Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der amerikanischen Streitkräfte - die ja auch ein der Bewerbung um die Präsidentschaft beigefügter Lebenslauf sein sollte -, enthält keine politischen Überraschungen. Neues über die entscheidenden Begebenheiten seines offiziellen Lebens wie die Invasion Panamas, den Krieg der Weltgemeinschaft gegen den Irak, die Befriedung Somalias oder das amerikanische Engagement in Haiti erfährt man aus diesem Buch nicht.
Powells "politische Philosophie", die sich nach eigenem Bekunden noch in der Entwicklung befindet, tritt etwas schmalbrüstig auf, wenn er sich als "fiskalischen Konservativen mit einem sozialen Gewissen" bezeichnet. Er wendet sich gegen jede Form von Extremismus, kritisiert die liberale Überbetonung der Rechte des einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft und den bigotten Rassismus der äußersten Rechten. Mit einem Wort: Powell bevorzugt die ruhigen Gewässer der "vernünftigen Mitte des politischen Spektrums".
Daß Powell im letzten Jahr zur politischen Figur wurde, liegt an seiner jamaikanischen Herkunft und seiner Zugehörigkeit zur schwarzen Minderheit. Dadurch wurde er, als er noch mit dem Gedanken einer Kandidatur bei den Präsidentenwahlen im kommenden November spielte, zur willkommenen Projektionsfläche vor allem für ein weißes Amerika, welches das Land unter seiner multiethnischen Anspannung zerreißen sah und einen Ausgleich herbeisehnte. Für die Schwarzen macht er sich selbst zur Leitfigur durch seinen gelungenen Lebenslauf in einer nach dem Maßstab der Gleichberechtigung noch defizitären Gesellschaft.
Die "amerikanische Reise" Powells hätte nach dem Golfkrieg beim Absturz eines Hubschraubers beinahe ein jähes Ende gefunden. Zusammen mit seiner Frau Alma war er der Einladung des jamaikanischen Ministerpräsidenten Manley gefolgt, sich nach den Strapazen der letzten kriegerischen Monate "zu Hause" im Geburtsland seiner Eltern auszuruhen. Zwar überstehen sie den Unfall unversehrt, doch empfindet Powell dabei deutlich, daß es für ihn nur eine wahre Heimat gibt: Amerika. Die Willensanstrengung und der Mut seiner Eltern, die sich auf das Abenteuer der Emigration eingelassen hatten, sind für ihn in den Wertekanon Amerikas aufgenommen: Man hat in Amerika nicht nur physisch, sondern auch geistig und moralisch eine Heimat gefunden.
Weil Powells Amerika mehr ist als ein geographisch-politisches Gebilde, ist auch die Erfolgsgeschichte des Jungen aus einfachen und anständigen Verhältnissen in der Süd-Bronx mehr als die Entwicklung eines Lebens mit greifbaren Ereignissen und geistiger Reifung. Sein Amerika ist "Versprechen" und "Traum" und solchermaßen ein geistiges und moralisches Energiezentrum, das einen Prozeß unaufhörlicher Erneuerung speist. Diese Erhöhung Amerikas fällt zurück auf die historische Person Powells, der dadurch zur Verkörperung amerikanischer Werte wird. Seine eigene Geschichte und die Geschichte Amerikas verschmelzen zu einer "Auto-amerikanischen Biographie".
Es gibt drei entscheidende Erfahrungen, die das Denken Powells geprägt haben. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Krieg in Vietnam, wie die Fragwürdigkeit der amerikanischen Mission, die Bürokratisierung der militärischen Gemeinschaft und das Ausgeliefertsein an die praktisch unerfahrenen Washingtoner Eliten. Diese Erfahrungen sind deshalb so bedeutend, weil Vietnam keine außenpolitische Einzelunternehmung Amerikas war. Sie erwuchs vielmehr aus der historischen Mission Amerikas, die dem Wilsonschen Idealismus verpflichtet war, stets für das Rechte zu kämpfen. Dieser Absolutheitsanspruch mußte mit der Erfahrung des Scheiterns zur grundsätzlichen Infragestellung der Selbstverständlichkeit universeller amerikanischer Werte und der Legitimität ihrer Verbreitung führen. Der Revision der amerikanischen geopolitischen Rolle entsprach eine von Selbstzweifeln zermürbte Gesellschaft, der es nicht gelang, einen Konsens herzustellen und in der das Militär als vormaliger Träger des amerikanischen Idealismus diskreditiert zu sein schien.
Als Powell Weihnachten 1962, 25 Jahre alt, in Vietnam ankommt, ist er begeistert, seinen Soldatenberuf nach vier Jahren Ausbildung endlich im Ernst ausüben zu können. Seine Begeisterung wird von der Rede seines Vorgesetzten über die Bedeutung des Einsatzes weiter angefeuert. An seinem unwirtlichen Einsatzort A Shau an der Grenze zu Laos angekommen, folgt aber sofort die Ernüchterung, als ihm Hauptmann Hieu von der Armee der Republik Vietnam den absurden Kern der gesamten Unternehmung verdeutlicht: Catch-22. Dieser sonnenversengte und gottverlassene Vorposten sollte den Landeplatz sichern, der wiederum die Versorgung des Vorpostens sicherstellen sollte. Die Erfahrung mit unklaren Zielen und der zögerlichen Haltung der militärischen und politischen Führung Amerikas führte dazu, daß Powell später die Klarheit des Zieles und den Willen zum Einsatz aller notwendigen Mittel zur Maxime seines Handelns machte. Selbst auf die Gefahr hin, daß man ihn einen "zaudernden Krieger" nennt, besteht er auf der Powell-Doktrin, die verlangt, daß ein klares Ziel, die Mittel und die Unterstützung durch die eigene Bevölkerung gegeben sein müssen, um kriegerische Anstrengungen zu unternehmen, die möglicherweise große Opfer verlangen.
Doch der zentrale Gegenstand von Powells Denken ist Amerika. Dabei hegt er den Wunsch, das eigene Land möge den Schrecken des verlorenen Krieges überwinden und seine Rolle als leuchtendes Beispiel eines gelungenen demokratischen Gemeinwesens wieder annehmen. Die Beispielhaftigkeit der amerikanischen Demokratie bekommt bei ihm missionarische Züge und wird dadurch mit der Tradition des puritanischen "Auftrags in der Wildnis" verknüpft.
Die Puritaner waren im siebzehnten Jahrhundert nach Neuengland gekommen, um eine gerechte und vor allem barmherzige Gemeinschaft zu errichten, die einem verderbten und von streitenden Egoismen aufgeriebenen Europa eine leuchtende "Stadt auf dem Hügel" sein sollte.
Noch das moderne Amerika seit Wilson agierte außenpolitisch mit dem Anspruch der Auserwähltheit. Bis Vietnam war es von einem moralischen Absolutismus beseelt, der keine Abstufungen zwischen Gut und Böse zuließ und in der internationalen Politik Kompromißlosigkeit diktierte. Powell hat jedoch schon zu Beginn seines Aufenthaltes in Vietnam ein Erlebnis, das diesen Rigorismus aufweicht und ihm Orientierungsschwierigkeiten beschert: "Nachts wurde es kalt in den Bergen, manchmal fiel das Thermometer auf vier Grad. Ich blies meine Luftmatratze auf, legte sie auf den Boden, breitete den Daunenschlafsack darüber und kroch fröstelnd hinein. Ich mußte mich abhärten, um den morgigen Tag zu überstehen und all die anderen Tage, bis ein Jahr um war. Ich wurde von einer schrecklichen Einsamkeit gepackt, die um so schlimmer war, als ich meine Ängste mit niemandem teilen konnte. Ich war der ranghöchste amerikanische Berater, der Mann, bei dem die anderen Halt und Orientierung suchten."
Das Motiv des einsamen Amerikaners, der in einer bedrohlichen Wildnis umherirrt, taucht bei Powell immer wieder auf. In seiner Verlassenheit besinnt er sich auf den amerikanischen Traum der Gemeinschaft, der bei der demokratischen Avantgarde, dem Militär, Wirklichkeit geworden sei. (Präsident Truman hatte die Rassentrennung innerhalb des Militärs schon 1948 aufgehoben. Der Kalte Krieg und die durch ihn bedingte starke Nachfrage nach Offizieren taten ein übriges.) Der Gedanke an die dortige Kameradschaft und an den Zusammenhalt bildet auch später den Hintergrund von Powells kommunitarisch gefärbter Kulturkritik. Der Zusammenbruch der Gemeinschaft und ihrer gewachsenen Identifikationsmuster wird zum Ursprung aller Krisenerscheinungen der amerikanischen Gegenwart. "Wir müssen beginnen, das amerikanische Volk als eine Familie zu betrachten . . . Wir müssen aufhören, uns gegenseitig anzuschreien und zu verletzen, und statt dessen anfangen, uns um den anderen zu kümmern, ihm Opfer zu bringen und mit ihm zu teilen."
Was Powell unter Gemeinschaft versteht, ist mehr als ein äußerlicher Zusammenschluß von Individuen. Die wahre Gemeinschaft ist ein irrationales Erlebnis mit mystischen Eigenschaften: "Wie ein Zug, der langsam an Fahrt gewinnt, fielen die Männer in den neuen Rhythmus. In den folgenden Stunden wurden Parkas aufgerissen, Schweiß tropfte trotz der Kälte von den Gesichtern, und das Schnaufen und Prusten Hunderter Männer klang wie ein eigentümlicher Wind . . . Und dann hörte ich, wie ganz vorn ein paar vereinzelte Stimmen im Takt der Schritte ein schlüpfriges Lied anstimmten. Immer mehr Stimmen fielen mit ein, bis die Hügel vom Gesang des Bataillons widerhallten . . . Für mich hatte dieser Moment in Korea, als 700 eben noch total erschöpfte Soldaten zu einem begeisterten Ganzen verschmolzen, etwas Magisches . . ."
Dieses archaische Gemeinschaftserlebnis läßt die offene amerikanische Gesellschaft in einem eigenartigen Licht erscheinen. Die mystische Einheit, in der alle Differenzen oder die Notwendigkeit der Verhandlung unterschiedlicher Interessen aufgehoben sind, wirkt als innenpolitisches Programm hilflos. Powells Plädoyer für das wiederzugewinnende Gefühl der Zusammengehörigkeit erscheint wie das Pfeifen im Wald, das die bösen Geister der ethnischen Fragmentierung und der moralischen Verwilderung kaum vertreiben wird. RICHARD WAGNER
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