Eines Morgens auf dem Schulweg kann es euch passieren, dass ihr Zeuge bei der Geburt einer Hexe werdet. Keine Angst, wenn es so weit ist, bemerkt ihr es bestimmt. So eine Geburt ist nämlich etwas ganz Besonderes. Und leider riecht es dabei auch nicht immer gut. Aber das ist eine andere Geschichte. Diese Hexe wird behaupten, sie sei nur für euch zuständig. Das ist ganz normal. Ihr müsst lediglich wissen, dass ihr an diesem Morgen wahrscheinlich die Schule verpassen und außerdem die Bekanntschaft eures Schutzengels machen werdet, denn die eine ist ohne den anderen nicht zu haben. Und das ist gut so. Und auch wieder nicht: Sie kommen nämlich nur schlecht miteinander aus. Denn die Hexe ist zuständig für den Spaß. Für euren, aber ganz besonders für ihren eigenen. Euer Schutzengel passt auf, dass ihr keine Dummheiten macht. Eins steht auf jeden Fall fest: Von dem Tag an, an dem ihr eurer Hexe begegnet, wird euer Leben ganz schön kompliziert. Wie bei dem kleinen Mädchen, von dem ich euch erzählen will...
Begegnung mit Gut und Böse
Religiöse Themen haben Konjunktur in der Kinder- und Jugendliteratur. Grégoire Solotareff treibt mit ihnen in seinem neuen Kinderbuch ein heiteres Spiel. Am ersten April tritt Angelina morgens in einen Hundehaufen, eine stinkende Alltagserfahrung aller Großstadtmenschen. Doch dieser ist etwas Besonderes: Aus ihm steigt wie der Geist aus der Flasche eine Zwergin, die sich als Angelinas persönliche Hexe vorstellt, sie zum Schuleschwänzen verführt und in so ernsthafte wie komische Gespräche verwickelt. Dabei macht sie Angelina beiläufig vertraut mit berühmten Sätzen der Philosophie- und Religionsgeschichte, etwa mit einer Kürzestfassung der Pascalschen Wette: "Glaubst du an Gott?' - ,man kann nie wissen . . . Nehmen wir mal an, daß es ihn gibt, denn wenn es ihn nicht gibt, ist niemand beleidigt, und er ist nicht sauer auf dich.'"
Eine Hexe, die selbst am liebsten Schabernack treibt und andere dazu anstiftet, provoziert unweigerlich einen Gegengeist, der warnt, mahnt und gute Ratschläge gibt. Kein Wunder, daß an der nächsten Straßenecke Angelinas bärtiger, wolliger Schutzengel auftaucht, kuschlig und lieb, aber schwach und ständig am Rande der Ohnmacht, wie die Stimme des Gewissens nun mal allerorten. Angelina findet ihn süß, aber die Hexe ist interessanter . . . Der erste April, der Tag der vorsätzlichen kleinen Täuschungen und Lügengeschichten, führt Angelina an den berühmten Scheideweg, an dem das Gute und das Böse sie nach verschiedenen Richtungen zu ziehen versuchen. Aber kann die Erkenntnis von Gut und Böse, wenn sie sich an einem solchen Tag einstellt, nicht gründlich täuschen? Solotareffs Geschichte ist federleicht, tiefsinnig und voller Fragen, die philosophisch genannt werden dürfen, weil alle ihre möglichen Antworten immer neue Fragen aufwerfen. GUNDEL MATTENKLOTT Grégoire Solotareff: "Meine Hexe, mein Schutzengel und ich". Aus dem Französischen von Nina Schindler. Mit Zeichnungen von Grégoire Solotareff. Arena Verlag, Würzburg 1998. 104 S., geb., 22,- DM. Ab 9 J.
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