Völlig unerwartet soll ein Forscher im Ruhestand für seine frühere Arbeit eine bedeutende Auszeichnung erhalten. Ihm selbst ist nicht klar, was er da entdeckt haben soll, doch die Nachricht sorgt für Furore: Journalisten suchen ihn heim und stören die behagliche Unordnung im Wohnzimmer und im Innersten des 89-Jährigen.
Doch da ist Madame Ambrunaz, seine Haushälterin und ein Bollwerk gegen die Zumutungen der Welt. Sie geleitet den etwas verstockten Wissenschaftler mit sanfter Beharrlichkeit und großartigen Einfällen durch die Tage bis zu seiner Ehrung.
Sie kocht ihm Linsen und entführt ihn an die See, während er sich in Gedanken darüber verliert, aus welch merkwürdigen Begegnungen und absurden Anekdoten am Ende das wird, was man sein Leben nennt. Und das hält nun mal bis zum Schluss Überraschungen bereit - auch für einen alten Entdecker.
Doch da ist Madame Ambrunaz, seine Haushälterin und ein Bollwerk gegen die Zumutungen der Welt. Sie geleitet den etwas verstockten Wissenschaftler mit sanfter Beharrlichkeit und großartigen Einfällen durch die Tage bis zu seiner Ehrung.
Sie kocht ihm Linsen und entführt ihn an die See, während er sich in Gedanken darüber verliert, aus welch merkwürdigen Begegnungen und absurden Anekdoten am Ende das wird, was man sein Leben nennt. Und das hält nun mal bis zum Schluss Überraschungen bereit - auch für einen alten Entdecker.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2011Der Sinn fürs Ganze hat mich verlassen
Mit Heiterkeit dem Untergang entgegen: Die Französin Véronique Bizot schickt ihren greisen Helden auf eine unfreiwillige Reise durch sein vergangenes Leben - und macht aus seinen Erinnerungen ein ebenso trauriges wie komisches Werk.
Gilbert Kaplan erwartet nichts, er ist mit sich und der Welt im Reinen. Er wohnt, wo früher die Dienstmädchen ihre Zimmer hatten, unter dem Dach eines Wohnhauses in Paris, unweit des Bahnhofs Saint-Lazare. Wenn der Neunundachtzigjährige seine Wohnung verlässt, was er ungern tut und nur auf ausdrücklichen Befehl seiner Haushälterin Madame Ambrunaz, dann nimmt er den Fahrstuhl, geht einkaufen oder spazieren und freut sich, bald wieder zu Hause zu sein. Umso mehr muss ihn die Botschaft irritieren, die ihn eines Tages erreicht: Für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er als Physiker einst zutage brachte und die erst jetzt, Jahre nach seiner Pensionierung, als bahnbrechend anzuerkennen seine Zunft sich imstande sieht, soll Gilbert Kaplan eine hohe Auszeichnung erhalten. Einen Empfang soll es geben, eine Zeremonie, allein ihm zu Ehren.
"Meine Krönung" nennt das Kaplan, und so heißt auch das Buch der Französin Véronique Bizot, das nun in der einwandfreien Übersetzung von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz in deutscher Sprache vorliegt. Es erzählt, ganz klassisch, vom Einbruch des Unvorhergesehenen in den Alltag. Oder besser: Es erzählt von dem vergeblichen Versuch, sich vor den Folgen des Unvorhergesehenen zu schützen. Denn Gilbert Kaplan hat vergessen, welche wertvolle wissenschaftliche Beobachtung er gemacht haben könnte, und er verwendet auch keine große Energie darauf, zu erfahren, wofür genau er eigentlich gewürdigt werden soll. Doch auf einer anderen, viel persönlicheren Ebene ist er durchaus empfänglich für die gedankliche Reise in die Vergangenheit, zu der die Geschehnisse ihn einladen.
Alles Wissenschaftliche, alles, was mit dieser Auszeichnung zu tun hat, bleibt fortan im Vagen. Man kann das als schönen Seitenhieb auf die Inflation von Preisen und Auszeichnungen sehen, mit welcher der wissenschaftliche Betrieb seine Zuarbeiter überrollt. Es ist aber auch ein gar nicht mal subtiler Hinweis darauf, dass es im Leben Wichtigeres gibt als ein Büro. Dass diese schlichte Erkenntnis im Buch nicht zur Banalität gerinnt, liegt daran, dass Véronique Bizot darauf verzichtet, sie auszuformulieren. Ihr Ich-Erzähler Gilbert Kaplan wirkt wie ein gutmütiger, über die Jahre frei gewordener Geist, der am Ende seines Lebens von dem Recht Gebrauch macht, sich nur an das zu erinnern, was ihm ohne Zutun in den Sinn kommt: "Offenbar interessieren mich heute nur noch Einzelheiten, offenbar hat mich der Sinn fürs Ganze verlassen." Was bleibt, ist die Essenz eines Lebens: die Liebe zu Maria Elena, die er nicht festzuhalten verstand; die Liebe zur Schwester Louise, die vor vierzig Jahren am Abend ihrer Verlobung mit einem Bischof durchbrannte und sich seitdem nie wieder blicken ließ; die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Sohn und der zweiten Schwester Alice. Und schließlich die ruhige Zuneigung zu Madame Ambrunaz, die, natürlich ohne dass einer von beiden das jemals aussprechen würde, schon lange viel mehr Gefährtin ist als Gouvernante.
In dieser die Gedankenwelt des Erzählers kennzeichnenden Konzentration auf das Wesentliche, in dem Spiel mit dem bloß Angedeuteten und bewusst Verschwiegenen gibt sich Véronique Bizot als die preisgekrönte Novellenautorin zu erkennen, die sie ist. Ihr Buch ist zwar, auch in Frankreich, als Roman bezeichnet worden. Aber der Anlage nach erfüllt es im Grunde die wichtigen Kriterien einer Novelle. Es beginnt mit dem Eintritt einer unerhörten Begebenheit und bewegt sich, alles Nebensächliche vielsagend ignorierend, unaufhaltsam auf einen Höhepunkt zu, der eigentlich ein Tiefpunkt ist. Denn sein Leben ist in Bewegung geraten, an Gilbert Kaplan kann das nicht spurlos vorübergehen. "Und als wir die Treppe hinaufgingen, die zu den Speisesälen führte, dachte ich, dass ich zu viele Jahre geschwiegen hatte, dass es all diese Jahre niemanden gegeben hatte, mit dem ich reden konnte, und dass ich diese Tatsache als Schicksal hingenommen hatte."
Zu dem Kummer, den dieser melancholische Blick auf das vergangene Leben bereitet, gesellt sich bald die Not, die der Ausblick auf eine auch der letzten Freuden beraubte Zukunft gebiert. Und so ist das Einzige, was dieses Buch der vollständigen Tristesse entreißt, diese ganz eigene Melodie, die seine Autorin ihm schenkt. Véronique Bizot schreibt, wie der große Sempé zeichnet: Mit wenigen, zuweilen ironisch gefärbten, aber immer liebevoll gesetzten Strichen macht sie aus Gilbert Kaplan einen Mann, den bei aller Bedrückung eine milde Heiterkeit charakterisiert. In dieser Sprache liegt die Hoffnung, die Bizot ihrem Helden zugesteht. Sie vor allem macht "Meine Krönung" zu einem fabelhaften kleinen Buch.
LENA BOPP
Véronique Bizot: "Meine Krönung". Roman.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz. Steidl Verlag, Göttingen 2011. 127 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Heiterkeit dem Untergang entgegen: Die Französin Véronique Bizot schickt ihren greisen Helden auf eine unfreiwillige Reise durch sein vergangenes Leben - und macht aus seinen Erinnerungen ein ebenso trauriges wie komisches Werk.
Gilbert Kaplan erwartet nichts, er ist mit sich und der Welt im Reinen. Er wohnt, wo früher die Dienstmädchen ihre Zimmer hatten, unter dem Dach eines Wohnhauses in Paris, unweit des Bahnhofs Saint-Lazare. Wenn der Neunundachtzigjährige seine Wohnung verlässt, was er ungern tut und nur auf ausdrücklichen Befehl seiner Haushälterin Madame Ambrunaz, dann nimmt er den Fahrstuhl, geht einkaufen oder spazieren und freut sich, bald wieder zu Hause zu sein. Umso mehr muss ihn die Botschaft irritieren, die ihn eines Tages erreicht: Für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er als Physiker einst zutage brachte und die erst jetzt, Jahre nach seiner Pensionierung, als bahnbrechend anzuerkennen seine Zunft sich imstande sieht, soll Gilbert Kaplan eine hohe Auszeichnung erhalten. Einen Empfang soll es geben, eine Zeremonie, allein ihm zu Ehren.
"Meine Krönung" nennt das Kaplan, und so heißt auch das Buch der Französin Véronique Bizot, das nun in der einwandfreien Übersetzung von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz in deutscher Sprache vorliegt. Es erzählt, ganz klassisch, vom Einbruch des Unvorhergesehenen in den Alltag. Oder besser: Es erzählt von dem vergeblichen Versuch, sich vor den Folgen des Unvorhergesehenen zu schützen. Denn Gilbert Kaplan hat vergessen, welche wertvolle wissenschaftliche Beobachtung er gemacht haben könnte, und er verwendet auch keine große Energie darauf, zu erfahren, wofür genau er eigentlich gewürdigt werden soll. Doch auf einer anderen, viel persönlicheren Ebene ist er durchaus empfänglich für die gedankliche Reise in die Vergangenheit, zu der die Geschehnisse ihn einladen.
Alles Wissenschaftliche, alles, was mit dieser Auszeichnung zu tun hat, bleibt fortan im Vagen. Man kann das als schönen Seitenhieb auf die Inflation von Preisen und Auszeichnungen sehen, mit welcher der wissenschaftliche Betrieb seine Zuarbeiter überrollt. Es ist aber auch ein gar nicht mal subtiler Hinweis darauf, dass es im Leben Wichtigeres gibt als ein Büro. Dass diese schlichte Erkenntnis im Buch nicht zur Banalität gerinnt, liegt daran, dass Véronique Bizot darauf verzichtet, sie auszuformulieren. Ihr Ich-Erzähler Gilbert Kaplan wirkt wie ein gutmütiger, über die Jahre frei gewordener Geist, der am Ende seines Lebens von dem Recht Gebrauch macht, sich nur an das zu erinnern, was ihm ohne Zutun in den Sinn kommt: "Offenbar interessieren mich heute nur noch Einzelheiten, offenbar hat mich der Sinn fürs Ganze verlassen." Was bleibt, ist die Essenz eines Lebens: die Liebe zu Maria Elena, die er nicht festzuhalten verstand; die Liebe zur Schwester Louise, die vor vierzig Jahren am Abend ihrer Verlobung mit einem Bischof durchbrannte und sich seitdem nie wieder blicken ließ; die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Sohn und der zweiten Schwester Alice. Und schließlich die ruhige Zuneigung zu Madame Ambrunaz, die, natürlich ohne dass einer von beiden das jemals aussprechen würde, schon lange viel mehr Gefährtin ist als Gouvernante.
In dieser die Gedankenwelt des Erzählers kennzeichnenden Konzentration auf das Wesentliche, in dem Spiel mit dem bloß Angedeuteten und bewusst Verschwiegenen gibt sich Véronique Bizot als die preisgekrönte Novellenautorin zu erkennen, die sie ist. Ihr Buch ist zwar, auch in Frankreich, als Roman bezeichnet worden. Aber der Anlage nach erfüllt es im Grunde die wichtigen Kriterien einer Novelle. Es beginnt mit dem Eintritt einer unerhörten Begebenheit und bewegt sich, alles Nebensächliche vielsagend ignorierend, unaufhaltsam auf einen Höhepunkt zu, der eigentlich ein Tiefpunkt ist. Denn sein Leben ist in Bewegung geraten, an Gilbert Kaplan kann das nicht spurlos vorübergehen. "Und als wir die Treppe hinaufgingen, die zu den Speisesälen führte, dachte ich, dass ich zu viele Jahre geschwiegen hatte, dass es all diese Jahre niemanden gegeben hatte, mit dem ich reden konnte, und dass ich diese Tatsache als Schicksal hingenommen hatte."
Zu dem Kummer, den dieser melancholische Blick auf das vergangene Leben bereitet, gesellt sich bald die Not, die der Ausblick auf eine auch der letzten Freuden beraubte Zukunft gebiert. Und so ist das Einzige, was dieses Buch der vollständigen Tristesse entreißt, diese ganz eigene Melodie, die seine Autorin ihm schenkt. Véronique Bizot schreibt, wie der große Sempé zeichnet: Mit wenigen, zuweilen ironisch gefärbten, aber immer liebevoll gesetzten Strichen macht sie aus Gilbert Kaplan einen Mann, den bei aller Bedrückung eine milde Heiterkeit charakterisiert. In dieser Sprache liegt die Hoffnung, die Bizot ihrem Helden zugesteht. Sie vor allem macht "Meine Krönung" zu einem fabelhaften kleinen Buch.
LENA BOPP
Véronique Bizot: "Meine Krönung". Roman.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz. Steidl Verlag, Göttingen 2011. 127 S., geb., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mehr Novelle als Roman ist dieses "fabelhafte kleine Buch", wie Rezensentin Lena Bopp notiert. Das in das beschauliche Seniorendasein des Protagonisten Gilbert Kaplan einbrechende Unerwartete kommt in Gestalt einer späten Auszeichnung einstiger wissenschaftlicher Verdienste daher, erzählt Bopp. Kaplan indes wisse weder, was er denn so Großartiges geleistet habe, noch interessiere er sich besonders dafür. Was sein Leben im Rückblick geprägt hat, seien zwischenmenschliche Beziehungen und insbesondere in der jüngeren Vergangenheit die weitgehende Abwesenheit derselben. Dass die bevorstehende Katastrophe - denn als solche erscheint im seine "Krönung" - ihn nicht nur seiner Einsamkeit gewahr werden lässt, sondern obendrein Kaplans Aussichten auf künftigen Seelenfrieden ruiniert, bekümmert die Rezensentin. Gottlob, so Bopp, ist "Meine Krönung" von Bizots "ganz eigener Melodie" durchdrungen: pointiert, hingebungsvoll, mit einem Schuss Ironie und "milder Heiterkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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