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Weimar - »Ilm-Athen« und »Goethestadt« mit dem Nachbarort Buchenwald. Der berühmte Dirigent, Musikwissenschaftler und Schriftsteller Peter Gülke, Nachfahre der Familie Vulpius, vergegenwärtigt sich in diesem Buch die prägenden Erfahrungen seines Lebens: die Kindheit in einer Stadt, die »der Führer« so gern besuchte; die Jugend in der stalinistischen DDR; der Musikerberuf im gelenkten Staat; 1983 dann der Entschluss, das Land zu verlassen, weil der Druck seitens der Stasi unerträglich geworden war; 1990 Rückkehr in sein »fernes, nahes, geschändetes, geliebtes Weimar«, das eine andere Stadt…mehr

Produktbeschreibung
Weimar - »Ilm-Athen« und »Goethestadt« mit dem Nachbarort Buchenwald. Der berühmte Dirigent, Musikwissenschaftler und Schriftsteller Peter Gülke, Nachfahre der Familie Vulpius, vergegenwärtigt sich in diesem Buch die prägenden Erfahrungen seines Lebens: die Kindheit in einer Stadt, die »der Führer« so gern besuchte; die Jugend in der stalinistischen DDR; der Musikerberuf im gelenkten Staat; 1983 dann der Entschluss, das Land zu verlassen, weil der Druck seitens der Stasi unerträglich geworden war; 1990 Rückkehr in sein »fernes, nahes, geschändetes, geliebtes Weimar«, das eine andere Stadt geworden ist. Immer wieder öffnen sich Aussichten auf vergangene Epochen, treten Goethe, seine Frau Christiane Vulpius, Herder, Schiller, Schopenhauer auf den Plan, aber auch Schubert, Bach, Mendelssohn - wie überhaupt Porträts von Musikern und brillante Musikbeschreibungen einen weiteren Schwerpunkt des Buches bilden. Ein wiederkehrendes Motiv sind die Besuche auf dem Ettersberg und dabei der Versuch, sich »das Unfassliche« des Menschheitsverbrechens zu erklären.

»Vielleicht muss einem die Stadt, in der so viel eigene Vergangenheit hängt, ganz verloren erscheinen, um neu erblickt, neu angenommen zu werden.«
Autorenporträt
Peter Gülke, geboren 1934 in Weimar, ist Dirigent und einer der führenden Musikwissenschaftler und Musikschriftsteller. Er war u.a. Generalmusikdirektor in Weimar und Wuppertal und Professor im Fachgebiet Dirigieren in Freiburg im Breisgau. Derzeit ist er Chefdirigent der Brandenburger Symphoniker. Gülke ist außerdem Autor zahlreicher Bücher, beispielsweise über Rousseau, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner und Dufay. Für sein Schaffen wurde Gülke u.a. 1994 mit dem Sigmund-Freud-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung, 1998 mit dem Karl-Vossler-Preis, 2004 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Bern und 2014 mit dem Siemens-Musikpreis ausgezeichnet. Außerdem ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2019

Dank und Erinnern
Individuelles im Blick: Peter Gülke über seine Heimatstadt Weimar

In Deutschland, dem geographisch, politisch, kulturell so buntscheckigen, weil eng gekammerten Land, ist Weimar ein besonderer Fall. Seine Bürger haben ein ganz eigenes, persönliches, fast intimes Verhältnis zu ihrer Stadt und deren kulturgeschichtlicher Größe, auf das man in Wittenberg etwa, das doch vergleichbar sein sollte - auch darin, dass die vergangene Größe sich nicht vorrangig in Bauten oder Kunstbesitz materialisiert hat - nicht trifft.

In seinem neuen Buch "Mein Weimar" gibt Peter Gülke, der Dirigent und Musikwissenschaftler, ein Beispiel dieser Art des Denkens und Fühlens. Schon auf der ersten Seite legt er es offen: Um "mich weimarisch, als Sohn der Stadt zu definieren, schreibe ich hier - und um Dank zu sagen". Es ist ein sehr persönliches Buch geworden, darin liegt seine Stärke. Das betrifft auch, was Gülke über die DDR zu sagen hat. Viel Sympathie bringt er Partei und Staat nicht entgegen, was nicht erstaunt, 1983 war er nach einem Auftritt in Hamburg im Westen geblieben.

Er beschreibt, wie er und die anderen Studenten 1953 in der Aula der Musikhochschule die Hand zur Exmatrikulation von acht Kommilitonen hoben; noch Tage danach habe man sich "wie unter Drogen befunden", kaum miteinander sprechen können. "Später dann, nie mehr beschwichtigt, die Frage: Wer waren wir an diesem Abend? Jedenfalls nicht wir selbst. Das haben sie gekonnt." Und rund drei Jahrzehnte später eine Erfahrung, die er als Generalmusikdirektor in Weimar machte: Vor eine Aufführung der Neunten Sinfonie Beethovens hatte er Schönbergs "Ein Überlebender von Warschau" stellen wollen, die SED aber verhinderte das: "Wir sind das bessere Deutschland, wir haben das nicht nötig."

Allerdings habe sich im Willen, dem Druck von oben standzuhalten, auch eine verschwörerische Atmosphäre entwickelt; in dieser "Verschwörer-Verbundenheit" sei vieles entstanden, hervorragende Inszenierungen wie gründliche editorische Arbeiten. Und Borniertheiten findet der Autor auch im Westen, vor allem in dessen "monolithischem Bild" der DDR-Gesellschaft. Das Monolithische ist ihm in allen Zusammenhängen zuwider, er will ein Mann des individualisierenden Blickes sein.

Dieses Interesse für den einzelnen Fall ist der schönste Zug des Buches, darin liegt eine unprogrammatische Humanität. Gülke erinnert sich an ein Mädchen aus dem Kindergarten, Anneliese Mellinger, die wohl behindert war. Als 1939/40 "sachkundige Herren" kamen, um die Kinder zu inspizieren, mussten diese sich halb ausziehen, Anneliese Mellinger aber vollständig. Was ist mit ihr geschehen? Ist sie umgebracht worden? Gülke weiß es nicht, aber er erinnert sich an die Situation, die Peinlichkeit, das Mitleid, das die Kinder empfanden, das "entsetzte Gesicht der Kindergärtnerinnen".

Tiefen Eindruck muss auf ihn die Kindergärtnerin Käte Michael gemacht haben, die eine Atmosphäre von Fröhlichkeit, kindlichem Selbstvertrauen und Behauptungswillen schuf. "Dennoch, trotz aller wuseligen Lebendigkeit, kein Summerhill! Hier musste gehorcht werden (...), ein beschwingtes wie strenges Regiment." Es klingt wie der Sinnspruch des Leipziger Gewandhauses: "Res severa verum gaudium". An solchen Stellen bekommt der Leser zu fassen, was für Gülke die Eigenart Weimars ausmacht: das "existentielle, auf Identifikation drängende Verhältnis" zur Kunst. Sein Ideal ist Hermann Abendroths Arbeit mit dem Weimarer Orchester: "In Weimar gab es eine besondere, bis aufs spieltechnische Niveau durchschlagende Nähe." Das ging und geht wohl bis heute mit Konservatismus, einer gewissen Betulichkeit einher. Und es kennzeichnet Gülke, dass ihm dieser Konservatismus so bedenklich ist wie umgekehrt das aktuell sich rasch einstellende "Odium des Schon-Dagewesenen".

Aber vielleicht hat Weimars große, auch lastende Tradition mehr als nur ästhetischen Konservatismus zur Folge gehabt. Gülke beendet sein Buch mit Gedanken zum Konzentrationslager Buchenwald, ruft dabei die Klassiker zum Thema auf, sein Blickwinkel ist ein anthropologischer. Aber was, wenn nicht am KZ Buchenwald, so doch an den frühen großen Erfolgen des Nationalsozialismus in Thüringen und Weimar ortstypisch gewesen sein könnte, das wäre auch eine Überlegung wert gewesen.

STEPHAN SPEICHER

Peter Gülke: "Mein Weimar".

Insel Verlag, Berlin 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Stephan Speicher verdankt dem Dirigenten und Musikwissenschaftler Peter Gülke einen "intimen" Blick auf Weimar. Von der "verschwörerischen Atmosphäre" und besonderen Inszenierungen in der DDR berichtet ihm Gülke, der 1983 nach einem Auftritt in Hamburg im Westen blieb, ebenso, wie er das "monolithische Bild" des Westen auf die DDR-Gesellschaft kritisiert. Es ist denn auch Gülke Blick auf Einzelfälle, das dieses Buch für Speicher einzigartig macht: Er liest hier etwa von Gülkes Kindergärtnerin, die in jenen Jahren, als die Nazis in den Kindergarten kamen, um die Kinder zu inspizieren, eine Atmosphäre von "Fröhlichkeit und Selbstvertrauen" verbreitete. Mit Interesse liest der Rezensent auch Gülkes Gedanken zum ästhetischen Konservatismus in Weimar, gern hätte er allerdings etwas über die frühen Erfolge des Nationalsozialismus in Thüringen und Weimar erfahren.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Dieses Interesse für den einzelnen Fall ist der schönste Zug des Buches, darin liegt eine unprogrammatische Humanität.« Stephan Speicher Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191203