Als Mama eines Tages nicht mehr aufwachen will, beschließt Luca, lieber niemandem etwas davon zu sagen ...
Wunderbar geschrieben, herzzerreißend, tragikomisch ist diese Geschichte eines kleinen Jungen, der versucht, ganz allein zurechtzukommen. Luca ist kaum zehn Jahre alt, aber was von Waisenhäusern zu halten ist, weiß er genau - die kennt er aus dem Fernsehen, und da will er auf keinen Fall hin. Deshalb beschließt er, niemandem zu sagen, dass im Schlafzimmer seine Mutter tot im Bett liegt. Er wird schon zurechtkommen. Schließlich ist er es gewohnt, sich um das meiste selbst zu kümmern, denn Mama war gelegentlich ein bisschen komisch, und einen Vater hat er nicht. So gut es geht versucht er, regelmäßig zu essen und einigermaßen sauber und ordentlich in der Schule zu erscheinen. Eine Zeit lang läuft alles glatt, aber dann gibt es doch ein Problem ...
»Man liest >Meine erste Lüge< in einem Rutsch, mit angehaltenem Atem und immer wieder überläuft es einen kalt, wie den kleinen Helden dieses Romans, der versucht, der leeren Wohnung mit weit geöffneten Fenstern Leben einzuhauchen.« La Repubblica
Wunderbar geschrieben, herzzerreißend, tragikomisch ist diese Geschichte eines kleinen Jungen, der versucht, ganz allein zurechtzukommen. Luca ist kaum zehn Jahre alt, aber was von Waisenhäusern zu halten ist, weiß er genau - die kennt er aus dem Fernsehen, und da will er auf keinen Fall hin. Deshalb beschließt er, niemandem zu sagen, dass im Schlafzimmer seine Mutter tot im Bett liegt. Er wird schon zurechtkommen. Schließlich ist er es gewohnt, sich um das meiste selbst zu kümmern, denn Mama war gelegentlich ein bisschen komisch, und einen Vater hat er nicht. So gut es geht versucht er, regelmäßig zu essen und einigermaßen sauber und ordentlich in der Schule zu erscheinen. Eine Zeit lang läuft alles glatt, aber dann gibt es doch ein Problem ...
»Man liest >Meine erste Lüge< in einem Rutsch, mit angehaltenem Atem und immer wieder überläuft es einen kalt, wie den kleinen Helden dieses Romans, der versucht, der leeren Wohnung mit weit geöffneten Fenstern Leben einzuhauchen.« La Repubblica
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2013Nie trauriger als Mama
Ein Junge, ein Kater und der Tod: Marina Manders Debüt
Eine Junge, etwa zehn Jahre alt, wäscht sich und zieht sich an. Untenrum solle er sich immer gut waschen, hört er seine Mutter sagen, sonst wüchsen dort Moose und Flechten wie in der Taiga. Das ist ein starker Satz, ein angstmachender Satz, eine maßlose Übertreibung. Aber der Junge hört ihn nur in seinem Kopf. Denn in Wirklichkeit liegt die Mutter tot im Schlafzimmer. Und so klingt dieser Satz, diese Zuwendung fast tröstlich.
Marina Mander, die in Triest geboren wurde und in Mailand lebt, wo sie als Kommunikations-Coach arbeitet, hat nach Erzählungen und Theaterstücken für ihren Debütroman "Meine erste Lüge" einen Hohlraum entworfen. Jeder Satz, jeder Gedanke des Jungen Luca hallt wie ein Echo wider. Es gibt kein Gegenüber mehr, seit Luca aus der Schule heimgekommen ist und die Mutter tot vorfand. Aber die Sätze, die Wärme, das Schweigen, alles, was von der Mutter kam, ist noch im Raum. Es ist viel Unausgesprochenes dabei, denn die Mutter war depressiv, ein Wort, das nie fällt, weil Luca es nicht kennt. Er drückt es so aus: "Ich beneide meine Schulkameraden, die einfach losheulen können, wenn ihnen danach ist. Bei mir geht das nicht, denn Mama ist so traurig, dass ich nicht trauriger als sie sein kann. Sonst ertrinken wir noch."
Marina Mander hat für diese schwierige Erzählperspektive aus der Sicht eines Kindes einen einfachen Ton gefunden. Er gleitet nicht ins übertrieben Kleinmachende ab, er ist höchstens an einigen Stellen zu reflektiert, zu erwachsen. Aber wer kann schon mit Sicherheit sagen, was Kinder wissen? Es liegt jedenfalls nichts Falsches in diesem zunehmend verzweifelten Selbstgespräch, das noch vor dem Tod der Mutter beginnt und danach einfach weitergeht, als dürfte sich nicht noch mehr ändern: Aus Angst vor dem Waisenhaus - einen Vater kennt er nur vom Foto - beschließt Luca zu schweigen. Er geht zur Schule und wieder zurück in die andere, kühle Welt. Zu Hause, im siebten Stock, in der Wohnung, ist es still. Der ersten Lüge folgt die "Ära der fortgeschrittenen Lüge", damit die Nachbarn nichts merken. Eine Weile funktioniert das. Manchmal stellt Luca sich vor, die Geschichte passiere jemand anderem, das hilft, ebenso wie sein Kater Blu. Einmal legt er sich zu seiner Mutter und malt sie mit Lippenstift an. Dann kommt die Angst.
Es entsteht eine bizarre, unwirkliche Stimmung, die einen fast vergessen lässt, was hier geschieht. Und wenn es am Ende doch an der Tür klingelt, weil Leichen riechen, ist das wie eine Befreiung. Literarisch bleibt aber bei dieser durchkomponierten Todesfuge doch auch etwas Unbefriedigendes. Es ist nicht so sehr der Tristheit des Stoffes geschuldet, der in Marina Manders transparenten Bildern eine gewisse Leichtigkeit erhält -, eher liegt es am erdenschweren Präsens, das am Anfang zwar gut passt und verlangsamt, gegen Ende jedoch dem Wechsel zwischen den beiden Wirklichkeiten des Jungen immer weniger angemessen scheint. Der Text verliert an Energie, Intensität und Überzeugungskraft.
ANJA HIRSCH
Marina Mander: "Meine erste Lüge". Roman.
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Piper Verlag, München 2013. 189 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Junge, ein Kater und der Tod: Marina Manders Debüt
Eine Junge, etwa zehn Jahre alt, wäscht sich und zieht sich an. Untenrum solle er sich immer gut waschen, hört er seine Mutter sagen, sonst wüchsen dort Moose und Flechten wie in der Taiga. Das ist ein starker Satz, ein angstmachender Satz, eine maßlose Übertreibung. Aber der Junge hört ihn nur in seinem Kopf. Denn in Wirklichkeit liegt die Mutter tot im Schlafzimmer. Und so klingt dieser Satz, diese Zuwendung fast tröstlich.
Marina Mander, die in Triest geboren wurde und in Mailand lebt, wo sie als Kommunikations-Coach arbeitet, hat nach Erzählungen und Theaterstücken für ihren Debütroman "Meine erste Lüge" einen Hohlraum entworfen. Jeder Satz, jeder Gedanke des Jungen Luca hallt wie ein Echo wider. Es gibt kein Gegenüber mehr, seit Luca aus der Schule heimgekommen ist und die Mutter tot vorfand. Aber die Sätze, die Wärme, das Schweigen, alles, was von der Mutter kam, ist noch im Raum. Es ist viel Unausgesprochenes dabei, denn die Mutter war depressiv, ein Wort, das nie fällt, weil Luca es nicht kennt. Er drückt es so aus: "Ich beneide meine Schulkameraden, die einfach losheulen können, wenn ihnen danach ist. Bei mir geht das nicht, denn Mama ist so traurig, dass ich nicht trauriger als sie sein kann. Sonst ertrinken wir noch."
Marina Mander hat für diese schwierige Erzählperspektive aus der Sicht eines Kindes einen einfachen Ton gefunden. Er gleitet nicht ins übertrieben Kleinmachende ab, er ist höchstens an einigen Stellen zu reflektiert, zu erwachsen. Aber wer kann schon mit Sicherheit sagen, was Kinder wissen? Es liegt jedenfalls nichts Falsches in diesem zunehmend verzweifelten Selbstgespräch, das noch vor dem Tod der Mutter beginnt und danach einfach weitergeht, als dürfte sich nicht noch mehr ändern: Aus Angst vor dem Waisenhaus - einen Vater kennt er nur vom Foto - beschließt Luca zu schweigen. Er geht zur Schule und wieder zurück in die andere, kühle Welt. Zu Hause, im siebten Stock, in der Wohnung, ist es still. Der ersten Lüge folgt die "Ära der fortgeschrittenen Lüge", damit die Nachbarn nichts merken. Eine Weile funktioniert das. Manchmal stellt Luca sich vor, die Geschichte passiere jemand anderem, das hilft, ebenso wie sein Kater Blu. Einmal legt er sich zu seiner Mutter und malt sie mit Lippenstift an. Dann kommt die Angst.
Es entsteht eine bizarre, unwirkliche Stimmung, die einen fast vergessen lässt, was hier geschieht. Und wenn es am Ende doch an der Tür klingelt, weil Leichen riechen, ist das wie eine Befreiung. Literarisch bleibt aber bei dieser durchkomponierten Todesfuge doch auch etwas Unbefriedigendes. Es ist nicht so sehr der Tristheit des Stoffes geschuldet, der in Marina Manders transparenten Bildern eine gewisse Leichtigkeit erhält -, eher liegt es am erdenschweren Präsens, das am Anfang zwar gut passt und verlangsamt, gegen Ende jedoch dem Wechsel zwischen den beiden Wirklichkeiten des Jungen immer weniger angemessen scheint. Der Text verliert an Energie, Intensität und Überzeugungskraft.
ANJA HIRSCH
Marina Mander: "Meine erste Lüge". Roman.
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Piper Verlag, München 2013. 189 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Allein das durchgehaltene Präsens nimmt dem Debütroman von Marina Mander laut Rezensentin Anja Hirsch am Ende etwas von seiner Energie und seiner Intensität. Das verzweifelte, in ruhigem Ton wiedergegebene Selbstgespräch eines Jungen, der seine Mutter tot auffindet und ihren Tod zu verheimlichen versucht, hält Hirsch allerdings auch für ein gewagtes Sujet in schwieriger Perspektive. Der bizarren Stimmung genügt die Form des Textes am Ende nicht, findet Hirsch.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein interessantes Debüt, das einfühlsam vom inneren Dilemma eines Kindes in einer Extremsituation erzählt.", Kieler Nachrichten, 28.08.2013