Produktdetails
- Verlag: Büchergilde Gutenberg
- ISBN-13: 9783763254347
- ISBN-10: 376325434X
- Artikelnr.: 25024579
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.07.2003Peggy, Petzke, Polizisten
Lauter Fluchtgeschichten: Claudia Rusch erzählt von ihrer Jugend in der DDR
Von der DDR, dem sozialen Großversuch in betreutem Wohnen, werden Fluchtgeschichten bleiben, Erzählungen vom Auszug. Claudia Rusch, 1971 geboren, musste früh damit beginnen. Sie wuchs an der Ostsee auf, bis ihre Mutter den Vater, einen Marineoffizier, verließ und nach Grünheide in der Mark zog, in unmittelbare Nachbarschaft Robert Havemanns, über den 1976 Hausarrest verhängt wurde. Zur Überwachung des marxistischen Dissidenten wurde kein Aufwand gescheut.
Eines Abends bestand die Erstklässlerin Rusch darauf, ihre Großmutter allein vom Bus abzuholen. Der Weg führte durch die dunkle Siedlung, durch den Wald. Die Mutter wollte ihrer Tochter das Erlebnis des Großseins nicht nehmen, sie aber doch aus ihrer Obhut nicht entlassen. Also folgte sie dem Mädchen unbemerkt. Die Bewacher von der Staatssicherheit fürchteten staatsfeindliche Aktivitäten und ließen den Motor an.
Um ihre Angst, vor allem die vor der Dunkelheit, zu überwinden, begann das Mädchen zu singen, das „strophenreichste Lied”, das sie kannte: „Soldaten sind vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit. Gute Freunde bei der Volksarmee, sie schützen unsere Heimat, zu Land, zu Luft und auf der See, juchhei”. Das Lied half gegen die Angst und beschwor den Zorn der Mutter herauf, die ihre Tochter mit Wolf Biermanns „Soldat, Soldat in grauer Norm” erzog.
„Es war der Narrenumzug der Saison. Zu NVA-Lied marschierende Tochter vorn, subversive Mutter dahinter, der durchgeschüttelte Stasi-Lada im Schlepptau. Alle im gebührenden Sicherheitsabstand.”
Nichts für Zonenkinder
Wer, wie Claudia Rusch in der kleinen, exklusiven Welt der Bürgerrechtler aufgewachsen ist, hat kaum eine Chance, das eigene Leben als Generationendurchschnitt zu verkaufen. Als Kind oppositioneller Eltern war es ihr versagt, in der Menge zu verschwinden, sie blieb auffällig. Rusch versucht erst gar nicht, ihrem besonderen Leben den Stachel zu nehmen, den Leser mit Kuschelangeboten zu locken. Denen, die Zonenkinder sein wollen, hat sie nichts zu bieten.
Dennoch ist die provinziell behütete, halb stickige, halb bedrohliche Atmosphäre der späten DDR selten so gut eingefangen worden wie in diesem Buch. Das konnte gelingen, weil in all den gegeneinander abgegrenzten Sonderwelten der sozialistischen Gesellschaft, in all den Nischen und Rückzugsräumen doch immer Ähnliches geschah, die selben Fragen sich wiederholten. Mangel, Zwänge der Anpassung, Stolz auf kleine Freiheiten fanden sich überall.
Ruschs fünfundzwanzig Geschichten erzählen sämtlich von kleinen Akten der Selbstbehauptung, der Befreiung – und handeln also von der entscheidenden Erfahrung der Ostdeutschen. Kein Blick von innen wird die DDR so erhellen, wie der staunende, den man nach dem ersten Grenzübertritt auf das absurde Land warf. Mit dieser Situation aus Verwunderung, Wut und Tränen, auf der Schwedenfähre, beginnt das Buch. Es dominieren absurde, komische Szenen, eine distanzierte Sympathie mit den anderen Eingesperrten. Es ist ein so heiteres wie endgültiges Abschiednehmen.
Nur an wenigen Stellen wird die Erzählerin unerbittlich. Als sie mit dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen” in die Schule kam, nahm der Lehrer Petzke das schutzlose Mädchen sich vor der Klasse zur Brust, erklärte sie zur Klassenfeindin. Gerettet hat ihre Freundin Peggy sie, die aufsprang, dem Lehrer und der nickenden Klasse widersprach. „Keine spätere Erfahrung von Solidarität war für mich so entscheidend wie diese.”
Als sie größer wurde, ihr in der Schule alles zufiel, ihre mathematische Begabung entdeckt und in Schülerkursen an der Universität gefördert wurde, plante Claudia Rusch ihre Ausreise. Nach erfolgreichem Schulabschluss wollte sie einen von zwei Franzosen heiraten und gehen. Sie hat ihren Eltern erst nach der Wende davon erzählt und erfuhr, dass auch die Mutter einen Freund bereits gebeten hatte, die Tochter zwecks Ausreise zu heiraten. Sie nahm dafür in Kauf, ihr Kind nie wiederzusehen. Das kann Rusch der DDR nicht verzeihen. „Das hat eine andere Dimension als Obstknappheit oder Fackelumzüge. Dieses System brachte Eltern dazu, ihre Kinder für immer wegzugeben. Solche Wunden sind durch nichts zu heilen.”
Ebenso wenig vergessen werden dürfte der Schreck nach der Wende, als herauskommt, dass ein IM namens „Buche” die Mutter bespitzelt hat. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass es die Großmutter gewesen sein könnte. Beinahe glaubt die Familie schon, dass auch sie einen Spitzel in ihre Reihen hatte, bis sich herausstellt, dass IM „Buche” eine gute Freundin der Mutter war.
Spät erst, im vergangenen Jahr, hat Claudia Rusch begonnen, die Geschichte ihres Großvaters zu recherchieren. Er war Landrat, Genosse, Vorzeigekader, wurde seines Amtes enthoben, kam in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Rostock und starb dort. Im Archiv, auf der Suche nach Lebensspuren, hat die Autorin einen kleinen Machtkampf mit der unwilligen Bearbeiterin der Akten zu bestehen. Sie erklärt ihr Interesse, weist daraufhin, dass ein Genosse ihres Großvaters, entscheidend an der Amtsenthebung mitgewirkt hat, einer „der gefälligsten Kundschafter der Stasi” gewesen ist. „Die sind heute auch nicht besser”, pariert in dreister Ignoranz die Archivmitarbeiterin.
Neben diesen Geschichten aus der DDR und der Nachwendezeit wirken die Erinnerungen an Besuche in Frankreich, an eine Hochzeit mit vielen Europäern, an eine Autofahrt durch Paris etwas blass, allzu vorhersehbar.
Geradezu peinlich wirkt das Pathos im Nachwort Wolfgang Hilbigs: „Wir waren ganz normale Menschen, die sich ihrer Tränen, ihrer Lust, ihrer Irrtümer und Wahrheiten nicht zu schämen brauchten ...” Als ob das ernsthaft einer bestreiten würde. Es ist gerade die Stärke an Ruschs Erinnerungen, dass sie an vielen Stellen jene Besonderheit der DDR aufscheinen lässt, die sich nicht als allgemein Menschliches verrechnen lässt. Auch sie, schreibt sie, von Kind auf misstrauisch gegenüber allen Staatsbürgerkundelehrern, sei „tief im Inneren vermutlich genauso überzeugt” wie diese gewesen. Die heilsgeschichtliche Anspannung hat auch die Oppositionellen geprägt. Als Mädchen sehnte sich Rusch manchmal nach Unauffälligkeit, „mit Eltern in der Partei, FDGB-Urlaub in Kühlungsborn und einer Dreizimmerwohnung in Marzahn.”
Es dürfte der letzte Akte der Emanzipation sein, im Wunsch nach Durchschnittlichkeit nichts Verwerfliches zu erblicken. Flott schildert Rusch den befreienden Weg aus der Anspannung, der Anormalität ins alltägliche Leben. Mehr kann das Genre der Kindheitserinnerungen junger Menschen wohl kaum leisten.
JENS BISKY
CLAUDIA RUSCH: Meine freie deutsche Jugend. Mit einem Text von Wolfgang Hilbig. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 157 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Lauter Fluchtgeschichten: Claudia Rusch erzählt von ihrer Jugend in der DDR
Von der DDR, dem sozialen Großversuch in betreutem Wohnen, werden Fluchtgeschichten bleiben, Erzählungen vom Auszug. Claudia Rusch, 1971 geboren, musste früh damit beginnen. Sie wuchs an der Ostsee auf, bis ihre Mutter den Vater, einen Marineoffizier, verließ und nach Grünheide in der Mark zog, in unmittelbare Nachbarschaft Robert Havemanns, über den 1976 Hausarrest verhängt wurde. Zur Überwachung des marxistischen Dissidenten wurde kein Aufwand gescheut.
Eines Abends bestand die Erstklässlerin Rusch darauf, ihre Großmutter allein vom Bus abzuholen. Der Weg führte durch die dunkle Siedlung, durch den Wald. Die Mutter wollte ihrer Tochter das Erlebnis des Großseins nicht nehmen, sie aber doch aus ihrer Obhut nicht entlassen. Also folgte sie dem Mädchen unbemerkt. Die Bewacher von der Staatssicherheit fürchteten staatsfeindliche Aktivitäten und ließen den Motor an.
Um ihre Angst, vor allem die vor der Dunkelheit, zu überwinden, begann das Mädchen zu singen, das „strophenreichste Lied”, das sie kannte: „Soldaten sind vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit. Gute Freunde bei der Volksarmee, sie schützen unsere Heimat, zu Land, zu Luft und auf der See, juchhei”. Das Lied half gegen die Angst und beschwor den Zorn der Mutter herauf, die ihre Tochter mit Wolf Biermanns „Soldat, Soldat in grauer Norm” erzog.
„Es war der Narrenumzug der Saison. Zu NVA-Lied marschierende Tochter vorn, subversive Mutter dahinter, der durchgeschüttelte Stasi-Lada im Schlepptau. Alle im gebührenden Sicherheitsabstand.”
Nichts für Zonenkinder
Wer, wie Claudia Rusch in der kleinen, exklusiven Welt der Bürgerrechtler aufgewachsen ist, hat kaum eine Chance, das eigene Leben als Generationendurchschnitt zu verkaufen. Als Kind oppositioneller Eltern war es ihr versagt, in der Menge zu verschwinden, sie blieb auffällig. Rusch versucht erst gar nicht, ihrem besonderen Leben den Stachel zu nehmen, den Leser mit Kuschelangeboten zu locken. Denen, die Zonenkinder sein wollen, hat sie nichts zu bieten.
Dennoch ist die provinziell behütete, halb stickige, halb bedrohliche Atmosphäre der späten DDR selten so gut eingefangen worden wie in diesem Buch. Das konnte gelingen, weil in all den gegeneinander abgegrenzten Sonderwelten der sozialistischen Gesellschaft, in all den Nischen und Rückzugsräumen doch immer Ähnliches geschah, die selben Fragen sich wiederholten. Mangel, Zwänge der Anpassung, Stolz auf kleine Freiheiten fanden sich überall.
Ruschs fünfundzwanzig Geschichten erzählen sämtlich von kleinen Akten der Selbstbehauptung, der Befreiung – und handeln also von der entscheidenden Erfahrung der Ostdeutschen. Kein Blick von innen wird die DDR so erhellen, wie der staunende, den man nach dem ersten Grenzübertritt auf das absurde Land warf. Mit dieser Situation aus Verwunderung, Wut und Tränen, auf der Schwedenfähre, beginnt das Buch. Es dominieren absurde, komische Szenen, eine distanzierte Sympathie mit den anderen Eingesperrten. Es ist ein so heiteres wie endgültiges Abschiednehmen.
Nur an wenigen Stellen wird die Erzählerin unerbittlich. Als sie mit dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen” in die Schule kam, nahm der Lehrer Petzke das schutzlose Mädchen sich vor der Klasse zur Brust, erklärte sie zur Klassenfeindin. Gerettet hat ihre Freundin Peggy sie, die aufsprang, dem Lehrer und der nickenden Klasse widersprach. „Keine spätere Erfahrung von Solidarität war für mich so entscheidend wie diese.”
Als sie größer wurde, ihr in der Schule alles zufiel, ihre mathematische Begabung entdeckt und in Schülerkursen an der Universität gefördert wurde, plante Claudia Rusch ihre Ausreise. Nach erfolgreichem Schulabschluss wollte sie einen von zwei Franzosen heiraten und gehen. Sie hat ihren Eltern erst nach der Wende davon erzählt und erfuhr, dass auch die Mutter einen Freund bereits gebeten hatte, die Tochter zwecks Ausreise zu heiraten. Sie nahm dafür in Kauf, ihr Kind nie wiederzusehen. Das kann Rusch der DDR nicht verzeihen. „Das hat eine andere Dimension als Obstknappheit oder Fackelumzüge. Dieses System brachte Eltern dazu, ihre Kinder für immer wegzugeben. Solche Wunden sind durch nichts zu heilen.”
Ebenso wenig vergessen werden dürfte der Schreck nach der Wende, als herauskommt, dass ein IM namens „Buche” die Mutter bespitzelt hat. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass es die Großmutter gewesen sein könnte. Beinahe glaubt die Familie schon, dass auch sie einen Spitzel in ihre Reihen hatte, bis sich herausstellt, dass IM „Buche” eine gute Freundin der Mutter war.
Spät erst, im vergangenen Jahr, hat Claudia Rusch begonnen, die Geschichte ihres Großvaters zu recherchieren. Er war Landrat, Genosse, Vorzeigekader, wurde seines Amtes enthoben, kam in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Rostock und starb dort. Im Archiv, auf der Suche nach Lebensspuren, hat die Autorin einen kleinen Machtkampf mit der unwilligen Bearbeiterin der Akten zu bestehen. Sie erklärt ihr Interesse, weist daraufhin, dass ein Genosse ihres Großvaters, entscheidend an der Amtsenthebung mitgewirkt hat, einer „der gefälligsten Kundschafter der Stasi” gewesen ist. „Die sind heute auch nicht besser”, pariert in dreister Ignoranz die Archivmitarbeiterin.
Neben diesen Geschichten aus der DDR und der Nachwendezeit wirken die Erinnerungen an Besuche in Frankreich, an eine Hochzeit mit vielen Europäern, an eine Autofahrt durch Paris etwas blass, allzu vorhersehbar.
Geradezu peinlich wirkt das Pathos im Nachwort Wolfgang Hilbigs: „Wir waren ganz normale Menschen, die sich ihrer Tränen, ihrer Lust, ihrer Irrtümer und Wahrheiten nicht zu schämen brauchten ...” Als ob das ernsthaft einer bestreiten würde. Es ist gerade die Stärke an Ruschs Erinnerungen, dass sie an vielen Stellen jene Besonderheit der DDR aufscheinen lässt, die sich nicht als allgemein Menschliches verrechnen lässt. Auch sie, schreibt sie, von Kind auf misstrauisch gegenüber allen Staatsbürgerkundelehrern, sei „tief im Inneren vermutlich genauso überzeugt” wie diese gewesen. Die heilsgeschichtliche Anspannung hat auch die Oppositionellen geprägt. Als Mädchen sehnte sich Rusch manchmal nach Unauffälligkeit, „mit Eltern in der Partei, FDGB-Urlaub in Kühlungsborn und einer Dreizimmerwohnung in Marzahn.”
Es dürfte der letzte Akte der Emanzipation sein, im Wunsch nach Durchschnittlichkeit nichts Verwerfliches zu erblicken. Flott schildert Rusch den befreienden Weg aus der Anspannung, der Anormalität ins alltägliche Leben. Mehr kann das Genre der Kindheitserinnerungen junger Menschen wohl kaum leisten.
JENS BISKY
CLAUDIA RUSCH: Meine freie deutsche Jugend. Mit einem Text von Wolfgang Hilbig. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 157 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2003Die Stasi hinter dem Wasserhahn
Lesung mit Claudia Rusch
"Ich bin sehr heil aus dieser ganzen Geschichte hervorgegangen", sagt Claudia Rusch am Ende ihrer Lesung, nachdem sie in der Carolus-Buchhandlung Momente aus ihrem Leben geschildert hat, die das nicht unbedingt nahelegen. In ihrem Erstling "Meine freie deutsche Jugend" schildert die in Stralsund geborene Autorin, Jahrgang 1971, in fünfundzwanzig Texten ihre Kindheit und Jugend in der DDR, aber auch Erlebnisse aus der Nachwendezeit. Nur wenige Jahre verbringt die Tochter eines Marineoffiziers der NVA auf Rügen, dann zieht die politisch aktive Mutter mit ihr ins Berliner Umland, zu ihren Freunden Katja und Robert Havemann. Kurz darauf wird Wolf Biermann ausgebürgert, und der Dissident Havemann steht unter Hausarrest.
Die Ladas der Stasi vor der Haustür gehören von da an zu ihrem Alltag. "Kakerlaken" werden sie im Hause Havemann genannt, für das Kind ein ganz normaler Ausdruck, klang ja auch "ein bißchen russisch". Als ihr Jahre später ein Freund erklärt, hinter der Spüle des Studentenwohnheims lebten geschätzte 200 Kakerlaken, denkt sie natürlich nicht an Küchenschaben, sondern an eng zusammengedrängte Männer, die gleichzeitig durch das Loch im Wasserhahn glotzen. Wenn die Normalität von Anfang an auf den Kopf gestellt wurde, wird das Ungewöhnliche eben ganz gewöhnlich. Und der Status des Außenseiters schafft einen besonderen Zusammenhalt: "Ich hatte das Gefühl, zu Hause einen Hort zu haben", sagt Claudia Rusch, und man glaubt ihr das. Gramgeschüttelte Sentimentalität nämlich findet sich nirgends, authentisch, humorvoll und leicht wirken ihre Geschichten, mit meist augenzwinkernden Pointen.
Letztere finden sich, in galgenhumoriger Variante, sogar in ernsten Passagen wie jener, in der "IM Buche" enttarnt wird, die ihre Mutter über dreißig Jahre lang bespitzelt haben soll. Ein Eingriff, der "alles in Frage" stellt, sogar die Großmutter. Als diese, von jedem Verdacht befreit, mit Tochter und Enkelin darauf anstößt, "daß dieser Kelch an uns vorübergegangen ist", wird sich wohl mancher gefragt haben, wie man solche staatlich gesteuerten Vertrauensbrüche "heil" übersteht. Doch im nächsten Moment kann man sich wieder gut vorstellen, wie Claudia Rusch mit ihrer tiefen energischen Stimme in den letzten Tagen der DDR die Abiturientenrede hält, das Zucken in den Gesichtern der Offiziellen genießt und im vollen Bewußtsein ihrer Macht die Freiheit nutzt, die Denunzianten nicht zu denunzieren.
In einer anderen Geschichte besteht die Freiheit in einer von Rügen aus gestarteten Ostseereise ins einst unerreichbare schwedische Trelleborg. In der letzten, die sie liest, bedeutet Freiheit den Kauf von so viel Raider, wie es die Hälfte des Begrüßungsgelds hergibt - jenes Intershop-Juwel, dessen goldenes Papier früher wochenlang aufgehoben wurde. Als Ostalgie will die Autorin das nicht verstanden wissen.
KRISTINA MICHAELIS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lesung mit Claudia Rusch
"Ich bin sehr heil aus dieser ganzen Geschichte hervorgegangen", sagt Claudia Rusch am Ende ihrer Lesung, nachdem sie in der Carolus-Buchhandlung Momente aus ihrem Leben geschildert hat, die das nicht unbedingt nahelegen. In ihrem Erstling "Meine freie deutsche Jugend" schildert die in Stralsund geborene Autorin, Jahrgang 1971, in fünfundzwanzig Texten ihre Kindheit und Jugend in der DDR, aber auch Erlebnisse aus der Nachwendezeit. Nur wenige Jahre verbringt die Tochter eines Marineoffiziers der NVA auf Rügen, dann zieht die politisch aktive Mutter mit ihr ins Berliner Umland, zu ihren Freunden Katja und Robert Havemann. Kurz darauf wird Wolf Biermann ausgebürgert, und der Dissident Havemann steht unter Hausarrest.
Die Ladas der Stasi vor der Haustür gehören von da an zu ihrem Alltag. "Kakerlaken" werden sie im Hause Havemann genannt, für das Kind ein ganz normaler Ausdruck, klang ja auch "ein bißchen russisch". Als ihr Jahre später ein Freund erklärt, hinter der Spüle des Studentenwohnheims lebten geschätzte 200 Kakerlaken, denkt sie natürlich nicht an Küchenschaben, sondern an eng zusammengedrängte Männer, die gleichzeitig durch das Loch im Wasserhahn glotzen. Wenn die Normalität von Anfang an auf den Kopf gestellt wurde, wird das Ungewöhnliche eben ganz gewöhnlich. Und der Status des Außenseiters schafft einen besonderen Zusammenhalt: "Ich hatte das Gefühl, zu Hause einen Hort zu haben", sagt Claudia Rusch, und man glaubt ihr das. Gramgeschüttelte Sentimentalität nämlich findet sich nirgends, authentisch, humorvoll und leicht wirken ihre Geschichten, mit meist augenzwinkernden Pointen.
Letztere finden sich, in galgenhumoriger Variante, sogar in ernsten Passagen wie jener, in der "IM Buche" enttarnt wird, die ihre Mutter über dreißig Jahre lang bespitzelt haben soll. Ein Eingriff, der "alles in Frage" stellt, sogar die Großmutter. Als diese, von jedem Verdacht befreit, mit Tochter und Enkelin darauf anstößt, "daß dieser Kelch an uns vorübergegangen ist", wird sich wohl mancher gefragt haben, wie man solche staatlich gesteuerten Vertrauensbrüche "heil" übersteht. Doch im nächsten Moment kann man sich wieder gut vorstellen, wie Claudia Rusch mit ihrer tiefen energischen Stimme in den letzten Tagen der DDR die Abiturientenrede hält, das Zucken in den Gesichtern der Offiziellen genießt und im vollen Bewußtsein ihrer Macht die Freiheit nutzt, die Denunzianten nicht zu denunzieren.
In einer anderen Geschichte besteht die Freiheit in einer von Rügen aus gestarteten Ostseereise ins einst unerreichbare schwedische Trelleborg. In der letzten, die sie liest, bedeutet Freiheit den Kauf von so viel Raider, wie es die Hälfte des Begrüßungsgelds hergibt - jenes Intershop-Juwel, dessen goldenes Papier früher wochenlang aufgehoben wurde. Als Ostalgie will die Autorin das nicht verstanden wissen.
KRISTINA MICHAELIS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Tragisch und grotesk, infam und hanebüchen sind die exemplarischen Geschichten, die in bester Journalistentradition dieses ungemein wahrhaftige und anrührende Buch zu einer Quelle ersten Ranges machen!" Frankfurter Rundschau