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Erstmals auf deutsch erscheint nun Dawn Powells autobiographischer Roman über ihre Kindheit im ländlichen Ohio der Jahrhundertwende. Im Mittelpunkt stehen die drei kleinen Willard-Mädchen: die hübsche, sanfte Lena, die kluge Marcia mit dem sagenhaften Gedächtnis (hinter der sich die Autorin verbirgt) und das ewig plärrende Baby Florrie. Der Umzug in die Provinzhauptstadt ist für sie eine Reise in eine neue unbekannte Welt voller Wunder. Auf der Fahrt dorthin sehen sie einen Mann in einem Fesselballon, die schöne Tante Lois, bei der sie Station machen, das düstere Veteranenheim... Die familiäre…mehr

Produktbeschreibung
Erstmals auf deutsch erscheint nun Dawn Powells autobiographischer Roman über ihre Kindheit im ländlichen Ohio der Jahrhundertwende.
Im Mittelpunkt stehen die drei kleinen Willard-Mädchen: die hübsche, sanfte Lena, die kluge Marcia mit dem sagenhaften Gedächtnis (hinter der sich die Autorin verbirgt) und das ewig plärrende Baby Florrie. Der Umzug in die Provinzhauptstadt ist für sie eine Reise in eine neue unbekannte Welt voller Wunder. Auf der Fahrt dorthin sehen sie einen Mann in einem Fesselballon, die schöne Tante Lois, bei der sie Station machen, das düstere Veteranenheim... Die familiäre Idylle, die anfangs nur durch die ewigen Geldsorgen des Vaters getrübt ist, geht schließlich durch den Tod der Mutter für immer verloren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.1998

Wie Steine im freien Fall
Vollgestopfte Taschen: Dawn Powell erzählt eine Kindheit in Ohio

Im Jahre 1987 machte in den Literatenkreisen entlang der amerikanischen Ostküste der Name einer Schriftstellerin die Runde, der eigentlich schon vergessen war: Dawn Powell, eine Zeitgenossin Ernest Hemingways und Dorothy Parkers. Gore Vidal hatte der ehemaligen Doyenne der New Yorker Boheme in einem überschwenglichen Essay in der "New York Review of Books" den Titel "our best comic novelist" verliehen. Das war nicht ganz unverdient. Von den dreißiger bis in die sechziger Jahre hatte die 1964 verstorbene Powell das Leben der Künstlerkreise Manhattans der Nachwelt im Formalin ihrer pointierten Sprache als bunte Schmetterlingssammlung aufbewahrt.

Vidals Aufsatz gab in den Vereinigten Staaten den Anstoß zu einer Renaissance von Powells Literatur, die auch in Deutschland nicht ohne Folgen blieb. Drei New Yorker Gesellschaftskomödien der Autorin hat der Piper-Verlag seit 1994 dem deutschen Publikum zugänglich gemacht, weit geöffnete Fenster mit Ausblick auf eine illustre Schar mehr oder minder inspirierter Geister im Manhattan der zwanziger bis sechziger Jahre.

Doch Powells Kosmos spannt sich weiter als von den Kneipen der Unterstadt bis zu den edlen Zimmerfluchten im Osten des Central Parks. Neben ihrem Zyklus über New York veröffentlichte die Schriftstellerin auch mehrere Romane über Ohio, die Stätte ihrer Kindheit und Jugend, der sie 1918 einundzwanzigjährig nach New York entflohen war. Die Bücher spiegeln den Mittleren Westen vor der Weltwirtschaftskrise, gefiltert durch Powells bissigen Witz: aufstrebende Städte voller Industrie, eingebettet in ländliche Provinz, durch die auf staubigen Feldwegen Heuwagen rumpeln.

In dieser Reihe erschien zuletzt 1944 der Roman "Meine ferne Heimat", Powells Abgesang auf ihre Vergangenheit im Mittleren Westen Amerikas, der jetzt erstmals auf deutsch vorliegt. Strenggenommen läßt sich die Geschichte nicht autobiographisch nennen. Doch nährt sich der Roman mehr als die anderen Romane aus dem Mittleren Westen ihrer Kindheit. Hauptfigur ist Marcia Willard, die nach dem frühen Tod ihrer Mutter mit ihren beiden Schwestern, heimatlos geworden, ständig umzieht - der Vater, ein Handelsvertreter, reist ohne Unterlaß durchs Land. So kommandieren, zerren und verladen Verwandte und Bekannte kopfschüttelnd die Kinder, die dauerhaft dennoch niemand haben will, von einer Bleibe zur nächsten.

Die Geschwister ertragen die Drangsale ihrer Odyssee gefaßt: Weil sich niemand für sie verantwortlich fühlt, herrschen sie als Regentinnen im eigenen Reich; verlottert zwar, doch frei. Der anarchische Zustand findet aber ein vorläufiges Ende, als der Vater eine reiche Witwe heiratet, deren neurotisches Regime sie fortan ertragen müssen.

In Marcia begegnet der Leser dem Alter ego Powells. Im Charakter der Heldin legt sie die Wurzeln ihres pointierten Stiles bloß: Marcia beobachtet präzise die Absurditäten des Alltags, verfügt über ein phänomenales Gedächtnis und wehrt sich mit schlagfertigem Verstand gegen sie bedrängende Zeitgenossen. Der fortwährend sympathisch auf dieses Kind gewandte Blick der Erzählung verwandelt Powells Talent, Komödien zu erzählen, ins Tragikomische. Denn Marcia Williard wird zum unschuldigen Opfer des grotesken Treibens um sie herum. Nicht nur gerät sie mit ihren Geschwistern zwischen Mühlsteine scheinbar gut meinender Erwachsener. Auch wegen ihrer Intelligenz beargwöhnen die Menschen Marcia zutiefst.

Vor mitleidheischender Prosa ist die Schriftstellerin im Fall des Kindes, das sie einst gewesen sein mag, jedoch gefeit. Die Erzählerin bleibt immer auf Distanz zu ihrer Figur, eine Haltung, die ihr gesamtes Werk kennzeichnet. Bisweilen lauscht Powell den Gedanken eines Helden, doch taucht sie nie in Tiefen des Seelenlebens hinab. Vielmehr charakterisieren sich die Protagonisten selbst durch ihr Verhalten, ihre Sprache und beiläufige Gesten. Für Powell hat das einen tieferen Grund. Wittgensteinisch bemerkte sie einmal: "Man kann über die wirklichen Dinge nicht reden, es gibt keine Worte für echte Verzweiflung."

Das birgt Gefahren. Während Powells New Yorker Romane den Leser nicht zuletzt mit dem komplizierten Beziehungsreigen im Großstadtdschungel unterhalten, müssen sich in "Meine ferne Heimat" kleinstädtische Charaktere vor dem eher tristen Hintergrund des Mittleren Westens behaupten. Die beliebte Finte der Schriftstellerin, das Personal ihrer Romane sich durch unkontrolliertes Palaver selbst entlarven zu lassen, wirkt bisweilen ermüdend und gerät zum bloßen Slapstick. Nach über hundert Seiten weiß auch der letzte Leser, daß Marcias Vater sich nicht um seine Kinder kümmern will, wie er stets beteuert, sondern daß er nur ein eitler Windbeutel ist.

Dennoch bietet das Buch eindringliche Schilderungen der Mileus, in denen die Geschwister ihre Lager aufschlagen müssen - schäbige Bahnhofshotels, verlorene Bauernhöfe im Nirgendwo, von neureichem Stolz aufpolierte Villen.

Vor allem aber versteht Powell es auch in diesem Roman, Personen prägnant und sicher zu porträtieren: "Mrs. Carmel betrieb im Osten der Stadt ein Putzmachergeschäft. Sie war eine hagere, dunkelhaarige Frau und stets in unzählige schwarze Umhangtücher, Capes, Schleier und raschelnde Röcke gehüllt, die sich wie Fledermausflügel entfalteten, wenn sie durch die Straße eilte. Die Ellbogen hielt sie steif von sich weggestreckt, als wollte sie sich vom Wind vorwärts treiben lassen, doch der eigentliche Grund waren die vielen Taschen an ihren Armen, große schwarze Häkel- und Samttaschen, alle randvoll mit alten Briefen, Quittungen und Rezepten . . ."

So geht das - gekonnt übersetzt von Barbara Heller - noch eine ganze Weile, bis die gute Mrs. Carmel dem Leser im Traum erscheint. Was sich hinter solch kuriosen Kulissen verbirgt, bleibt aber stets nur hingetuschte Andeutung. Nie verdichten sich die Indizien zum "Beweis". Allein im Falle des phantasierten Spiegelbildes Marcia versucht Powell, eine komplexere Persönlichkeit zu zeichnen.

Powells Weigerung, sich der Innenwelt ihrer Figuren anzunähern, geht einher mit einem Fatalismus, mit dem sie in ihren Büchern den Weltenlauf verfolgt. In "Meine ferne Heimat" kommt er zur Sprache. Eines Tages gibt die jüngste Schwester Marcias frühmorgens unter Tränen kund, daß sie der bösen Stiefmutter nicht grollen könne, weil diese "nichts dafür kann, daß sie so gemein ist" - ebensowenig ihr Vater, ihre Schwestern, überhaupt jeder.

Nicht anders versteht auch Dawn Powell ihre Charaktere. In ihren Augen gehorchen Menschen, wie Steine im freien Fall, dem anonymen Diktat der Verhältnisse und ihrer Persönlichkeit. Die unbeteiligte Sicht auf die Fahrten ins Unvermeidliche gewährt Powell freilich erst die Möglichkeit, jenen befreienden Witz zu entfalten, der die Stärke ihres Schreibens ausmacht. Stiege die Autorin in die feuchten, dunklen Seelenkeller ihrer Charaktere hinab, ginge der wohl unter dumpfen Echos verloren.

HUBERTUS BREUER

Dawn Powell: "Meine ferne Heimat". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Heller. Mit einem Nachwort von Tim Page. Malik-Verlag, München 1998. 343 S., geb., 39,80 DM.

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