Produktdetails
- Verlag: Berliner Taschenbuchverlag
- ISBN-13: 9783442761050
- ISBN-10: 3442761050
- Artikelnr.: 21443035
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.05.2001Knopfarbeiten
Tilman Spenglers virtuoses
Episodenbuch „Meine Gesellschaft”
Schwer wird leicht was, aber wenn man das Balancieren, das Jonglieren, das Spielen beherrscht, dann liegt im Leichten Wahrheit.
Tilman Spengler gehört zu jenen trefflichen Virtuosen, die es scheinbar so locker und beiläufig angehen lassen, als sei’s ein Kinderspiel, die eigene Zeit zu sichten und in zweiundsechzig Kapiteln zusammenzufassen. Kapitel ist nicht das richtige Wort, das klingt zu sehr nach abgeschlossenen Einheiten. Spenglers Kunst besteht aber gerade darin, die Grenzen fließend zu halten, Gestalten aus der einen Episode in eine andere mitzunehmen oder Phantasiefiguren als echten Passanten zu begegnen. Wie etwa der historisch belegte Hirnforscher Oskar Vogt, der in Spenglers Roman „Lenins Hirn” die dominierende Rolle spielte, sich in diesem kaleidoskopisch glänzenden Buch als Begleiter in Moskau zugesellt und sich als imaginärer Kommentator einmischt. Für ein paar Szenen.
Spengler erzählt immer artistisch, ob er nun eine sich reich entfaltende Anhaltergeschichte aus Costa Rica bietet, in der er mühelos von mittelamerikanischen Uferstraßen auf den Newskij-Prospekt in St. Petersburg geraten kann und wieder zurück. Oder ob er das höfische Bewegungszeremoniell auf einem Empfang beim japanischen Kaiser als Brettspiel darstellt, auf dem sich die Teilnehmer, „schwarze Knöpfe”, nur dann bewegen dürfen, wenn sie aufgefordert werden, mögen auch Kaiser oder Kronprinz, „grüner” oder „roter Knopf”, im Raum wandern.
Oder er erläutert die Schwierigkeiten beim Übergang vom Privaten zum Öffentlichen am Beispiel einer zu schreibenden Rede für den Kanzler anlässlich des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten. Gerne würde der Redenschreiber die chinesischen Fuchsgeister einbauen: „Fuchsgeister als, wenn ich so sagen darf, chiffre, als Symbol für die Fährnisse politischen Handelns.” Aber was sich beim Blick durchs private Ambacher Fenster auf den Starnberger See humorvoll und spannend ausnimmt, gerät in der Diskussion mit den Referenten des Kanzleramtes ins öffentlich fast Unmögliche. Insgesamt stellt sich beim Lesen rasch der Eindruck von Wahlfreiheit ein, mit welcher Episode zu beginnen sei. Auch das ein raffiniertes Spiel mit Lesebräuchen und ihrer Konterkarierung.
Indem Spengler seine Episoden anekdotisch miteinander verflicht, entsteht eine eigentümliche Dichte und eine sich vielfach verschränkende Raumfolge, in die einen der Autor hineinführt. Auch hier gilt das Prinzip scheinbar unbeabsichtigter Zwanglosigkeit. Doch gerade die lockt immer tiefer ins Spengler’sche Spiegel-Labyrinth, wo die Oberhausener Kindheit mit dem Nachklingen der Nazizeit in lakonischer Bitterkeit auftaucht, oder man sich unversehens im Bayreuther Festspielhaus mitten unter den Generalproben- Besuchern wiederfindet. Oder er berichtet in knappster Nüchternheit den Hergang des Unfalltodes seines älteren Bruders Rainer, der nun zur Projektion wird, mit der die Familie den Jüngeren traktiert, der er aber weder genügen kann noch will. Auffallend, wie hier jedes Sentiment ferngehalten wird. Spengler spricht davon, dass er Poesie vermeiden wolle. In der letzten Episode des Buches darf allerdings, ganz und gar poetisch, eine fünfbeinige Kuh im Mondenschein ihr fünftes Bein wie zum Tanz anwinkeln.
Tilman Spengler lässt es übrigens in diesem scharf-, auch bössichtigen, dabei höchst vergnüglichen Buch nicht zu, dass die Wahrscheinlichkeit ihr hässliches Haupt erhebt. An den Nahtstellen seiner Geschichtssplitter und - scherben blitzt plötzlich tiefere Bedeutung und Wahrheit auf, um mit einer lässigen Wendung wieder verdeckt zu werden. Aber das Wahre hat schon gewirkt.
HARALD EGGEBRECHT
TILMAN SPENGLER: Meine Gesellschaft. Kursbuch eines Unfertigen. Berlin Verlag, Berlin 2001. 184 Seiten, 32 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Tilman Spenglers virtuoses
Episodenbuch „Meine Gesellschaft”
Schwer wird leicht was, aber wenn man das Balancieren, das Jonglieren, das Spielen beherrscht, dann liegt im Leichten Wahrheit.
Tilman Spengler gehört zu jenen trefflichen Virtuosen, die es scheinbar so locker und beiläufig angehen lassen, als sei’s ein Kinderspiel, die eigene Zeit zu sichten und in zweiundsechzig Kapiteln zusammenzufassen. Kapitel ist nicht das richtige Wort, das klingt zu sehr nach abgeschlossenen Einheiten. Spenglers Kunst besteht aber gerade darin, die Grenzen fließend zu halten, Gestalten aus der einen Episode in eine andere mitzunehmen oder Phantasiefiguren als echten Passanten zu begegnen. Wie etwa der historisch belegte Hirnforscher Oskar Vogt, der in Spenglers Roman „Lenins Hirn” die dominierende Rolle spielte, sich in diesem kaleidoskopisch glänzenden Buch als Begleiter in Moskau zugesellt und sich als imaginärer Kommentator einmischt. Für ein paar Szenen.
Spengler erzählt immer artistisch, ob er nun eine sich reich entfaltende Anhaltergeschichte aus Costa Rica bietet, in der er mühelos von mittelamerikanischen Uferstraßen auf den Newskij-Prospekt in St. Petersburg geraten kann und wieder zurück. Oder ob er das höfische Bewegungszeremoniell auf einem Empfang beim japanischen Kaiser als Brettspiel darstellt, auf dem sich die Teilnehmer, „schwarze Knöpfe”, nur dann bewegen dürfen, wenn sie aufgefordert werden, mögen auch Kaiser oder Kronprinz, „grüner” oder „roter Knopf”, im Raum wandern.
Oder er erläutert die Schwierigkeiten beim Übergang vom Privaten zum Öffentlichen am Beispiel einer zu schreibenden Rede für den Kanzler anlässlich des Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten. Gerne würde der Redenschreiber die chinesischen Fuchsgeister einbauen: „Fuchsgeister als, wenn ich so sagen darf, chiffre, als Symbol für die Fährnisse politischen Handelns.” Aber was sich beim Blick durchs private Ambacher Fenster auf den Starnberger See humorvoll und spannend ausnimmt, gerät in der Diskussion mit den Referenten des Kanzleramtes ins öffentlich fast Unmögliche. Insgesamt stellt sich beim Lesen rasch der Eindruck von Wahlfreiheit ein, mit welcher Episode zu beginnen sei. Auch das ein raffiniertes Spiel mit Lesebräuchen und ihrer Konterkarierung.
Indem Spengler seine Episoden anekdotisch miteinander verflicht, entsteht eine eigentümliche Dichte und eine sich vielfach verschränkende Raumfolge, in die einen der Autor hineinführt. Auch hier gilt das Prinzip scheinbar unbeabsichtigter Zwanglosigkeit. Doch gerade die lockt immer tiefer ins Spengler’sche Spiegel-Labyrinth, wo die Oberhausener Kindheit mit dem Nachklingen der Nazizeit in lakonischer Bitterkeit auftaucht, oder man sich unversehens im Bayreuther Festspielhaus mitten unter den Generalproben- Besuchern wiederfindet. Oder er berichtet in knappster Nüchternheit den Hergang des Unfalltodes seines älteren Bruders Rainer, der nun zur Projektion wird, mit der die Familie den Jüngeren traktiert, der er aber weder genügen kann noch will. Auffallend, wie hier jedes Sentiment ferngehalten wird. Spengler spricht davon, dass er Poesie vermeiden wolle. In der letzten Episode des Buches darf allerdings, ganz und gar poetisch, eine fünfbeinige Kuh im Mondenschein ihr fünftes Bein wie zum Tanz anwinkeln.
Tilman Spengler lässt es übrigens in diesem scharf-, auch bössichtigen, dabei höchst vergnüglichen Buch nicht zu, dass die Wahrscheinlichkeit ihr hässliches Haupt erhebt. An den Nahtstellen seiner Geschichtssplitter und - scherben blitzt plötzlich tiefere Bedeutung und Wahrheit auf, um mit einer lässigen Wendung wieder verdeckt zu werden. Aber das Wahre hat schon gewirkt.
HARALD EGGEBRECHT
TILMAN SPENGLER: Meine Gesellschaft. Kursbuch eines Unfertigen. Berlin Verlag, Berlin 2001. 184 Seiten, 32 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Bericht eines Knopfes ohne Knopfloch
Tilman Spengler ist die feine Gesellschaft nicht geheuer / Von Harald Hartung
Wer beim Kaiser von Japan eingeladen ist, dem erläutert ein Zeremonienmeister das kommende Geschehen. Auf einem Magnettäfelchen werden die Geladenen durch schwarze Knöpfe dargestellt, die Majestäten durch farbige. Das weitere regelt das Protokoll. Wir erfahren dies von einem, der dabei war - "einen kurzen Empfang und eine Mahlzeit lang. Ein Auserwählter". Tilman Spengler setzt diese feine Renommage an den Anfang eines autobiographischen Buches. Dessen Titel "Meine Gesellschaft" ließe Society-Klatsch befürchten, wäre da nicht der subtil masochistische Untertitel "Kursbuch eines Unfertigen".
Ein Autor kann sich eine Gesellschaft aussuchen, kann einladen und ausschließen, wen er will. Er ist der Zeremonienmeister oder der Kaiser selbst, Herr auch der eigenen Rolle. Tilman Spengler hat es gefallen, sich selbst als schwarzer Knopf zu sehen. Ja, er spricht von seiner "Karriere als Knopf" - viel Understatement für jemand, der kein Nobody ist. Gegen den Snobismusverdacht weiß Spengler sich zu wehren. Seine Karriere als Knopf soll ihn nicht von anderen Zeitgenossen unterscheiden. Weder in ihren Höhen noch in ihren Tiefen. Und wenn er schon in Bayreuth zur "erweiterten Elite" zählt, so nur, weil er es in Begleitung seiner "Lebensgefährtin" bei Generalproben bis in die vierte Reihe schafft. Doch auch dort ist er nur ein Knopf, denn: "weiter vorn hockt nur, wen das Protokoll aus genetischen oder stammespolitischen Gründen in noch geringerem Abstand zu Richard Wagner einstuft".
So subtil weiß der unter die feinen Leute gefallene Picaro unseren Sozialneid anzustacheln. Munter ironisch bringt er seine Prestigeprobleme vor. Vielleicht nur etwas zu oft, was den Verdacht erregt, die Frage, ob und wie er zur Elite gehört, sei vielleicht doch sein Leitmotiv. Er hätschelt alte Kränkungen. Etwa jene in einem "außergewöhnlich elitären" englischen Forschungsinstitut: Tilman, der Volkswagen-Fellow, galt weniger als Glen, der Ford-Fellow. Selbst Höhepunkte seiner "Knopfkarriere", die ihn in Japans Kaiserpalast oder mit dem Bundeskanzler nach Peking führten, belegen ihm, es sei für ihn "kein Platz in den Eliten" vorgesehen.
Offenbar auch nicht im Literaturbetrieb. Da liefert er eine Verschwörungstheorie, die leicht komische Züge trägt und vielleicht auch tragen soll. Ihn, der sich zur "Elite der Empörten" rechne, habe man nicht zum "Olymp der Zürnenden" zugelassen - was immer das sein mag. Die Chance zum Aufstieg habe er vertan, als er sich seinerzeit über den "Bocksgesang" empörte - anstatt, wie gewünscht, über die "Kritiker" des Botho Strauß. Vielleicht hätte Spengler wenigstens die These erwähnen sollen, die seinerzeit von Kollegen kritisiert wurde: bei Botho Strauß bleibe die Geschichte des Holocaust auf der Strecke.
Man begreift, daß ein von Selbstzweifeln gebeutelter Autor sich Mut macht. "Es geht nur um Geschichten", lautet der Eingangssatz seines Buches. Nur daß ihn an diesem "nur" soviel hindert: die Neigung, alles auf die Knopf-oder-Elite-Frage zu pointieren, sowie das daraus folgende Kokettieren mit der Vortragsart: "Für die folgende Geschichte ist es unerheblich . . .", "Ich will jedoch eine ganz andere Geschichte erzählen."
Kurz: Spengler liebt es, uns den Mund wässerig zu machen. Etwa mit der Ankündigung einer Anekdote, die ihm sehr erhellend vorkomme, obwohl er nicht wisse, warum: "Sie handelt von Marzipan und Adolf Hitler." Gertrud Wagner mochte kein Marzipan und verschenkte die riesigen Schachteln, die der Führer zu den Festspielen anschleppte. Und die Erhellung? Der Erzähler fragt sich, ob er selbst den Mut gehabt hätte, sich Hitler als Verächter von Marzipan zu präsentieren.
Der Autor geniert sich vermutlich, daß er so viel aus jener Sphäre zu berichten hat, wo selbst der schwarze Knopf ein Privileg bedeutet. Auch wenn er einem österreichischen Bundeskanzler beim Wahlkampf hilft, will er nur Knopf gewesen sein - zumal wenn er die Ehre der Bekanntschaft einem gewissen Udo Proksch verdankt, der im Indischen Ozean ein Schiff untergehen ließ, um die Versicherungsprämie zu kassieren. Wer meint, nun würden Politik und Verbrechen sich ein intimes Stelldichein geben, wird enttäuscht. Alles stand schon in der Zeitung, und die Geschichte endet - statt mit Marzipan - mit einer Torte von Demel.
Das Nahrhafte an solchen Geschichten ist virtuell. Die Lust des Erzählers ist unsere Vorlust. Auch ist mir bei der Lektüre von "Meine Gesellschaft" nicht klargeworden, warum Spengler sich einen Unfertigen nennt. Er spielt virtuos mit seinen Knöpfen. Eine zu Ende geführte Udo-Proksch-Geschichte wäre Hintertreppe. Im Unfertigen, liegt - wenn irgendwo - die Fertigkeit des Erzählers Tilman Spengler. Ich würde ihn einen geborenen Geschichtenzerstörer nennen, hätte nicht Thomas Bernhard Anspruch auf diesen Titel. Und der sitzt tatsächlich im Olymp.
Tilman Spengler: "Meine Gesellschaft". Kursbuch eines Unfertigen. Berlin Verlag, Berlin 2001. 183 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tilman Spengler ist die feine Gesellschaft nicht geheuer / Von Harald Hartung
Wer beim Kaiser von Japan eingeladen ist, dem erläutert ein Zeremonienmeister das kommende Geschehen. Auf einem Magnettäfelchen werden die Geladenen durch schwarze Knöpfe dargestellt, die Majestäten durch farbige. Das weitere regelt das Protokoll. Wir erfahren dies von einem, der dabei war - "einen kurzen Empfang und eine Mahlzeit lang. Ein Auserwählter". Tilman Spengler setzt diese feine Renommage an den Anfang eines autobiographischen Buches. Dessen Titel "Meine Gesellschaft" ließe Society-Klatsch befürchten, wäre da nicht der subtil masochistische Untertitel "Kursbuch eines Unfertigen".
Ein Autor kann sich eine Gesellschaft aussuchen, kann einladen und ausschließen, wen er will. Er ist der Zeremonienmeister oder der Kaiser selbst, Herr auch der eigenen Rolle. Tilman Spengler hat es gefallen, sich selbst als schwarzer Knopf zu sehen. Ja, er spricht von seiner "Karriere als Knopf" - viel Understatement für jemand, der kein Nobody ist. Gegen den Snobismusverdacht weiß Spengler sich zu wehren. Seine Karriere als Knopf soll ihn nicht von anderen Zeitgenossen unterscheiden. Weder in ihren Höhen noch in ihren Tiefen. Und wenn er schon in Bayreuth zur "erweiterten Elite" zählt, so nur, weil er es in Begleitung seiner "Lebensgefährtin" bei Generalproben bis in die vierte Reihe schafft. Doch auch dort ist er nur ein Knopf, denn: "weiter vorn hockt nur, wen das Protokoll aus genetischen oder stammespolitischen Gründen in noch geringerem Abstand zu Richard Wagner einstuft".
So subtil weiß der unter die feinen Leute gefallene Picaro unseren Sozialneid anzustacheln. Munter ironisch bringt er seine Prestigeprobleme vor. Vielleicht nur etwas zu oft, was den Verdacht erregt, die Frage, ob und wie er zur Elite gehört, sei vielleicht doch sein Leitmotiv. Er hätschelt alte Kränkungen. Etwa jene in einem "außergewöhnlich elitären" englischen Forschungsinstitut: Tilman, der Volkswagen-Fellow, galt weniger als Glen, der Ford-Fellow. Selbst Höhepunkte seiner "Knopfkarriere", die ihn in Japans Kaiserpalast oder mit dem Bundeskanzler nach Peking führten, belegen ihm, es sei für ihn "kein Platz in den Eliten" vorgesehen.
Offenbar auch nicht im Literaturbetrieb. Da liefert er eine Verschwörungstheorie, die leicht komische Züge trägt und vielleicht auch tragen soll. Ihn, der sich zur "Elite der Empörten" rechne, habe man nicht zum "Olymp der Zürnenden" zugelassen - was immer das sein mag. Die Chance zum Aufstieg habe er vertan, als er sich seinerzeit über den "Bocksgesang" empörte - anstatt, wie gewünscht, über die "Kritiker" des Botho Strauß. Vielleicht hätte Spengler wenigstens die These erwähnen sollen, die seinerzeit von Kollegen kritisiert wurde: bei Botho Strauß bleibe die Geschichte des Holocaust auf der Strecke.
Man begreift, daß ein von Selbstzweifeln gebeutelter Autor sich Mut macht. "Es geht nur um Geschichten", lautet der Eingangssatz seines Buches. Nur daß ihn an diesem "nur" soviel hindert: die Neigung, alles auf die Knopf-oder-Elite-Frage zu pointieren, sowie das daraus folgende Kokettieren mit der Vortragsart: "Für die folgende Geschichte ist es unerheblich . . .", "Ich will jedoch eine ganz andere Geschichte erzählen."
Kurz: Spengler liebt es, uns den Mund wässerig zu machen. Etwa mit der Ankündigung einer Anekdote, die ihm sehr erhellend vorkomme, obwohl er nicht wisse, warum: "Sie handelt von Marzipan und Adolf Hitler." Gertrud Wagner mochte kein Marzipan und verschenkte die riesigen Schachteln, die der Führer zu den Festspielen anschleppte. Und die Erhellung? Der Erzähler fragt sich, ob er selbst den Mut gehabt hätte, sich Hitler als Verächter von Marzipan zu präsentieren.
Der Autor geniert sich vermutlich, daß er so viel aus jener Sphäre zu berichten hat, wo selbst der schwarze Knopf ein Privileg bedeutet. Auch wenn er einem österreichischen Bundeskanzler beim Wahlkampf hilft, will er nur Knopf gewesen sein - zumal wenn er die Ehre der Bekanntschaft einem gewissen Udo Proksch verdankt, der im Indischen Ozean ein Schiff untergehen ließ, um die Versicherungsprämie zu kassieren. Wer meint, nun würden Politik und Verbrechen sich ein intimes Stelldichein geben, wird enttäuscht. Alles stand schon in der Zeitung, und die Geschichte endet - statt mit Marzipan - mit einer Torte von Demel.
Das Nahrhafte an solchen Geschichten ist virtuell. Die Lust des Erzählers ist unsere Vorlust. Auch ist mir bei der Lektüre von "Meine Gesellschaft" nicht klargeworden, warum Spengler sich einen Unfertigen nennt. Er spielt virtuos mit seinen Knöpfen. Eine zu Ende geführte Udo-Proksch-Geschichte wäre Hintertreppe. Im Unfertigen, liegt - wenn irgendwo - die Fertigkeit des Erzählers Tilman Spengler. Ich würde ihn einen geborenen Geschichtenzerstörer nennen, hätte nicht Thomas Bernhard Anspruch auf diesen Titel. Und der sitzt tatsächlich im Olymp.
Tilman Spengler: "Meine Gesellschaft". Kursbuch eines Unfertigen. Berlin Verlag, Berlin 2001. 183 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main