Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, der letzte Überlebende der "Gruppe Ulbricht" und Autor des Bestsellers "Die Revolution entlässt ihre Kinder", zieht Bilanz - die Summe eines Lebens, das mit der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert aufs Engste verbunden war. Leonhard gehörte zu den ersten Führungskadern, die Deutschland nach dem Krieg im Sinne des Sozialismus wiederaufbauen sollten. Bald brach er jedoch mit dem Stalinismus, wie er in der DDR Gestalt annahm. In diesem Buch beschreibt er den Aufstieg und Fall eines Staates, dessen Gründungsideale er leidenschaftlich teilte - und dem er letztlich enttäuscht den Rücken kehrte. Er erzählt von den Anfangsjahren nach 1945, seinem späteren Leben als Ostexperte im Westen und von Plänen der Stasi, ihn zu entführen. Er schildert, wie er den Kalten Krieg zwischen beiden deutschen Staaten und schließlich das Ende der DDR erlebt hat. Und er zeichnet ein lebendiges Bild führender DDR-Persönlichkeiten, mit denen er gut bekannt war, unter ihnen Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Erich Honecker und Markus Wolf. Der Rückblick eines Jahrhundertzeugen - und zugleich ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2007Streitbar verfasst
Wolfgang Leonhard zieht seine politische Lebensbilanz
Wer kennt ihn nicht in Politik und Publizistik, den Ost-Experten, der 1945 als jüngstes Mitglied der legendären "Gruppe Ulbricht" aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland heimkehrte, ein hoffnungsvoller Nachwuchskader der Partei, bis er im März 1949 mit der SED brach? Fortan war er im Osten verfemt, ein "Verräter", ein "Renegat". 1955 legt er den Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder" vor. Ein großer Wurf. Mit seinem jüngsten Buch knüpft Wolfgang Leonhard daran an, fasst aus heutiger Perspektive Wesentliches daraus zusammen, schildert noch einmal Schulbesuch und Sozialisation im Russland Stalins und die ersten Schritte eines Genossen der KPD auf dem Wege zu einer Parteikarriere. Indem er sein Enthüllungsbuch fortschreibt, gibt er auch Antworten auf Fragen, die er damals unbeantwortet ließ oder unbeantwortet lassen musste - Hintergründe seiner Flucht etwa in das Jugoslawien Josip Broz-Titos, bei der ihm Diplomaten des Balkanstaates in Prag halfen. Wäre das seinerzeit publik geworden, hätte es politische Komplikationen gegeben. Im November 1950 wechselt Leonhard in die ungeliebte Bundesrepublik. Nach einem Fehlstart in der Unabhängigen Arbeiterpartei, einer titoistischen Splitterpartei, sagt er der Tagespolitik Valet und optiert für einen wissenschaftlichen Lebensentwurf. Nach Studien und Forschungen an der Universität Oxford und der Columbia-Universität New York lehrt er zwanzig Jahre als Historiker an der Yale-Universität in New Haven. Seit 1978 lebt er in der Eifel, in Manderscheid.
Wolfgang (eigentlich Wolodja) Leonhard breitet seine Erinnerungen im Kontext zur Geschichte der DDR aus - daher der seltsame Titel seines Buches. Eine DDR-Geschichte im herkömmlichen Sinne hat er nicht verfasst. Trotzdem ist viel über die "bürokratische Diktatur" der SED zu erfahren. Der Autor, Insider einst, gibt Einschätzungen zu ihrem Führungspersonal in Staat und Gesellschaft. Ebenso reflektiert er über die Sowjetunion vor und nach Stalin. Seine Wertungen sind höchst subjektiv, aber allemal anregend. Einiges erfährt, wer das Buch liest, auch über die Eltern, die sich frühzeitig trennen. Mutter Susanne Leonhard, einst gläubige Kommunistin, emigriert 1933 mit dem zwölf Jahre alten Sohn nach Schweden und später in die Sowjetunion. Hier wird sie 1936 von der Geheimpolizei verhaftet, ein Opfer stalinistischer Verfolgungshysterie. Nach einem Jahrzehnt Workuta wird sie in den Osten Kasachstans verbannt. Erst 1948 darf sie in die SBZ ausreisen. Nach der Flucht ihres Sohnes wechselt sie in den Westen. Sie stirbt 1984 hochbetagt in Stuttgart. Rudolf Leonhard, der Vater, verlässt 1950 Paris, wo er zuletzt in der Emigration war, und geht nach Ost-Berlin. Hier lebt er bis zu seinem Tod 1953 als parteilinientreuer Schriftsteller. Den Sohn verachtet er als "Verräter".
Leonhard schrieb ein ehrliches Buch, in dem sich Erfolg und Enttäuschung widerspiegeln, auch seine Traumata und Ängste. Jahrelang lebte er mit der begründeten Furcht vor einer Entführung in die DDR. Sie war, wie Stasi-Akten belegen, "operativ vorbereitet". In den fünfziger und sechziger Jahren wurden abtrünnige Genossen nach ihrer Flucht nicht nur geächtet, sondern in dreistelliger Zahl aus dem Westen verschleppt. Besonders aufschlussreich ist, was Leonhard über Wiederbegegnungen mit ehemaligen Kampfgefährten und DDR-Spitzenkadern berichtet, die er nach 1989 im Osten aufsucht - seinen Mitschüler und Komintern-Kursanten Markus Wolf zum Beispiel. "Meine Hoffnung, dass bei ihm ein selbstkritisches Nachdenken über die Untaten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, einsetzen könnte, wurde aber enttäuscht." Ähnlich lesenswert sind die Impressionen des Autors aus seinen Gesprächen mit Paul Wandel, seinem Lehrer auf der Komintern-Schule in Kuschnarenkowo, später ZKSekretär der SED, oder mit den ehemaligen SED-Politbüro-Mitgliedern Hermann Axen, Werner Eberlein, Egon Krenz und Günter Schabowski. Wenn sich Leonhard auch manche Sentimentalität leistet, etwa in seinem Bild von Wilhelm Pieck, lässt sich das gewiss nachvollziehen.
Nicht minder interessant sind die Passagen, in denen Leonhard die Rezeption seines Erfolgswerkes skizziert. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Es war nicht nur in der DDR, sondern im gesamten Ostblock verboten. Sein illegaler Besitz wurde strafrechtlich geahndet. Als die "Iswestija" 1988 im Zeichen von "Glasnost" Auszüge daraus und ein Interview mit dem Autor druckte, beschwerte sich Axen als zuständiger ZK-Sekretär in Moskau ob "dieser uns völlig unbegreiflichen und nicht zu billigenden Veröffentlichung". Einmal Parteifeind - immer Parteifeind. Das Buch ist nicht frei von zeithistorischen Ungenauigkeiten. Die große Linie dagegen stimmt, die Abrechnung mit dem Stalinismus überzeugt, die politische Lebensbilanz beeindruckt. Seine Kritik an den deutschlandpolitischen Entscheidungen vor und nach 1989 wird Widerspruch hervorrufen. Der Widerspruch ist gewollt. Leonhard, ein streitbarer Dialektiker, bedient sich einer farbigen Sprache. Auch und gerade jüngere Menschen - Stichwort Aufarbeitung der Vergangenheit! - sollten nach dem Buch greifen. Es wird sie faszinieren.
KARL WILHELM FRICKE
Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt Verlag, Berlin 2007. 267 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Leonhard zieht seine politische Lebensbilanz
Wer kennt ihn nicht in Politik und Publizistik, den Ost-Experten, der 1945 als jüngstes Mitglied der legendären "Gruppe Ulbricht" aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland heimkehrte, ein hoffnungsvoller Nachwuchskader der Partei, bis er im März 1949 mit der SED brach? Fortan war er im Osten verfemt, ein "Verräter", ein "Renegat". 1955 legt er den Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder" vor. Ein großer Wurf. Mit seinem jüngsten Buch knüpft Wolfgang Leonhard daran an, fasst aus heutiger Perspektive Wesentliches daraus zusammen, schildert noch einmal Schulbesuch und Sozialisation im Russland Stalins und die ersten Schritte eines Genossen der KPD auf dem Wege zu einer Parteikarriere. Indem er sein Enthüllungsbuch fortschreibt, gibt er auch Antworten auf Fragen, die er damals unbeantwortet ließ oder unbeantwortet lassen musste - Hintergründe seiner Flucht etwa in das Jugoslawien Josip Broz-Titos, bei der ihm Diplomaten des Balkanstaates in Prag halfen. Wäre das seinerzeit publik geworden, hätte es politische Komplikationen gegeben. Im November 1950 wechselt Leonhard in die ungeliebte Bundesrepublik. Nach einem Fehlstart in der Unabhängigen Arbeiterpartei, einer titoistischen Splitterpartei, sagt er der Tagespolitik Valet und optiert für einen wissenschaftlichen Lebensentwurf. Nach Studien und Forschungen an der Universität Oxford und der Columbia-Universität New York lehrt er zwanzig Jahre als Historiker an der Yale-Universität in New Haven. Seit 1978 lebt er in der Eifel, in Manderscheid.
Wolfgang (eigentlich Wolodja) Leonhard breitet seine Erinnerungen im Kontext zur Geschichte der DDR aus - daher der seltsame Titel seines Buches. Eine DDR-Geschichte im herkömmlichen Sinne hat er nicht verfasst. Trotzdem ist viel über die "bürokratische Diktatur" der SED zu erfahren. Der Autor, Insider einst, gibt Einschätzungen zu ihrem Führungspersonal in Staat und Gesellschaft. Ebenso reflektiert er über die Sowjetunion vor und nach Stalin. Seine Wertungen sind höchst subjektiv, aber allemal anregend. Einiges erfährt, wer das Buch liest, auch über die Eltern, die sich frühzeitig trennen. Mutter Susanne Leonhard, einst gläubige Kommunistin, emigriert 1933 mit dem zwölf Jahre alten Sohn nach Schweden und später in die Sowjetunion. Hier wird sie 1936 von der Geheimpolizei verhaftet, ein Opfer stalinistischer Verfolgungshysterie. Nach einem Jahrzehnt Workuta wird sie in den Osten Kasachstans verbannt. Erst 1948 darf sie in die SBZ ausreisen. Nach der Flucht ihres Sohnes wechselt sie in den Westen. Sie stirbt 1984 hochbetagt in Stuttgart. Rudolf Leonhard, der Vater, verlässt 1950 Paris, wo er zuletzt in der Emigration war, und geht nach Ost-Berlin. Hier lebt er bis zu seinem Tod 1953 als parteilinientreuer Schriftsteller. Den Sohn verachtet er als "Verräter".
Leonhard schrieb ein ehrliches Buch, in dem sich Erfolg und Enttäuschung widerspiegeln, auch seine Traumata und Ängste. Jahrelang lebte er mit der begründeten Furcht vor einer Entführung in die DDR. Sie war, wie Stasi-Akten belegen, "operativ vorbereitet". In den fünfziger und sechziger Jahren wurden abtrünnige Genossen nach ihrer Flucht nicht nur geächtet, sondern in dreistelliger Zahl aus dem Westen verschleppt. Besonders aufschlussreich ist, was Leonhard über Wiederbegegnungen mit ehemaligen Kampfgefährten und DDR-Spitzenkadern berichtet, die er nach 1989 im Osten aufsucht - seinen Mitschüler und Komintern-Kursanten Markus Wolf zum Beispiel. "Meine Hoffnung, dass bei ihm ein selbstkritisches Nachdenken über die Untaten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden, einsetzen könnte, wurde aber enttäuscht." Ähnlich lesenswert sind die Impressionen des Autors aus seinen Gesprächen mit Paul Wandel, seinem Lehrer auf der Komintern-Schule in Kuschnarenkowo, später ZKSekretär der SED, oder mit den ehemaligen SED-Politbüro-Mitgliedern Hermann Axen, Werner Eberlein, Egon Krenz und Günter Schabowski. Wenn sich Leonhard auch manche Sentimentalität leistet, etwa in seinem Bild von Wilhelm Pieck, lässt sich das gewiss nachvollziehen.
Nicht minder interessant sind die Passagen, in denen Leonhard die Rezeption seines Erfolgswerkes skizziert. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Es war nicht nur in der DDR, sondern im gesamten Ostblock verboten. Sein illegaler Besitz wurde strafrechtlich geahndet. Als die "Iswestija" 1988 im Zeichen von "Glasnost" Auszüge daraus und ein Interview mit dem Autor druckte, beschwerte sich Axen als zuständiger ZK-Sekretär in Moskau ob "dieser uns völlig unbegreiflichen und nicht zu billigenden Veröffentlichung". Einmal Parteifeind - immer Parteifeind. Das Buch ist nicht frei von zeithistorischen Ungenauigkeiten. Die große Linie dagegen stimmt, die Abrechnung mit dem Stalinismus überzeugt, die politische Lebensbilanz beeindruckt. Seine Kritik an den deutschlandpolitischen Entscheidungen vor und nach 1989 wird Widerspruch hervorrufen. Der Widerspruch ist gewollt. Leonhard, ein streitbarer Dialektiker, bedient sich einer farbigen Sprache. Auch und gerade jüngere Menschen - Stichwort Aufarbeitung der Vergangenheit! - sollten nach dem Buch greifen. Es wird sie faszinieren.
KARL WILHELM FRICKE
Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt Verlag, Berlin 2007. 267 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Christoph Dieckmann hat Wolfgang Leonhards neues Buch vor allem mit Blick auf seinen großen Erinnerungsbericht "Die Revolution entlässt ihre Kinder" gelesen, und im Vergleich dazu kann "Meine Geschichte der DDR" natürlich nicht sehr gut abschneiden. Auch wenn Dieckmann den "Urdissidenten" Leonhard und seine ein wenig "jungromantische" Menschengläubigkeit und Versöhnungsbereitschaft durchaus schätzt, muss er bei ihm als DDR-Historiographen Abstriche machen. Schließlich hat Leonhard die DDR zum ersten Mal im Dezember 1989 betreten (die SBZ hat er 1950 verlassen). Und so kann der Rezensent vielen Urteilen Leonhards einfach nicht zustimmen, und rein erzählerisch fehlen ihm in diesem Buch die episodischen Pointen, die "Die Revolution entlässt ihre Kinder" noch zum wahren Erinnerungsthriller machten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wolfgang Leonhard ist einer der besten Kenner des Sowjetsystems. Frankfurter Allgemeine Zeitung