Aharon Appelfeld, der zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels zählt, schrieb mit "Meine Eltern" eines seiner persönlichsten Bücher. Er schrieb über den letzten Sommer einer Kindheit ...
August 1938: Am Ufer des Flusses Prut in Rumänien versammeln sich die Sommerfrischler, überwiegend säkularisierte Juden. Auch der zehnjährige Erwin und seine Eltern sind hier, doch das Kind spürt, dass etwas anders ist: Hinter den Sommerfreuden, den Badeausflügen und Liebeleien geht die Welt, die alle kennen, zu Ende. Einige reisen früher ab, andere verdrängen die Nachrichten aus dem Westen. Spannungen bleiben nicht aus, auch nicht zwischen den Eltern, der Mutter, die Romane liest, an Gott glaubt und an das Gute, und dem Vater, dem Ingenieur, der alles rational und pessimistisch sieht. Als die Familie in die Stadt aufbricht, überfällt Erwin die Furcht. In der Schule wurden ihm Schläge angedroht, er wurde als Jude beschimpft - und er beginnt zu ahnen, dass an den unterschiedlichen Haltungen seiner Eltern noch viel mehr hängt: die Zukunft, das Überleben.
Ein feinfühliger Roman, der seismographisch die Brutalität des heraufziehenden Krieges verzeichnet - und zugleich das Porträt einer bürgerlichen Welt vor der Katastrophe. Eines der persönlichsten Bücher von Aharon Appelfeld, direkt, ehrlich und doch auch kindlich-schön.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
August 1938: Am Ufer des Flusses Prut in Rumänien versammeln sich die Sommerfrischler, überwiegend säkularisierte Juden. Auch der zehnjährige Erwin und seine Eltern sind hier, doch das Kind spürt, dass etwas anders ist: Hinter den Sommerfreuden, den Badeausflügen und Liebeleien geht die Welt, die alle kennen, zu Ende. Einige reisen früher ab, andere verdrängen die Nachrichten aus dem Westen. Spannungen bleiben nicht aus, auch nicht zwischen den Eltern, der Mutter, die Romane liest, an Gott glaubt und an das Gute, und dem Vater, dem Ingenieur, der alles rational und pessimistisch sieht. Als die Familie in die Stadt aufbricht, überfällt Erwin die Furcht. In der Schule wurden ihm Schläge angedroht, er wurde als Jude beschimpft - und er beginnt zu ahnen, dass an den unterschiedlichen Haltungen seiner Eltern noch viel mehr hängt: die Zukunft, das Überleben.
Ein feinfühliger Roman, der seismographisch die Brutalität des heraufziehenden Krieges verzeichnet - und zugleich das Porträt einer bürgerlichen Welt vor der Katastrophe. Eines der persönlichsten Bücher von Aharon Appelfeld, direkt, ehrlich und doch auch kindlich-schön.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2018Der Riss durch Europa
Czernowitz 1938: Der Schriftsteller Aharon Appelfeld erzählt in "Meine Eltern" vom letzten Jahr seiner Kindheit
Einen "großen Erzähler Osteuropas" nannte der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész den am 4. Januar gestorbenen Aharon Appelfeld, der in mehr als vierzig Romanen die unglaubliche Geschichte seines Lebens erzählt, das von Deportation und Krieg zerrissen wurde. Auf sehr direkte, fast private Weise handeln seine Bücher von der Schoa: Jedes folgt einer Figur, die eine Facette seiner Erinnerung verkörpert. Oft sind es überlebenskluge Mädchen wie "Tzili" oder wütende junge Frauen wie "Katerina", die ein Stück von Appelfelds Lebensweg neu gehen oder, wie ein Offizier des Jom-Kippur-Krieges, ins "Elternland" zurückkehren. Man kann diese Bücher als Teil einer großen Erzählung lesen, die nicht nur ein ganzes Jahrhundert umfasst, sondern auch die untergegangene, jüdisch-deutsche Welt der Bukowina bewahrt.
Auf einem Foto aus den späten dreißiger Jahren sieht man einen zarten Knaben neben einem Schaukelpferd. Erwin Appelfeld - den Namen Aharon gab man ihm in Israel - war damals vier oder fünf Jahre alt, ein überaus behütetes, sensibles Kind aus einer assimilierten jüdischen Familie. Nur wenige Jahre danach überlebte er einen Todesmarsch von Czernowitz, seiner Geburtsstadt, in ein Zwangsarbeitslager nach Transnistrien, gelang ihm die Flucht aus dem Lager und versteckte er sich in den ukrainischen Wäldern, "ein winziges Tier, das sich in die Erde eingräbt".
"Meine Eltern" heißt sein soeben auf Deutsch erschienenes wohl letztes Buch, das zu seinen wichtigsten und persönlichsten gehört. Aharon Appelfeld kehrt darin zu der Bauernhütte am Fluss Pruth zurück, in der er 1938 mit seinen Eltern die letzten gemeinsamen Ferien verbrachte. In diesem Jahr "bildete sich der Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde". 1941, mit dem Kriegseintritt Rumäniens, marschierten deutsche und rumänische Truppen in Czernowitz ein und ermordeten Appelfelds Mutter. Er und sein Vater wurden vor der Deportation in ein Getto zwangsumgesiedelt.
Immer wieder kehrte der Schriftsteller in seinen Büchern seither in die verlorenen Häuser der Eltern und Großeltern zurück - sie sind die Urgründe seines Schreibens geblieben, ein Reservoir, das sich ihm erst nach vielen Jahren öffnete: "Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich mit dem Erzählen gerade erst angefangen", sagte er nach bereits Dutzenden von Büchern. Der neue Roman erzählt, warum und wie Aharon Appelfeld Schriftsteller wurde, und knüpft damit an seine "Geschichte eines Lebens" an, die genau und fast kühl das Stammeln und die Albträume beschreibt, die dem Schreiben in Israel vorausgingen.
Im Sommer 1938 ist die Gesellschaft wohlhabender Juden am Ufer des Flusses unruhig, die Bauern benehmen sich feindselig, es kommt zu einem Angriff - alle sind sich aber einig, dass es nur "ein winziges Pogrom" war, sie hätten schon Schlimmeres erlebt. Appelfeld macht sein Alter Ego Erwin um vier Jahre älter, als er selbst es damals war: Den zehnjährigen Jungen verwirrt und fasziniert die Schamlosigkeit und Völlerei der sonst so zurückhaltenden Bürger, die sein Vater "unästhetisch" und hysterisch findet. Auch ein Schriftsteller ist unter den Gästen, er schreibt über die Juden, weil "ihre Verrücktheiten auch die meinen sind". Seine Art des Beobachtens beeindruckt Erwin, es ist "kein geordnetes Betrachten, sondern die reine Freude an dem, was sich dem Auge bietet".
Der Schriftsteller, zweites Alter Ego des Autors neben dem Erzähler Erwin, verabscheut alle Sentimentalität, aber betrachtet die aufgeregten, ängstlichen und exaltierten Sommergäste mit Sympathie. Die verlassene Geliebte P., der verbitterte einbeinige Mann, die aus der Hand lesende Rosa, die den Menschen genug, aber nicht zu viel von der Wahrheit verraten will - sie sind Phänotypen einer Grenzsituation und gleichzeitig eindringliche, oft amüsante Charaktere. Der sich erinnernde Erwin sieht sie als Passagiere seiner Arche Noah, die sich am Ufer körperlich und seelisch nackt zeigen.
Ihnen stehen die ruhig in ihr Tun versunkenen Bewohner des Gebirges gegenüber, vor allem die strenggläubigen Großeltern, die auf ihrem Bauernhof eine eigene Synagoge haben. Der Großvater erklärt dem Enkel die Heilige Schrift, hastig, weil die Eltern nicht lang bleiben wollen. Diese Bilder, heißt es, seien tief in ihn eingesunken, "und jedes Mal, wenn ich einen Mangel an Worten empfinde, taucht ein Stück der Uferlandschaft vor mir auf".
Aharon Appelfeld schrieb auf Hebräisch, denn als er nach Israel kam, wurde ihm die deutsche Muttersprache verboten, und man verlangte von dem Vierzehnjährigen, sein bisheriges Leben zu vergessen. Lange glaubte er das Verdrängte verloren, weil er sich nicht an Menschen und Orte erinnerte, sondern "nur an Dunkel, Geräusche und Bewegungen". Erst durch seine literarischen Lehrer Martin Buber, Gershom Scholem und vor allem Samuel Joseph Agnon wurde ihm bewusst, dass er damit das Rohmaterial, die Essenz der Literatur hatte.
"Jeden Tag", sagte er 2007, schon als berühmter Schriftsteller, "lese ich ein Stück aus der Bibel auf Hebräisch, um besser in die Sprache zu finden. Aber oft drängen sich deutsche Wörter in mein Schreiben - deshalb lese ich auch Kafka nur im Original -, und manchmal träume ich auf Deutsch." Sein strenger, parataktischer Stil hängt mit diesem Sprachwechsel zusammen - und entspricht seinem existentiellen Erzählen vollkommen.
Fluss und Gebirge haben mythologische Qualität in dieser Geschichte, und jeder Gegenstand strahlt eine elementare Kraft aus - wie die hohen Teegläser in Silberhaltern, deren Wiederschein im Salon des elterlichen Hauses das Gesicht seiner Mutter leuchten lässt. Vor allem ihr, deren Sprachmelodie er besonders liebte, setzt Applefeld hier ein anrührendes Denkmal.
NICOLE HENNEBERG
Aharon Appelfeld: "Meine Eltern". Roman.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017. 271 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Czernowitz 1938: Der Schriftsteller Aharon Appelfeld erzählt in "Meine Eltern" vom letzten Jahr seiner Kindheit
Einen "großen Erzähler Osteuropas" nannte der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész den am 4. Januar gestorbenen Aharon Appelfeld, der in mehr als vierzig Romanen die unglaubliche Geschichte seines Lebens erzählt, das von Deportation und Krieg zerrissen wurde. Auf sehr direkte, fast private Weise handeln seine Bücher von der Schoa: Jedes folgt einer Figur, die eine Facette seiner Erinnerung verkörpert. Oft sind es überlebenskluge Mädchen wie "Tzili" oder wütende junge Frauen wie "Katerina", die ein Stück von Appelfelds Lebensweg neu gehen oder, wie ein Offizier des Jom-Kippur-Krieges, ins "Elternland" zurückkehren. Man kann diese Bücher als Teil einer großen Erzählung lesen, die nicht nur ein ganzes Jahrhundert umfasst, sondern auch die untergegangene, jüdisch-deutsche Welt der Bukowina bewahrt.
Auf einem Foto aus den späten dreißiger Jahren sieht man einen zarten Knaben neben einem Schaukelpferd. Erwin Appelfeld - den Namen Aharon gab man ihm in Israel - war damals vier oder fünf Jahre alt, ein überaus behütetes, sensibles Kind aus einer assimilierten jüdischen Familie. Nur wenige Jahre danach überlebte er einen Todesmarsch von Czernowitz, seiner Geburtsstadt, in ein Zwangsarbeitslager nach Transnistrien, gelang ihm die Flucht aus dem Lager und versteckte er sich in den ukrainischen Wäldern, "ein winziges Tier, das sich in die Erde eingräbt".
"Meine Eltern" heißt sein soeben auf Deutsch erschienenes wohl letztes Buch, das zu seinen wichtigsten und persönlichsten gehört. Aharon Appelfeld kehrt darin zu der Bauernhütte am Fluss Pruth zurück, in der er 1938 mit seinen Eltern die letzten gemeinsamen Ferien verbrachte. In diesem Jahr "bildete sich der Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde". 1941, mit dem Kriegseintritt Rumäniens, marschierten deutsche und rumänische Truppen in Czernowitz ein und ermordeten Appelfelds Mutter. Er und sein Vater wurden vor der Deportation in ein Getto zwangsumgesiedelt.
Immer wieder kehrte der Schriftsteller in seinen Büchern seither in die verlorenen Häuser der Eltern und Großeltern zurück - sie sind die Urgründe seines Schreibens geblieben, ein Reservoir, das sich ihm erst nach vielen Jahren öffnete: "Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich mit dem Erzählen gerade erst angefangen", sagte er nach bereits Dutzenden von Büchern. Der neue Roman erzählt, warum und wie Aharon Appelfeld Schriftsteller wurde, und knüpft damit an seine "Geschichte eines Lebens" an, die genau und fast kühl das Stammeln und die Albträume beschreibt, die dem Schreiben in Israel vorausgingen.
Im Sommer 1938 ist die Gesellschaft wohlhabender Juden am Ufer des Flusses unruhig, die Bauern benehmen sich feindselig, es kommt zu einem Angriff - alle sind sich aber einig, dass es nur "ein winziges Pogrom" war, sie hätten schon Schlimmeres erlebt. Appelfeld macht sein Alter Ego Erwin um vier Jahre älter, als er selbst es damals war: Den zehnjährigen Jungen verwirrt und fasziniert die Schamlosigkeit und Völlerei der sonst so zurückhaltenden Bürger, die sein Vater "unästhetisch" und hysterisch findet. Auch ein Schriftsteller ist unter den Gästen, er schreibt über die Juden, weil "ihre Verrücktheiten auch die meinen sind". Seine Art des Beobachtens beeindruckt Erwin, es ist "kein geordnetes Betrachten, sondern die reine Freude an dem, was sich dem Auge bietet".
Der Schriftsteller, zweites Alter Ego des Autors neben dem Erzähler Erwin, verabscheut alle Sentimentalität, aber betrachtet die aufgeregten, ängstlichen und exaltierten Sommergäste mit Sympathie. Die verlassene Geliebte P., der verbitterte einbeinige Mann, die aus der Hand lesende Rosa, die den Menschen genug, aber nicht zu viel von der Wahrheit verraten will - sie sind Phänotypen einer Grenzsituation und gleichzeitig eindringliche, oft amüsante Charaktere. Der sich erinnernde Erwin sieht sie als Passagiere seiner Arche Noah, die sich am Ufer körperlich und seelisch nackt zeigen.
Ihnen stehen die ruhig in ihr Tun versunkenen Bewohner des Gebirges gegenüber, vor allem die strenggläubigen Großeltern, die auf ihrem Bauernhof eine eigene Synagoge haben. Der Großvater erklärt dem Enkel die Heilige Schrift, hastig, weil die Eltern nicht lang bleiben wollen. Diese Bilder, heißt es, seien tief in ihn eingesunken, "und jedes Mal, wenn ich einen Mangel an Worten empfinde, taucht ein Stück der Uferlandschaft vor mir auf".
Aharon Appelfeld schrieb auf Hebräisch, denn als er nach Israel kam, wurde ihm die deutsche Muttersprache verboten, und man verlangte von dem Vierzehnjährigen, sein bisheriges Leben zu vergessen. Lange glaubte er das Verdrängte verloren, weil er sich nicht an Menschen und Orte erinnerte, sondern "nur an Dunkel, Geräusche und Bewegungen". Erst durch seine literarischen Lehrer Martin Buber, Gershom Scholem und vor allem Samuel Joseph Agnon wurde ihm bewusst, dass er damit das Rohmaterial, die Essenz der Literatur hatte.
"Jeden Tag", sagte er 2007, schon als berühmter Schriftsteller, "lese ich ein Stück aus der Bibel auf Hebräisch, um besser in die Sprache zu finden. Aber oft drängen sich deutsche Wörter in mein Schreiben - deshalb lese ich auch Kafka nur im Original -, und manchmal träume ich auf Deutsch." Sein strenger, parataktischer Stil hängt mit diesem Sprachwechsel zusammen - und entspricht seinem existentiellen Erzählen vollkommen.
Fluss und Gebirge haben mythologische Qualität in dieser Geschichte, und jeder Gegenstand strahlt eine elementare Kraft aus - wie die hohen Teegläser in Silberhaltern, deren Wiederschein im Salon des elterlichen Hauses das Gesicht seiner Mutter leuchten lässt. Vor allem ihr, deren Sprachmelodie er besonders liebte, setzt Applefeld hier ein anrührendes Denkmal.
NICOLE HENNEBERG
Aharon Appelfeld: "Meine Eltern". Roman.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017. 271 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thorsten Schmitz schätzt den jüngsten Roman von Aharon Appelfeld. Wie der 80-Jährige im Rückblick die Pogrome in seiner Heimat der Bukowina beschreibt, aus der Perspektive des 10-Jährigen, hat ihn schwer beeindruckt. Zart in den Andeutungen, staunend im Blick auf die Eltern und mit laut Rezensent luzider Klarheit und berührender Liebe fasst der Autor den letzten Sommer vor dem Krieg. Ein Zauber geht von der schlichten und zugleich reichen Sprache aus, dem sich Schmitz nicht entziehen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein traurigschöner Roman über das Erinnern. Stern
Adjektive erweisen sich oft als Schabracken
Aharon Appelfeld erzählt von einer Sommerfrische in Rumänien, von seinen Eltern und vom wachsenden Hass, von den Vorboten des kommenden Krieges
Jedes Jahr fährt die Familie von Aharon Appelfeld im unerbittlich heißen rumänischen Sommer an die Ufer des Pruth. Sich abkühlen, schwimmen, sonnen, nichts tun und vor allem mit den anderen jüdischen Feriengästen diskutieren, lachen, Klatsch austauschen. Appelfelds Mutter geht keinem Gespräch aus dem Weg, sein Vater meidet die Menschen. Während die Mutter mit den anderen Schabbat feiert in der Synagoge, wandert sein Vater in die Berge. Wälder, Gipfel, Quellen seien sein Glaube, erklärt er dem Sohn. In der Natur empfinde er „die Schönheit und die Größe der Schöpfung“. Der Vater, ein Fabrikbesitzer, misstraut den Menschen – zu Recht, wie dieser letzte unbeschwerte Sommer beweist.
Den August verbringen die Appelfelds in einer schlichten Bauernhütte am Fluss. Jeden Morgen bringt ihr Vermieter Eier, Bauernbrot, Milch und Käse. Der Pruth, ein fast tausend Kilometer langer Nebenfluss der Donau, ist die Hauptfigur in Appelfelds jüngstem Roman, dem er den schlichten Titel „Meine Eltern“ gegeben hat. Am Ufer des Flusses verbringt die Familie einen letzten behaglichen Sommer am Vorabend des Krieges, viele Anzeichen mit aller Kraft ignorierend.
Doch der tief im rumänischen Alltag verwurzelte Hass auf Juden macht auch vor der Sommerenklave nicht halt. Der Vermieter des Ferienhauses verachtet insgeheim die Juden, Bauern verprügeln die jüdischen Badegäste, doch alle verdrängen den Hasse, wollen ihn nicht an sich heranlassen, verniedlichen ihn sogar. So machen sie alle es, Appelfelds Eltern, der Schriftsteller Karl König, der über „die Juden“ schreibt, wie er eines Tages erzählt, die Wahrsagerin Rosa Klein und die kapriziöse P., die früher mal mit einem Christen verheiratet war. Als einige der jüdischen Urlauber von ukrainischen Bauern verprügelt werden und sie ihre Wunden verarzten, sprechen sie von einem „winzigen Pogrom“. In der Fabrik von Appelfelds Vater kommt es zu antisemitischen Pöbeleien, Aharon selbst wird in der Schule „Drecksjude“ gerufen und verprügelt. Am Pruth-Fluss schärft der Vater dem Sohn ein, er müsse sich wehren, Sport treiben, viel schwimmen, um den Judenhassern die Stirn zu bieten. Als die Familie abreist und der judenhassende Kutscher sich weigert, die Familie zurück in die Stadt zu bringen, begehrt der Vater indes mit Worten auf, nicht mit Gewalt.
Es ist ein Roman, den nur jemand schreiben kann, der den Holocaust überlebt hat. Appelfeld hat seine Mutter im Holocaust verloren, sie ist von Nazis erschossen worden. Gesehen hat er die Tötung nicht,aber „ich habe ihren einen und einzigen Schrei gehört“, schrieb er einmal. Appelfelds Roman über die jüdische Gesellschaft der Bukowina und ihre letzte Sommerfrische ist ein Meisterwerk der zarten Andeutungen. Wie in vielen seiner Romane schreibt Appelfeld auch in diesem aus der Perspektive des zehnjährigen Erwin; so hieß er damals noch, bevor er nach Israel auswanderte und sein Name hebräisiert wurde.
Mit den staunenden Augen eines Zehnjährigen beobachtet Appelfeld seine Eltern und beschreibt, was er sieht und hört, mit luzider Klarheit: Seinen Vater, der dem Glauben seiner Eltern abgeschworen hat und am liebsten auswandern würde. Seine Mutter, die stets an das Gute im Menschen glauben möchte. Einmal erklärt sie Erwin, der gerade gefragt hat, was die Juden denn so Schlimmes getan hätten, dass sie verfolgt werden: „Es gibt böse Leute, die einen Unterschied zwischen dem einen Menschen und dem anderen machen, zwischen einem Volk und dem anderen, die dieses Volk für böse halten. Wir müssen laut sagen: Es gibt keinen Unterschied zwischen den Menschen.“
In allen Beschreibungen seiner Eltern, selbst in den fiktiven Teilen des Romans, schimmert eine berührende Liebe durch. Die Liebe kommt mit wenig Attributen aus. Appelfelds Sprache wohnt ein Zauber inne, dem man sich nicht entziehen kann. Sie erscheint schlicht, ist in Wahrheit aber sehr reich, sie lässt Raum für Assoziationen. Sie möchte, dass die Leser ihre Fantasie bemühen.
Gleich zu Beginn reflektiert Appelfeld über das Schreiben: „Adjektive, von denen wir uns helfen lassen wollen, erweisen sich oft als Schabracken. Worte wie schön oder wunderbar sind schnell Dekoration und werden fadenscheinig.“
Appelfelds Eltern ahnen, dass den Juden Unheil größten Ausmaßes bevorsteht, aber sie hüten sich davor, ihren Sohn zu beunruhigen. Manchmal streuen sie kleine Andeutungen. Wie an jenem Tag, an dem die Familie am Flussufer sitzt, die Eltern trinken Kaffee, der Junge isst eine Birne. Seine Mutter fordert ihn auf, ein Brot zu essen mit dem Hinweis: „Ich werde nicht jeden Tag ein solches Brot für dich haben.“ Es sind Andeutungen, die der Zehnjährige nicht dechiffrieren konnte. Sie werden verständlich im Rückblick des 80-jährigen Überlebenden.
THORSTEN SCHMITZ
Aharon Appelfeld: Meine Eltern. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2017. 272 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Er solle Sport treiben, sagt der
Vater, viel schwimmen, um den
Judenhassern die Stirn zu bieten
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Aharon Appelfeld erzählt von einer Sommerfrische in Rumänien, von seinen Eltern und vom wachsenden Hass, von den Vorboten des kommenden Krieges
Jedes Jahr fährt die Familie von Aharon Appelfeld im unerbittlich heißen rumänischen Sommer an die Ufer des Pruth. Sich abkühlen, schwimmen, sonnen, nichts tun und vor allem mit den anderen jüdischen Feriengästen diskutieren, lachen, Klatsch austauschen. Appelfelds Mutter geht keinem Gespräch aus dem Weg, sein Vater meidet die Menschen. Während die Mutter mit den anderen Schabbat feiert in der Synagoge, wandert sein Vater in die Berge. Wälder, Gipfel, Quellen seien sein Glaube, erklärt er dem Sohn. In der Natur empfinde er „die Schönheit und die Größe der Schöpfung“. Der Vater, ein Fabrikbesitzer, misstraut den Menschen – zu Recht, wie dieser letzte unbeschwerte Sommer beweist.
Den August verbringen die Appelfelds in einer schlichten Bauernhütte am Fluss. Jeden Morgen bringt ihr Vermieter Eier, Bauernbrot, Milch und Käse. Der Pruth, ein fast tausend Kilometer langer Nebenfluss der Donau, ist die Hauptfigur in Appelfelds jüngstem Roman, dem er den schlichten Titel „Meine Eltern“ gegeben hat. Am Ufer des Flusses verbringt die Familie einen letzten behaglichen Sommer am Vorabend des Krieges, viele Anzeichen mit aller Kraft ignorierend.
Doch der tief im rumänischen Alltag verwurzelte Hass auf Juden macht auch vor der Sommerenklave nicht halt. Der Vermieter des Ferienhauses verachtet insgeheim die Juden, Bauern verprügeln die jüdischen Badegäste, doch alle verdrängen den Hasse, wollen ihn nicht an sich heranlassen, verniedlichen ihn sogar. So machen sie alle es, Appelfelds Eltern, der Schriftsteller Karl König, der über „die Juden“ schreibt, wie er eines Tages erzählt, die Wahrsagerin Rosa Klein und die kapriziöse P., die früher mal mit einem Christen verheiratet war. Als einige der jüdischen Urlauber von ukrainischen Bauern verprügelt werden und sie ihre Wunden verarzten, sprechen sie von einem „winzigen Pogrom“. In der Fabrik von Appelfelds Vater kommt es zu antisemitischen Pöbeleien, Aharon selbst wird in der Schule „Drecksjude“ gerufen und verprügelt. Am Pruth-Fluss schärft der Vater dem Sohn ein, er müsse sich wehren, Sport treiben, viel schwimmen, um den Judenhassern die Stirn zu bieten. Als die Familie abreist und der judenhassende Kutscher sich weigert, die Familie zurück in die Stadt zu bringen, begehrt der Vater indes mit Worten auf, nicht mit Gewalt.
Es ist ein Roman, den nur jemand schreiben kann, der den Holocaust überlebt hat. Appelfeld hat seine Mutter im Holocaust verloren, sie ist von Nazis erschossen worden. Gesehen hat er die Tötung nicht,aber „ich habe ihren einen und einzigen Schrei gehört“, schrieb er einmal. Appelfelds Roman über die jüdische Gesellschaft der Bukowina und ihre letzte Sommerfrische ist ein Meisterwerk der zarten Andeutungen. Wie in vielen seiner Romane schreibt Appelfeld auch in diesem aus der Perspektive des zehnjährigen Erwin; so hieß er damals noch, bevor er nach Israel auswanderte und sein Name hebräisiert wurde.
Mit den staunenden Augen eines Zehnjährigen beobachtet Appelfeld seine Eltern und beschreibt, was er sieht und hört, mit luzider Klarheit: Seinen Vater, der dem Glauben seiner Eltern abgeschworen hat und am liebsten auswandern würde. Seine Mutter, die stets an das Gute im Menschen glauben möchte. Einmal erklärt sie Erwin, der gerade gefragt hat, was die Juden denn so Schlimmes getan hätten, dass sie verfolgt werden: „Es gibt böse Leute, die einen Unterschied zwischen dem einen Menschen und dem anderen machen, zwischen einem Volk und dem anderen, die dieses Volk für böse halten. Wir müssen laut sagen: Es gibt keinen Unterschied zwischen den Menschen.“
In allen Beschreibungen seiner Eltern, selbst in den fiktiven Teilen des Romans, schimmert eine berührende Liebe durch. Die Liebe kommt mit wenig Attributen aus. Appelfelds Sprache wohnt ein Zauber inne, dem man sich nicht entziehen kann. Sie erscheint schlicht, ist in Wahrheit aber sehr reich, sie lässt Raum für Assoziationen. Sie möchte, dass die Leser ihre Fantasie bemühen.
Gleich zu Beginn reflektiert Appelfeld über das Schreiben: „Adjektive, von denen wir uns helfen lassen wollen, erweisen sich oft als Schabracken. Worte wie schön oder wunderbar sind schnell Dekoration und werden fadenscheinig.“
Appelfelds Eltern ahnen, dass den Juden Unheil größten Ausmaßes bevorsteht, aber sie hüten sich davor, ihren Sohn zu beunruhigen. Manchmal streuen sie kleine Andeutungen. Wie an jenem Tag, an dem die Familie am Flussufer sitzt, die Eltern trinken Kaffee, der Junge isst eine Birne. Seine Mutter fordert ihn auf, ein Brot zu essen mit dem Hinweis: „Ich werde nicht jeden Tag ein solches Brot für dich haben.“ Es sind Andeutungen, die der Zehnjährige nicht dechiffrieren konnte. Sie werden verständlich im Rückblick des 80-jährigen Überlebenden.
THORSTEN SCHMITZ
Aharon Appelfeld: Meine Eltern. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2017. 272 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Er solle Sport treiben, sagt der
Vater, viel schwimmen, um den
Judenhassern die Stirn zu bieten
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