Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, der letzte Überlebende der "Gruppe Ulbricht" und Autor des Bestsellers "Die Revolution entlässt ihre Kinder", zieht Bilanz - die Summe eines Lebens, das mit der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert aufs Engste verbunden war. Leonhard gehörte zu den ersten Führungskadern, die Deutschland nach dem Krieg im Sinne des Sozialismus wiederaufbauen sollten. Bald brach er jedoch mit dem Stalinismus, wie er in der DDR Gestalt annahm. In diesem Buch beschreibt er den Aufstieg und Fall eines Staates, dessen Gründungsideale er leidenschaftlich teilte - und dem er letztlich enttäuscht den Rücken kehrte. Er erzählt von den Anfangsjahren nach 1945, seinem späteren Leben als Ostexperte im Westen und von Plänen der Stasi, ihn zu entführen. Er schildert, wie er den Kalten Krieg zwischen beiden deutschen Staaten und schließlich das Ende der DDR erlebt hat. Und er zeichnet ein lebendiges Bild führender DDR-Persönlichkeiten, mit denen er gut bekannt war, unter ihnen Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Erich Honecker und Markus Wolf. Der Rückblick eines Jahrhundertzeugen - und zugleich ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2007Streitbar verfasst
Wolfgang Leonhard zieht seine politische Lebensbilanz
Wer kennt ihn nicht in Politik und Publizistik, den Ost-Experten, der 1945 als jüngstes Mitglied der legendären "Gruppe Ulbricht" aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland heimkehrte, ein hoffnungsvoller Nachwuchskader der Partei, bis er im März 1949 mit der SED brach? Fortan war er im Osten verfemt, ein "Verräter", ein "Renegat". 1955 legt er den Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder" vor. Ein großer Wurf. Mit seinem jüngsten Buch knüpft Wolfgang Leonhard daran an, fasst aus heutiger Perspektive Wesentliches daraus zusammen, schildert noch einmal Schulbesuch und Sozialisation im Russland Stalins und die ersten Schritte eines Genossen der KPD auf dem Wege zu einer Parteikarriere. Indem er sein Enthüllungsbuch fortschreibt, gibt er auch Antworten auf Fragen, die er damals unbeantwortet ließ oder unbeantwortet lassen musste - Hintergründe seiner Flucht etwa in das Jugoslawien Josip Broz-Titos, bei der ihm Diplomaten des Balkanstaates in Prag halfen. Wäre das seinerzeit publik geworden, hätte es politische Komplikationen gegeben. Im November 1950 wechselt Leonhard in die ungeliebte Bundesrepublik. Nach einem Fehlstart in der Unabhängigen Arbeiterpartei, einer titoistischen Splitterpartei, sagt er der Tagespolitik Valet und optiert für einen wissenschaftlichen Lebensentwurf. Nach Studien und Forschungen an der Universität Oxford und der Columbia-Universität New York lehrt er zwanzig Jahre als Historiker an der Yale-Universität in New Haven. Seit 1978 lebt er in der Eifel, in Manderscheid.
Wolfgang (eigentlich Wolodja) Leonhard breitet seine Erinnerungen im Kontext zur Geschichte der DDR aus - daher der seltsame Titel seines Buches. Eine DDR-Geschichte im herkömmlichen Sinne hat er nicht verfasst. Trotzdem ist viel über die "bürokratische Diktatur" der SED zu erfahren. Der Autor, Insider einst, gibt Einschätzungen zu ihrem Führungspersonal in Staat und Gesellschaft. Ebenso reflektiert er über die Sowjetunion vor und nach Stalin. Seine Wertungen sind höchst subjektiv, aber allemal anregend. Einiges erfährt, wer das Buch liest, auch über die Eltern, die sich frühzeitig trennen. Mutter Susanne Leonhard, einst gläubige Kommunistin, emigriert 1933 mit dem zwölf Jahre alten Sohn nach Schweden und später in die Sowjetunion. Hier wird sie 1936 von der Geheimpolizei verhaftet, ein Opfer stalinistischer Verfolgungshysterie. Nach einem Jahrzehnt Workuta wird sie in den Osten Kasachstans verbannt. Erst 1948 darf sie in die SBZ ausreisen. Nach der Flucht ihres Sohnes wechselt sie in den Westen. Sie stirbt 1984 hochbetagt in Stuttgart. Rudolf Leonhard, der Vater, verlässt 1950 Paris, wo er zuletzt in der Emigration war, und geht nach Ost-Berlin. Hier lebt er bis zu seinem Tod 1953 als parteilinientreuer Schriftsteller. Den Sohn verachtet er als "Verräter".
Leonhard schrieb ein ehrliches Buch, in dem sich Erfolg und Enttäuschung widerspiegeln, auch seine Traumata und Ängste. Jahrelang lebte er mit der begründeten Furcht vor einer Entführung in die DDR. Sie war, wie Stasi-Akten belegen, "operativ vorbereitet". In den fünfziger und sechziger Jahren wurden abtrünnige Genossen nach ihrer Flucht nicht nur geächtet, sondern in dreistelliger Zahl aus dem Westen verschleppt. Besonders aufschlussreich ist, was Leonhard über Wiederbegegnungen mit ehemaligen Kampfgefährten und DDR-Spitzenkadern berichtet, die er nach 1989 im Osten aufsucht - seinen Mitschüler und Komintern-Kursanten Markus Wolf zum Beispiel. "Meine Hoffnung, dass bei ihm ein selbstkritisches Nachdenken über die Untaten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, einsetzen könnte, wurde aber enttäuscht." Ähnlich lesenswert sind die Impressionen des Autors aus seinen Gesprächen mit Paul Wandel, seinem Lehrer auf der Komintern-Schule in Kuschnarenkowo, später ZKSekretär der SED, oder mit den ehemaligen SED-Politbüro-Mitgliedern Hermann Axen, Werner Eberlein, Egon Krenz und Günter Schabowski. Wenn sich Leonhard auch manche Sentimentalität leistet, etwa in seinem Bild von Wilhelm Pieck, lässt sich das gewiss nachvollziehen.
Nicht minder interessant sind die Passagen, in denen Leonhard die Rezeption seines Erfolgswerkes skizziert. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Es war nicht nur in der DDR, sondern im gesamten Ostblock verboten. Sein illegaler Besitz wurde strafrechtlich geahndet. Als die "Iswestija" 1988 im Zeichen von "Glasnost" Auszüge daraus und ein Interview mit dem Autor druckte, beschwerte sich Axen als zuständiger ZK-Sekretär in Moskau ob "dieser uns völlig unbegreiflichen und nicht zu billigenden Veröffentlichung". Einmal Parteifeind - immer Parteifeind. Das Buch ist nicht frei von zeithistorischen Ungenauigkeiten. Die große Linie dagegen stimmt, die Abrechnung mit dem Stalinismus überzeugt, die politische Lebensbilanz beeindruckt. Seine Kritik an den deutschlandpolitischen Entscheidungen vor und nach 1989 wird Widerspruch hervorrufen. Der Widerspruch ist gewollt. Leonhard, ein streitbarer Dialektiker, bedient sich einer farbigen Sprache. Auch und gerade jüngere Menschen - Stichwort Aufarbeitung der Vergangenheit! - sollten nach dem Buch greifen. Es wird sie faszinieren.
KARL WILHELM FRICKE
Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt Verlag, Berlin 2007. 267 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Leonhard zieht seine politische Lebensbilanz
Wer kennt ihn nicht in Politik und Publizistik, den Ost-Experten, der 1945 als jüngstes Mitglied der legendären "Gruppe Ulbricht" aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland heimkehrte, ein hoffnungsvoller Nachwuchskader der Partei, bis er im März 1949 mit der SED brach? Fortan war er im Osten verfemt, ein "Verräter", ein "Renegat". 1955 legt er den Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder" vor. Ein großer Wurf. Mit seinem jüngsten Buch knüpft Wolfgang Leonhard daran an, fasst aus heutiger Perspektive Wesentliches daraus zusammen, schildert noch einmal Schulbesuch und Sozialisation im Russland Stalins und die ersten Schritte eines Genossen der KPD auf dem Wege zu einer Parteikarriere. Indem er sein Enthüllungsbuch fortschreibt, gibt er auch Antworten auf Fragen, die er damals unbeantwortet ließ oder unbeantwortet lassen musste - Hintergründe seiner Flucht etwa in das Jugoslawien Josip Broz-Titos, bei der ihm Diplomaten des Balkanstaates in Prag halfen. Wäre das seinerzeit publik geworden, hätte es politische Komplikationen gegeben. Im November 1950 wechselt Leonhard in die ungeliebte Bundesrepublik. Nach einem Fehlstart in der Unabhängigen Arbeiterpartei, einer titoistischen Splitterpartei, sagt er der Tagespolitik Valet und optiert für einen wissenschaftlichen Lebensentwurf. Nach Studien und Forschungen an der Universität Oxford und der Columbia-Universität New York lehrt er zwanzig Jahre als Historiker an der Yale-Universität in New Haven. Seit 1978 lebt er in der Eifel, in Manderscheid.
Wolfgang (eigentlich Wolodja) Leonhard breitet seine Erinnerungen im Kontext zur Geschichte der DDR aus - daher der seltsame Titel seines Buches. Eine DDR-Geschichte im herkömmlichen Sinne hat er nicht verfasst. Trotzdem ist viel über die "bürokratische Diktatur" der SED zu erfahren. Der Autor, Insider einst, gibt Einschätzungen zu ihrem Führungspersonal in Staat und Gesellschaft. Ebenso reflektiert er über die Sowjetunion vor und nach Stalin. Seine Wertungen sind höchst subjektiv, aber allemal anregend. Einiges erfährt, wer das Buch liest, auch über die Eltern, die sich frühzeitig trennen. Mutter Susanne Leonhard, einst gläubige Kommunistin, emigriert 1933 mit dem zwölf Jahre alten Sohn nach Schweden und später in die Sowjetunion. Hier wird sie 1936 von der Geheimpolizei verhaftet, ein Opfer stalinistischer Verfolgungshysterie. Nach einem Jahrzehnt Workuta wird sie in den Osten Kasachstans verbannt. Erst 1948 darf sie in die SBZ ausreisen. Nach der Flucht ihres Sohnes wechselt sie in den Westen. Sie stirbt 1984 hochbetagt in Stuttgart. Rudolf Leonhard, der Vater, verlässt 1950 Paris, wo er zuletzt in der Emigration war, und geht nach Ost-Berlin. Hier lebt er bis zu seinem Tod 1953 als parteilinientreuer Schriftsteller. Den Sohn verachtet er als "Verräter".
Leonhard schrieb ein ehrliches Buch, in dem sich Erfolg und Enttäuschung widerspiegeln, auch seine Traumata und Ängste. Jahrelang lebte er mit der begründeten Furcht vor einer Entführung in die DDR. Sie war, wie Stasi-Akten belegen, "operativ vorbereitet". In den fünfziger und sechziger Jahren wurden abtrünnige Genossen nach ihrer Flucht nicht nur geächtet, sondern in dreistelliger Zahl aus dem Westen verschleppt. Besonders aufschlussreich ist, was Leonhard über Wiederbegegnungen mit ehemaligen Kampfgefährten und DDR-Spitzenkadern berichtet, die er nach 1989 im Osten aufsucht - seinen Mitschüler und Komintern-Kursanten Markus Wolf zum Beispiel. "Meine Hoffnung, dass bei ihm ein selbstkritisches Nachdenken über die Untaten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, einsetzen könnte, wurde aber enttäuscht." Ähnlich lesenswert sind die Impressionen des Autors aus seinen Gesprächen mit Paul Wandel, seinem Lehrer auf der Komintern-Schule in Kuschnarenkowo, später ZKSekretär der SED, oder mit den ehemaligen SED-Politbüro-Mitgliedern Hermann Axen, Werner Eberlein, Egon Krenz und Günter Schabowski. Wenn sich Leonhard auch manche Sentimentalität leistet, etwa in seinem Bild von Wilhelm Pieck, lässt sich das gewiss nachvollziehen.
Nicht minder interessant sind die Passagen, in denen Leonhard die Rezeption seines Erfolgswerkes skizziert. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Es war nicht nur in der DDR, sondern im gesamten Ostblock verboten. Sein illegaler Besitz wurde strafrechtlich geahndet. Als die "Iswestija" 1988 im Zeichen von "Glasnost" Auszüge daraus und ein Interview mit dem Autor druckte, beschwerte sich Axen als zuständiger ZK-Sekretär in Moskau ob "dieser uns völlig unbegreiflichen und nicht zu billigenden Veröffentlichung". Einmal Parteifeind - immer Parteifeind. Das Buch ist nicht frei von zeithistorischen Ungenauigkeiten. Die große Linie dagegen stimmt, die Abrechnung mit dem Stalinismus überzeugt, die politische Lebensbilanz beeindruckt. Seine Kritik an den deutschlandpolitischen Entscheidungen vor und nach 1989 wird Widerspruch hervorrufen. Der Widerspruch ist gewollt. Leonhard, ein streitbarer Dialektiker, bedient sich einer farbigen Sprache. Auch und gerade jüngere Menschen - Stichwort Aufarbeitung der Vergangenheit! - sollten nach dem Buch greifen. Es wird sie faszinieren.
KARL WILHELM FRICKE
Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt Verlag, Berlin 2007. 267 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2007Glück ist etwas Relatives
Das DDR-Bild des „Republik-Flüchtlings” Wolfgang Leonhard
Die Operation trug den Decknamen „Drilling”. Clara sollte das Bier präparieren, Karin und Arthur Pfannkuchen und Hackepeter mittels „Einspritzen in die Füllung” vorbereiten. Alle Betäubungsmittel sollten so dosiert werden, dass „W.L.” schon nach einem Schluck oder Bissen „genug habe”.
„W.L.”: Diese Buchstaben stehen für Wolfgang Leonhard. Clara, Karin und Arthur sind Decknamen von FDJ-Funktionären, die 1952 den Auftrag hatten, den verhassten Republikflüchtling zu entführen. Jahrzehnte später liest Leonhard all dies in seiner Stasiakte. Zu Recht also, so wird ihm jetzt klar, hatte er in der BRD anfangs in ständiger Angst gelebt. Niemals ging er auf der rechten Straßenseite: Es hätte ja immer ein Auto von hinten kommen können. Wohl nur jemand, der so viel erlebt hat wie Wolfgang Leonhard, kann eine derart gruselige Episode so beiläufig erzählen: „Die wussten offensichtlich, was ich gerne aß.” Am Ende, so schreibt er, sei das Ganze ja auch „glücklich ausgegangen”: Stalins Tod und der Aufstand vom 17. Juni 1953 drängten die Entführungspläne in den Hintergrund.
Am 30. April 1945 war der 24-Jährige zusammen mit Walter Ulbricht und anderen Genossen gen Westen geflogen. Die „Gruppe Ulbricht” landete „irgendwo östlich von Oder und Neiße”, im Stabswagen ging es weiter bis in das zerstörte Berlin: „Ich wusste nicht, wie mir geschah”, erinnert sich der Autor im Rückblick. Die Gruppe sollte die Verwaltung im deutschen Osten aufbauen. Leonhard hat dies schon in seinem berühmten, 1955 erschienenen Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder” beschrieben. Im März 1949 floh er aus der DDR, lebte einige Jahre in Belgrad und fand dann eine neue Heimat in Westdeutschland.
Leonhards Bericht zeigt: Glück ist etwas Relatives. Wo andere verbittert sind, bleibt er positiv. Dabei ist schon die Kindheit kein Zuckerschlecken. Für die alleinerziehende Mutter, ehemalige Weggefährtin von Rosa Luxemburg, zählt nur eins: die Partei. „Es wird jetzt politisch sehr hart. Ich muss einsatzfähig sein”, sagt sie dem Sohn im September 1932, und der damals 11-Jährige versteht. Es geht mal wieder in ein Schullandheim. Die folgenden Jahre in Herrlingen bei Ulm prägen ihn positiv. Im Speisesaal der Reformschule wird an einem Tisch nur Englisch, am anderen nur Französisch gesprochen. Die Lehrer kommen aus England oder gar Australien. Das internationale Umfeld wird den jungen Wolfgang nie mehr verlassen. Später fliehen Mutter und Sohn vor den Nazis nach Schweden, dann weiter nach Moskau. Als „glühender Jungpionier” ist Wolfgang begeistert vom neuen Leben. Doch schnell kommt die Ernüchterung. Stalin regiert eisenhart. Die Mutter wird in ein Lager deportiert, den Sohn steckt man in die Kaderschule und macht ihn zu einem linientreuen Kommunisten.
„Meine Geschichte der DDR” hat er sein jüngstes Werk genannt, doch tatsächlich hat der Autor nie in der DDR gelebt. Als er floh, war dies noch die Sowjetzone, als er nach der Wende zum ersten Mal in den Osten reist, findet er die DDR in Auflösung. Ausführlich erzählt er von der Wiederbegegnung mit alten Freunden und Widersachern: Hans Mahle etwa, wie Leonhard Mitglied der Gruppe Ulbricht. Mahle lebt weiter in der Vergangenheit und bedauert den Zusammenbruch der DDR. Auch mit Markus Wolf trifft sich Leonhard. Eine Zeit lang hofft er noch, dass sich der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage offen zu seinen Untaten bekennt und bereut, doch diese Hoffnungen werden enttäuscht.
Nicht alles, was Leonhard erzählt, ist neu. Doch viel entscheidender ist, dass hier jemand das Wort ergreift, der sein ganzes Leben lang für das freie Wort gekämpft hat. Auch im hohen Alter bleibt sich Leonhard treu, seine Meinung ungeschminkt zu äußern. Aus tiefstem Herzen bedauert er die Art und Weise, wie die DDR und damit auch ihre Geschichte „abgewickelt” wurde. Leonhard bewundert Desmond Tutu und seine Politik der Versöhnung in Südafrika. Dort gab es einen Dialog zwischen Opfern und Tätern, wie er in Ostdeutschland bis heute nicht stattgefunden hat.
Als deutschen Feiertag hätte sich Wolfgang Leonhard den 9. Oktober gewünscht, den Tag, an dem es 1989 in Leipzig zur ersten Massendemonstration kam. Leonhard wählt klare Worte: Die Wahl des 3. Oktober sei ein „Ausdruck der Ignoranz gegenüber dem Verdienst der Freiheitsbewegung in der DDR”. Recht hat er! DOROTHEA HEINTZE
WOLFGANG LEONHARD: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt, Berlin 2007. 268 Seiten, 19,90 Euro.
Staatswappen mit Luftballons: So „fröhlich” wurde in der DDR der 1. Mai gefeiert – hier 1960 am Ostberliner Marx-Engels-Platz. Foto: Peter Probst
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Das DDR-Bild des „Republik-Flüchtlings” Wolfgang Leonhard
Die Operation trug den Decknamen „Drilling”. Clara sollte das Bier präparieren, Karin und Arthur Pfannkuchen und Hackepeter mittels „Einspritzen in die Füllung” vorbereiten. Alle Betäubungsmittel sollten so dosiert werden, dass „W.L.” schon nach einem Schluck oder Bissen „genug habe”.
„W.L.”: Diese Buchstaben stehen für Wolfgang Leonhard. Clara, Karin und Arthur sind Decknamen von FDJ-Funktionären, die 1952 den Auftrag hatten, den verhassten Republikflüchtling zu entführen. Jahrzehnte später liest Leonhard all dies in seiner Stasiakte. Zu Recht also, so wird ihm jetzt klar, hatte er in der BRD anfangs in ständiger Angst gelebt. Niemals ging er auf der rechten Straßenseite: Es hätte ja immer ein Auto von hinten kommen können. Wohl nur jemand, der so viel erlebt hat wie Wolfgang Leonhard, kann eine derart gruselige Episode so beiläufig erzählen: „Die wussten offensichtlich, was ich gerne aß.” Am Ende, so schreibt er, sei das Ganze ja auch „glücklich ausgegangen”: Stalins Tod und der Aufstand vom 17. Juni 1953 drängten die Entführungspläne in den Hintergrund.
Am 30. April 1945 war der 24-Jährige zusammen mit Walter Ulbricht und anderen Genossen gen Westen geflogen. Die „Gruppe Ulbricht” landete „irgendwo östlich von Oder und Neiße”, im Stabswagen ging es weiter bis in das zerstörte Berlin: „Ich wusste nicht, wie mir geschah”, erinnert sich der Autor im Rückblick. Die Gruppe sollte die Verwaltung im deutschen Osten aufbauen. Leonhard hat dies schon in seinem berühmten, 1955 erschienenen Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder” beschrieben. Im März 1949 floh er aus der DDR, lebte einige Jahre in Belgrad und fand dann eine neue Heimat in Westdeutschland.
Leonhards Bericht zeigt: Glück ist etwas Relatives. Wo andere verbittert sind, bleibt er positiv. Dabei ist schon die Kindheit kein Zuckerschlecken. Für die alleinerziehende Mutter, ehemalige Weggefährtin von Rosa Luxemburg, zählt nur eins: die Partei. „Es wird jetzt politisch sehr hart. Ich muss einsatzfähig sein”, sagt sie dem Sohn im September 1932, und der damals 11-Jährige versteht. Es geht mal wieder in ein Schullandheim. Die folgenden Jahre in Herrlingen bei Ulm prägen ihn positiv. Im Speisesaal der Reformschule wird an einem Tisch nur Englisch, am anderen nur Französisch gesprochen. Die Lehrer kommen aus England oder gar Australien. Das internationale Umfeld wird den jungen Wolfgang nie mehr verlassen. Später fliehen Mutter und Sohn vor den Nazis nach Schweden, dann weiter nach Moskau. Als „glühender Jungpionier” ist Wolfgang begeistert vom neuen Leben. Doch schnell kommt die Ernüchterung. Stalin regiert eisenhart. Die Mutter wird in ein Lager deportiert, den Sohn steckt man in die Kaderschule und macht ihn zu einem linientreuen Kommunisten.
„Meine Geschichte der DDR” hat er sein jüngstes Werk genannt, doch tatsächlich hat der Autor nie in der DDR gelebt. Als er floh, war dies noch die Sowjetzone, als er nach der Wende zum ersten Mal in den Osten reist, findet er die DDR in Auflösung. Ausführlich erzählt er von der Wiederbegegnung mit alten Freunden und Widersachern: Hans Mahle etwa, wie Leonhard Mitglied der Gruppe Ulbricht. Mahle lebt weiter in der Vergangenheit und bedauert den Zusammenbruch der DDR. Auch mit Markus Wolf trifft sich Leonhard. Eine Zeit lang hofft er noch, dass sich der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage offen zu seinen Untaten bekennt und bereut, doch diese Hoffnungen werden enttäuscht.
Nicht alles, was Leonhard erzählt, ist neu. Doch viel entscheidender ist, dass hier jemand das Wort ergreift, der sein ganzes Leben lang für das freie Wort gekämpft hat. Auch im hohen Alter bleibt sich Leonhard treu, seine Meinung ungeschminkt zu äußern. Aus tiefstem Herzen bedauert er die Art und Weise, wie die DDR und damit auch ihre Geschichte „abgewickelt” wurde. Leonhard bewundert Desmond Tutu und seine Politik der Versöhnung in Südafrika. Dort gab es einen Dialog zwischen Opfern und Tätern, wie er in Ostdeutschland bis heute nicht stattgefunden hat.
Als deutschen Feiertag hätte sich Wolfgang Leonhard den 9. Oktober gewünscht, den Tag, an dem es 1989 in Leipzig zur ersten Massendemonstration kam. Leonhard wählt klare Worte: Die Wahl des 3. Oktober sei ein „Ausdruck der Ignoranz gegenüber dem Verdienst der Freiheitsbewegung in der DDR”. Recht hat er! DOROTHEA HEINTZE
WOLFGANG LEONHARD: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt, Berlin 2007. 268 Seiten, 19,90 Euro.
Staatswappen mit Luftballons: So „fröhlich” wurde in der DDR der 1. Mai gefeiert – hier 1960 am Ostberliner Marx-Engels-Platz. Foto: Peter Probst
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Christoph Dieckmann hat Wolfgang Leonhards neues Buch vor allem mit Blick auf seinen großen Erinnerungsbericht "Die Revolution entlässt ihre Kinder" gelesen, und im Vergleich dazu kann "Meine Geschichte der DDR" natürlich nicht sehr gut abschneiden. Auch wenn Dieckmann den "Urdissidenten" Leonhard und seine ein wenig "jungromantische" Menschengläubigkeit und Versöhnungsbereitschaft durchaus schätzt, muss er bei ihm als DDR-Historiographen Abstriche machen. Schließlich hat Leonhard die DDR zum ersten Mal im Dezember 1989 betreten (die SBZ hat er 1950 verlassen). Und so kann der Rezensent vielen Urteilen Leonhards einfach nicht zustimmen, und rein erzählerisch fehlen ihm in diesem Buch die episodischen Pointen, die "Die Revolution entlässt ihre Kinder" noch zum wahren Erinnerungsthriller machten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wolfgang Leonhard ist einer der besten Kenner des Sowjetsystems. Frankfurter Allgemeine Zeitung